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Renaturierung schützt vor Hochwasser

6 Min
Das einstige Überschwemmungsgebiet in Wien-Liesing, das in den 1960ern hart reguliert wurde, wird renaturiert. Diesmal ohne Überflutungsgefahr.
© Fotocredits: Bezirksmuseum Liesing, BV23, Habau Group

Beim Liesingbach wird nicht bloß die Natur sich selbst überlassen.


„Viel hat nicht mehr gefehlt“, meint eine Bewohnerin des Kleingartenvereins am Steinsee. Hätte es Mitte September noch einen Tag weitergeregnet, wer weiß, wie hoch der Liesingbach direkt vor ihrer Haustür gestiegen wäre. „Dann hätten wir womöglich das Wasser überall gehabt.“ Auch in der Tischlerei beim Wohnpark Alterlaa ein paar hundert Meter bachaufwärts hat man das Hochwasser genau beobachtet. Hier hätte ebenfalls nicht mehr viel gefehlt, und die Wasserkante wäre über das Niveau der abschüssigen Zufahrt gestiegen. Allerdings, relativiert ein Mitarbeiter, „ist unser Holzlager woanders. Es wäre also nicht allzu viel beschädigt worden.“

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So aber sind die Anrainer:innen des Liesingbachs, der sich mitten durch den nach ihm benannten Wiener Bezirk zieht, unbeschadet davongekommen. Trotzdem sind es beeindruckende Bilder, die nach der jüngsten Jahrhundertflut in Sozialen Netzwerken geteilt wurden. Einen so hohen Wasserstand würde man dem flachen Bächlein hier gar nicht zutrauen, so friedlich plätschert die Liesing jetzt wieder vor sich hin.

Eine Collage die die zwei unterschiedliche Pegelstände in der Gutheil-Schoder-Gasse zeigt.
Der Abschnitt beim Kleingartenverein am Steinsee beim jüngsten Hochwasser (r.). Normalerweise ist vom Liesingbach hier wenig zu sehen (l.).
© Fotocredit: BV23, WZ

Die Retentionsbecken haben sich bewährt

Die drei Retentionsbecken (Rückhaltebecken) in Liesing haben sich beim jüngsten Jahrhunderthochwasser bewährt, meint Wolfgang Ermischer. Er ist Anrainer – sein Garten grenzt fast direkt an den Bach – und SPÖ-Bezirksrat. Als solcher ist er mit der Liesing so intensiv beschäftigt wie kaum ein:e andere:r Bewohner:in des 23. Bezirks. Ermischer ist nämlich Mitglied des Kernteams, das die Renaturierung koordiniert.

Seit 1997 wird daran gearbeitet, den gesamten Bachlauf der Liesing in Wien wieder zu entsiegeln. Begonnen hat das Projekt bei Kledering, kurz bevor die Liesing in die Schwechat mündet; seither arbeitet man sich sukzessive bachaufwärts. 2027 soll die Renaturierung abgeschlossen sein. Bezirk, Stadt (Wien Kanal und Wiener Gewässer) und beteiligte Baufirmen arbeiten Hand in Hand mit Expert:innen der Universität für Bodenkultur (Boku).

Renaturierung heißt nicht unbedingt Urzustand

Es soll nicht bloß ein „Zurück zum Ursprung“ werden, denn das wäre fatal für die Anrainer:innen. Das Areal beim Liesinger Draschepark etwa, wo die Renaturierung gerade so gut wie abgeschlossen ist, war bis in die 1960er-Jahre Überschwemmungsgebiet – davon zeugt die nahe Hochwassergasse. „Hier sind die Häuser alle paar Jahre im Wasser gestanden“, erzählt Ermischer. Dann wurde der Bach in ein mit großen Pflastersteinen ausgelegtes Bett gezwängt; eine „harte Regulierung“ nennt sich das. In der Folge trat die Liesing zwar bei Hochwasser nicht mehr über die Ufer, dafür rauschten die Wassermassen wie in einer Pipeline in Richtung Favoriten.

Eine Collage die Hochwasser und Verbauung der Liesing zeigt und auch das Ergebnis der Renaturierung.
Die Liesing in den 1950ern vor der harten Regulierung (l.o.), der regulierte Liesingbach (r.o.), der frisch renaturierte Abschnitt beim Draschepark nach dem Hochwasser (l.u.) und der Endzustand in Rodaun, wo die Renaturierung schon länger her ist (r.u.).
© Fotocredit: Bezirksmuseum Liesing, BV23, WZ

Im Zug der Renaturierung werden nun die Pflasterung aufgebrochen und Hochwasserschutzmaßnahmen eingebaut. Die großen Steinbrocken werden vor Ort zerkleinert und wieder ins Bachbett eingebracht. „Der große Vorteil ist, dass kein Material weg- oder hertransportiert werden muss“, erklärt Ermischer. „Somit müssen auch keine großen Lkw hin- und herfahren.“ Noch sind die jetzt flacheren Ufer der Liesing beim Draschepark nicht unbedingt hübsch; zumal sie immer noch voller Schlamm vom Hochwasser sind. Sonst gab es hier aber keine Schäden; und das, obwohl das Bachufer noch „mit den frischen OP-Wunden daliegt“, wie es ein Kollege von der MA 45 formuliert hat. Erstaunlicherweise hat sogar das frisch gesäte Gras großteils gehalten. Das könnte damit zusammenhängen, dass im neuen, natürlichen Bachverlauf die Strömungsgeschwindigkeit geringer ist. „Dadurch baut sich das Hochwasser langsamer auf, und es wird auch weit weniger Gehölz mitgerissen, was die Verklausungsgefahren bei den Brücken reduziert“, erläutert der Bezirksrat. Allein der Wienfluss hat beim jüngsten Hochwasser rund 50.000 Tonnen an Holz weggeschwemmt.

Auch ein Roboter, der unter der Liesing dicke Abflussrohre verlegt, durch die das Regenwasser von der Straße direkt zur Kläranlage ein paar Kilometer weiter östlich abgeleitet wird, um den Bach zu entlasten, hat das Hochwasser ebenso schadlos überstanden wie eine nur um wenige Zentimeter unterquerte 380-kV-Stromleitung. Diese technischen Eingriffe ins Bachbett stehen nicht im Widerspruch zur Renaturierung, betont Ermischer. So wie ja auch die Retentionsbecken nicht natürlich entstanden, sondern vom Menschen geplant und geschaffen wurden, aber von der Natur erobert werden.

Die Natur nimmt ihren Lauf

Überhaupt ist in den renaturierten Bereichen der Liesing bereits schön zu sehen, wie die Natur ihren Lauf nimmt: Reiher und Eisvögel haben sich ebenso angesiedelt wie Biber, die dem Projekt bachaufwärts gefolgt sind – mit dem Effekt, dass einer ihrer Dämme bereits wieder entfernt werden musste, weil durch das aufgestaute Wasser der Begleitweg unterspült wurde. Der Abbau erfolgte aber in enger Absprache mit der Naturschutzbehörde. Und die Renaturierenden haben auch manches von der Natur gelernt. Zum Beispiel wollte man zunächst die großen Steine entlang des Bachbetts mit Humus bedecken und bepflanzen – bis man draufkam, dass die Liesing das mithilfe mitgeschwemmter Sedimente ganz von selbst erledigt. Im Favoritner Teil, der schon seit mehreren Jahren renaturiert ist, sind die Steinbrocken inzwischen komplett überwachsen. Die Liesing formt auch ihr Bett selbst mit. So ist beim Draschepark bereits eine neue Verlandung in der Mitte des Baches entstanden, die so nie geplant war. „Und wenn wir uns in einem Jahr wieder hier treffen, wird es wieder ein bisschen anders aussehen“, meint Ermischer.

Die Leute sehen jetzt direkt, was Renaturierung bedeutet.
Bezirksrat Wolfgang Ermischer

Die Sorgen mancher Anrainer:innen, die durch die Renaturierung neuerliche Überflutungen befürchteten, sollten spätestens seit dem jüngsten Hochwasser zerstreut sein, meint er. „Natürlich, Kritiker und Unzufriedene gibt es immer. Aber die bekommen auch in den Sozialen Netzwerken massiven Gegenwind aus der Bevölkerung.“ Die hat nämlich die Liesing nach der Renaturierung erst so richtig für sich entdeckt und die neuen flachen Ufer beim Draschepark im Sommer ausgiebig genutzt. Auch beim Lokalaugenschein der WZ sind zahlreiche Radfahrer:innen, Läufer:innen und Hundehalter:innen unterwegs. „Das Gute daran ist, dass die Leute jetzt direkt sehen, was Renaturierung bedeutet. Und was sie selbst davon haben“, stellt Ermischer fest. Seiner Beobachtung nach „sind viele Bezirksbewohner:innen ja überhaupt erst im Zug von Corona draufgekommen, dass es den Liesingbach gibt. Da hat es sich erstmals so richtig am Wasser abgespielt.“

Nächstes Jahr geht es weiter nach Westen, bachaufwärts. Dann ist der Bereich rund um Alterlaa dran. Dort plätschert die Liesing in einem schmalen, steil eingehausten Bachbett, eingezwängt zwischen zwei Fußwegen entlang der beiden Kleingartenvereine am linken und rechten Ufer. Manche Anrainer:innen fragen sich, wie hier die Renaturierung aussehen soll. Einen Vorgeschmack gibt wohl der Bereich im 10. Bezirk, wo die Himberger Straße als Verlängerung der Favoritenstraße die Liesing quert. Dort ist die Renaturierung seit mehreren Jahren fertig. Und sie funktioniert.


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Infos und Quellen

Genese

Beim Jahrhunderthochwasser in Niederösterreich und Wien im September 2024 zeigte sich an vielen Orten, wie wichtig der natürliche Hochwasserschutz ist. Wenige Monate davor hatte Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen mit ihrer nicht mit der ÖVP abgesprochenen Zustimmung zum Renaturierungsgesetz der EU den Koalitionspartner verärgert. WZ-Redakteur Mathias Ziegler hat sich am Liesingbach in Wien selbst ein Bild davon gemacht, wie Renaturierung und Hochwasserschutz Hand in Hand gehen.

Gesprächspartner:innen

  • Wolfgang Ermischer ist SPÖ-Bezirksrat in Wien-Liesing und vertritt den Bezirk im Kernteam, das die Renaturierung des Liesingbachs koordiniert.

  • Hanna Simons ist stellvertretende Geschäftsführerin der Naturschutzorganisation WWF Österreich.

  • Die Anrainer:innen und ein Mitarbeiter einer Tischlerei, die für diesen Artikel befragt wurden, wollten lieber nicht namentlich genannt werden.

Daten und Fakten

  • Natürlicher Hochwasserschutz kann verschiedene Formen haben. Wichtig ist, in allen Bereichen der betroffenen Gewässer das Wasser möglichst lang in der Landschaft zu speichern und zurückzuhalten. Eine wichtige Rolle spielen hier zum Beispiel Moore und Auen, da diese Feuchtgebiete wie ein Schwamm wirken. Das verhindert Überschwemmungen flussabwärts. Im Agrarland können humusreiche Böden, also Wälder, Wiesen und Weiden, viel mehr Wasser speichern als zum Beispiel ausgelaugte Maisfelder, erklärt der WWF. Auf den humusarmen Böden fließt besonders in Hanglagen das Wasser oft rasch ab und verursacht Schäden. Der WWF fordert daher unter anderem auch die umfangreiche Wiedereinführung von Uferrandstreifen bei Bächen und Flüssen. Und natürlich geht es auch um die Entsiegelung von Boden. „Wir müssen Flüsse ganz generell in ihren Einzugsgebieten betrachten“, so der WWF, „und schon in der Landnutzung darauf achten, dass wir Wasser so gut wie möglich in der Landschaft halten." Dafür braucht es intakte Böden, die Wasser gut aufnehmen können, intakte Auen und Feuchtgebiete sowie generell mehr Platz für Flüsse. Wo natürliche Maßnahmen nicht umgesetzt werden können, sind weiterhin technische Lösungen notwendig, die mehr oder weniger ökologisch sein können. Eine solche ist zum Beispiel ein Rückhaltebecken (Retentionsbecken).

  • WWF-Expertin Hanna Simons nennt die March-Thaya-Auen als aktuelles Beispiel für funktionierenden Hochwasserschutz. Diese wurden Mitte September überflutet – „was für die Natur in den Auen sehr wichtig ist“ –, während die bebaute Umgebung unbeschadet blieb.

  • Je mehr Platz in der Breite ist, desto langsamer fließt das Wasser und desto länger dauert die Entstehung von Hochwasser. Und ein mäandrierender (also gewundener) Bachlauf allein bietet bereits sehr viel Überschwemmungsraum. Biberdämme sind übrigens auch ein Baustein beim natürlichen Hochwasserschutz: Sie halten die Flut auf, bis sie einfach weggeschwemmt werden, was kaum zu Schäden führt (außer für die Biber selbst). Der WWF stellt klar: „Jeder Kubikmeter Wasser, der durch die Wiedergewinnung von Überschwemmungsgebieten, durch Gewässerrestrukturierungen, Entsiegelung, Versickerung und durch standortgerechte Land- und Forstbewirtschaftung sowie durch Erhalt und Förderung von Kleinstrukturen zur Wasserrückhaltung in der Landschaft zurückgehalten wird, ist ein Gewinn für den Naturhaushalt und entlastet uns beim Hochwasser.“

  • Das natürliche Zurückhalten und Speichern von Wasser schützt aber nicht nur vor Überflutungen, sondern federt auch die Folgen von Trockenheit ab. Außerdem können Feuchtgebiete wie Moore und Auen große Mengen an Kohlenstoff aufnehmen und langfristig binden. Damit spielen sie auch eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Klimakrise, die Extremwetterereignisse mit höherer Wahrscheinlichkeit auftreten lässt – doppelter Hochwasserschutz sozusagen.

  • Die EU-Verordnung zur Renaturierung sieht vor, bis zum Jahr 2050 Wiederherstellungsmaßnahmen für alle geschädigten Ökosysteme in Europa auf den Weg zu bringen. Daneben gibt es auch eine EU-Wasserrahmenrichtlinie, laut der alle Flüsse wieder einen guten ökologischen Zustand erreichen müssen. Auch das wird nach Meinung des WWF erheblich zur Resilienz der Flüsse im Hochwasserfall beitragen.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien