Ein Gruppen-Coming-out schwuler Profifußballer sollte die Branche verändern. Doch dann wagte es kein einziger. Warum in Kicker-Kreisen nicht nur Homosexuelle Mobbing fürchten – und wie sich das ändern könnte.
Dieser eine Tag sollte die Fußballwelt verändern. Sogar die Bild und der Spiegel berichteten. Es ging um eine richtig große Sache, die der 52-jährige deutsche Ex-Fußballer Marcus Urban monatelang angekündigt hatte: ein Gruppen-Coming-out homosexueller Sportler. Er kenne über hundert Namen, verriet er der WZ. Weltstars seien darunter. Und Österreicher. Auf einer digitalen Plattform sollten sie ihre Videobotschaften, Fotos oder Texte hochladen und sich offen zu ihrer Sexualität bekennen. Am Morgen des 17. Mai, dem Tag des geplanten Gruppen-Coming-outs, brach die Webseite unter den vielen Aufrufen zusammen. Zu viele wollten zusehen, wie Geschichte geschrieben wird. Doch dann passierte nichts. Kein einziger Fußballer nützte die Gelegenheit.
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Der Vorfall beschreibt das große Dilemma der Branche. Musik-Stars, TV-Sternchen, Schauspieler und Politiker outen sich reihenweise. Nur bei Fußballern ist das ein Riesenproblem. Warum ist das so? Die WZ hat in der Branche recherchiert. Wie könnte sich das ändern? Und vor allem: wer?
„Ich habe zu mir gesagt: ‚Frauen und Kinder gehen sicher trotzdem.‘“
In Österreich gibt es keinen Profi-Fußballer, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt. Nur einen Amateurspieler: den 31-jährigen Oliver Egger. Und schon für ihn war es schwierig. Seit Kindertagen spielt er für den steirischen Unterligaklub FC Gratkorn. Ein raues Umfeld. Seine Mitspieler nannten ein schwaches Zuspiel einen „schwulen Pass“. Und sein Trainer forderte, nicht zu attackieren „wie die Warmen“. Egger gestand sich lang nicht ein, auf Männer zu stehen. „Ich habe mir gesagt: ‚Frauen und Kinder gehen sicher trotzdem.‘“ Der Steirer ist ein zierlicher Mann, doch auf dem Feld agiere er robust und kampfbetont, versichert er. „Man würde mir nicht ansehen, dass ich schwul bin.“ Jahrelang steckte er in einem Konflikt mit sich selbst. Was würden die Kollegen sagen? Und erst seine Gegenspieler? „Ich habe gefürchtet, dass ich meine Fußballschuhe an den Nagel hängen muss.“ Vor acht Jahren nahm er allen Mut zusammen. Auf einer Party habe er vor Mannschaftskollegen seinen Freund „einfach angeschmust“. Sein Vereinsobmann stärkte ihm den Rücken; auch seine Mitspieler hielten zu ihm. Doch auf dem Feld beschimpften ihn Zuschauer „warme Ente“. Und Gegenspieler hörte er sagen: „Schau, da kommt der Kranke, der hat sicher schon die ganze Mannschaft angesteckt.“
So etwas schreckt ab. Das Problem: Je höher es im Fußballgeschäft nach oben geht, desto mehr steht für die Männer auf dem Spiel. Egger spielt in Gratkorn bloß auf Dorfplätzen vor wenigen Fans, in den Bundesligen toben Menschenmassen in großen Arenen. Es geht um Meistertitel und Millionen. Um Rekorde und Ruhm. Wer Karriere machen will, darf keine „Schwäche“ zeigen. Und das ist historisch bedingt. In den Anfängen des Fußballspiels wurde befürchtet, dass die Männer durch das gemeinsame Herumtollen und den engen Körperkontakt schwul werden könnten. Damit der Anschein gar nicht erst entstehen konnte, versuchten sie möglichst brutal und männlich aufzutreten. „Schwäche“ zeigen wurde zum No-Go. Das blieb bis heute so.
Der erste geoutete Fußballprofi war 1990 der Engländer Justin Fashanu. Acht Jahre später beging er Suizid.
Janko: „Offen damit umgegangen ist keiner“
Einer, der zwei Drittel seines Lebens in Fußballkabinen verbracht hat, ist Ex-Stürmerstar Marc Janko. „Dort geht es nur darum, sich nicht angreifbar zu machen“, erklärt der 40-Jährige gegenüber der WZ. Kicker seien selten Kumpels, sondern Kontrahenten. Es geht um Rangordnungen und Alpha-Männchen. Wörter wie „Schwuchtel“ stünden auf der Tagesordnung. Mehrere Fußballprofis betonen gegenüber der WZ: Wer eine Angriffsfläche biete, riskiere seine Karriere. Ein Gruppen-Coming-out? Fern jeglicher Realität, glauben viele. Nicht nur Homosexualität ist im Fußball-Zirkus ein Problem, sondern alles, was nicht dem klassischen Männlichkeits-Typus entspricht. Ex-Teamspieler Paul Scharner wollte nach einer Meisterfeier nicht mit ins Bordell – die anderen machten sich lustig und nannten ihn schwul. Als junger Spieler wurde Scharner Opfer eines gängigen Aufnahmerituals. Ältere Kollegen jagten ihn durch die Kabine und schmierten ihm scharfe Paste in den Hintern. Auch Janko erzählt, dass er in jungen Jahren bei Admira Wacker von älteren Mitspielern gemobbt wurde. „Die haben mir das Leben zur Hölle gemacht.“ Dass sich in diesem Umfeld konstruierter Männlichkeit kein schwuler Profi outet, überrascht ihn nicht. Bei einigen Mitspielern hätte er Homosexualität vermutet, erzählt Janko. „Offen damit umgegangen ist aber keiner.“
Je größer der Star, der Klub, die Liga, desto größer die Angst – vor Fans, Spielern, den Boulevardblättern und Hass im Netz. Selbst die Beratungsstelle „Gay Players Unite“ rät dringend davon ab, dass Spieler allein und ungeplant von ihrer Homosexualität berichten. Die Konsequenzen seien nicht abschätzbar. Der erste geoutete Fußballprofi war 1990 der Engländer Justin Fashanu. Acht Jahre später beging er Suizid. Weltweit ist nicht einmal eine Handvoll aktiver Erstliga-Profis geoutet, kein einziger Superstar. Expert:innen, mit denen die WZ gesprochen hat, vermuten, dass viele Schwule aufgrund des „extrem homophoben“ Umfeldes gar nicht erst eine Profikarriere anstreben, sondern sich schon davor zurückziehen. Der Ex-Starspieler von Manchester United Patrice Evra hingegen berichtet in seiner Biografie „I love this game“, „dass es in jeder Mannschaft mindestens zwei Schwule gibt. Aber im Fußball ist man am Ende, wenn man das sagt.“
Schein-Ehen und heimliche Treffen
Das Gruppen-Coming-out sollte Abhilfe schaffen. So könne man den Druck „auf mehrere Schultern verteilen“, erklärte Initiator Urban. Der WZ erzählte er vom großen Leidensdruck der Kicker: von Schein-Ehen, Fake-Freundinnen, heimlichen Treffen mit Lovern und Depressionen. Urban, einst Jugendnationalspieler in der DDR, litt selbst unter seiner versteckten Homosexualität. Er outete sich 2007, schrieb das Buch „Versteckspieler“ und ist heute Aktivist. In der Branche wird seine Aktion als Alleingang kritisiert – und der Termin als unpassend. Vor der anstehenden Europameisterschaft würde kein Spieler freimütig erklären, auf Männer zu stehen, heißt es. Urban hielt dagegen: Es fänden ständig wichtige Partien statt, kein Grund, sein wahres Ich zu verstecken. Seine Gruppen-Coming-outs sind mehrfach fehlgeschlagen – trotzdem glaubt er: Die Revolution steht kurz bevor.
Vereine und Verbände sind „total überfordert“
Den Wunsch nach Veränderung hegt auch Nikola Staritz, Antidiskriminierungsbeauftragte der heimischen Sportinitiative „Fairplay“. Ein Gruppen-Coming-out sieht sie jedoch „kritisch“. Es werde „mit Sensationslust nach bekannten schwulen Fußballern gesucht und diesen eine Bringschuld zugeschoben“, kritisiert sie. „Dabei müsste es andersrum sein: Die Bringschuld liegt im Fußballumfeld, bei den Vereinen, den Verbänden, den Fans.“ Es bräuchte eine Atmosphäre, „in der niemand Angst vor Diskriminierung haben muss“. So weit ist die Branche aber noch lang nicht. Zuletzt sorgten Rapid-Spieler und -Trainer für einen Homophobie-Skandal. Nach dem Wiener Derby Ende Februar trällerten sie lauthals schwulenfeindliche Lieder und ließen sich dabei sogar filmen. Für Staritz, die selbst Fußball spielte, nun eine Mädchenmannschaft trainiert und zum Thema forscht, war das aber „kein Schock – wir wissen, dass das die Sprache ist, die da herrscht“. Homophobie und Sexismus seien – im Gegensatz zum weitgehend verschwundenen Rassismus – ein „Riesenthema“ im Männerfußball.
Expertin fordert harte Liga-Sanktionen
In der heimischen Branche werde nicht genügend dagegen unternommen, kritisiert Staritz. Trainer müssten besser geschult werden, damit homophobe Sager schon bei Nachwuchskickern ausbleiben. Vereine, Verbände und Fanbeauftragte bräuchten eine laufende Begleitung. „Aber die Fachverbände sind da leider sehr zögerlich.“ „Man schaut auf Probleme generell nicht gerne hin und lässt sich von außen nichts sagen. Man will alles selber lösen, ist aber total überfordert.“ Es bräuchte „mehr Druck von oben“, fordert Staritz. Etwa, dass die Bundesliga Anti-Homophobie-Maßnahmen in ihre Lizenzkriterien aufnimmt. Sprich: Wenn sich Klubs nicht dazu verpflichten, dürfen sie nicht mitspielen.
Ehrenamtlicher Ombudsmann – viel los ist nicht
Auf WZ-Nachfrage erklärt man von Seiten der Bundesliga, dass „soziale Verantwortung“ in den Lizenzkriterien stünde – als „B-Kriterium“, das mit Geldstrafen sanktioniert wird. Die Vereine müssten demnach „Maßnahmen ergreifen und umsetzen, um gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle zu gewährleisten“, heißt es darin. Konkrete Vorgaben gegen Homophobie finden sich aber nirgends. WZ-Recherchen zeigen: Die UEFA übt zwar neuerdings Druck auf die nationalen Ligen aus, Homophobie zu bekämpfen. Wie, ist aber nicht ganz klar. In der Praxis müssen die Klubs bloß irgendetwas zum Thema vorweisen, um keinen Rüffel zu erhalten. So schrieben sie Toleranz-Plattitüden in ihre Leitbilder oder präsentierten zuweilen Regenbogen-Botschaften im Stadion. In der Regel aber rütteln erst Skandale die Szene wach. Rapid hat nach den schwulenfeindlichen Gesängen haufenweise Maßnahmen präsentiert und sogar eine eigene Stelle zur Förderung von Diversität ausgeschrieben. Auch die Bundesliga griff nach der öffentlichen Aufregung hart durch, belegte die Übeltäter mit Sperren und sanktioniert neuerdings homophobe Gesänge in Fanblocks.
Es können nicht ein paar Geoutete den Fußball und die Gesellschaft reformieren.Nikola Staritz, Antidiskriminierungsbeauftragte von „Fairplay“
Die 2018 von ÖFB und Bundesliga initiierte Ombudsstelle „Fußball für alle“ war ebenso eine Reaktion auf damals gehäufte homophobe Gesänge in Fußballstadien. Deren Leiter wurde Oliver Egger, der einzige bekennende schwule Fußballer des Landes. An ihn können sich seither alle wenden, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Viel los ist aber nicht. Drei bis vier Männer melden sich pro Jahr. Manche sogar unter falschem Namen. „Die legen sich extra eine neue Mailadresse an, weil die Angst so groß ist“, erzählt Egger. Gern würde er mehr bewegen. Das Problem: Er ist ehrenamtlich tätig und erhält bloß einen Fahrtkostenersatz. Vom Budget für die Ombudsstelle könnten ein paar Folder pro Jahr gedruckt werden. Viel mehr aber nicht. Anders die Situation in Deutschland: Der DFB finanziert einen Vollzeit-Posten „für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Fußball“. In Österreich dagegen sieht man keinen erhöhten Förderbedarf für die Ombudsstelle. Drei bis vier Anrufe pro Jahr? Die Nachfrage sei einfach zu gering, hört man aus Liga-Kreisen.
Neidisch blicken Männer wie Egger in Richtung Frauenfußball. Dort ist das alles kein Thema. Bei der Damen-WM im vergangenen Jahr liefen 120 geoutete Spielerinnen auf. Ohne Probleme. Ein ähnliches Bild bietet sich in Österreich: Die Teamchefin, die Torfrau, das Mittelfeld-Ass – sie alle leben offen lesbisch. Die Bekannteste: Viktoria Schnaderbeck, heimischer Frauenfußball-Superstar, einst für Bayern München und den FC Arsenal aktiv. Schnaderbeck postet Fotos von ihrer Hochzeit und ihrer schwangeren Frau. Und niemand stört sich daran. Aufgewachsen ist die 33-Jährige in der steirischen Provinz. In ihrem Dorf gab es nur einen geouteten Schwulen, „und der war für die Leute eine Sensation und ein Mysterium“, sagt sie. Sich im Fußballklub zu öffnen, fiel ihr deshalb leichter als in ihrer Familie und ihrem dörflich geprägten Umfeld. „Im Verein war es mehr akzeptiert.“
„Es scheint, als wäre der Männerfußball noch nicht so weit“, resümiert Ombudsmann Egger. Das gescheiterte Gruppen-Coming-out hinterlässt bei ihm „einen fahlen Beigeschmack“. „Da fehlte die Substanz“, sagt er. Initiator Urban jedenfalls war für die WZ nach der fehlgeschlagenen Aktion nicht mehr erreichbar.
Wie geht es nun weiter? Die Branche müsse insgesamt weniger homophob werden, glaubt Egger. „Es können nicht ein paar Geoutete den Fußball und die Gesellschaft reformieren.“ Nikola Staritz von „Fairplay“ würde jedenfalls niemandem den Rat geben: „Outet euch mal und dann schauen wir, was passiert“. Marcus Urban will dennoch an seinem Konzept festhalten. Jeden 17. eines Monats gebe es für alle schwulen Sportler weiterhin die Möglichkeit, sich auf seiner Plattform zu outen. Wer wolle, so betonte er, könne auch ein gemeinsames Foto mit seinem Partner hochladen.
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Infos und Quellen
Genese
Ein Gruppen-Coming-out sollte die Fußballbranche verändern. Doch niemand traute sich. War die Aktion das richtige Mittel – und wie könnte die heimische Szene eine Klimaveränderung befördern? Autor Gerald Gossmann hat in der Branche recherchiert und mit Insidern und Expert:innen gesprochen.
Gesprächspartner
Oliver Egger, homosexueller Fußballer beim FC Gratkorn
Marc Janko, Ex-Teamspieler und TV-Experte
Marcus Urban, Initiator des Gruppen-Coming-outs
Nikola Staritz, Antidiskriminierungsbeauftragte von „Fairplay“
Mathias Slezak, Pressesprecher österreichische Bundesliga
Viktoria Schnaderbeck, Frauenfußballstar
Fußballer und Funktionäre, die anonym bleiben wollen
Daten und Fakten
Das Gruppen-Coming-out „Sports Free“ wurde vom deutschen Ex-Fußballer und Aktivisten Marcus Urban initiiert. Es hätte am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, stattfinden sollen.
Nur sieben männliche aktive Profi-Fußballer von weltweit rund 500.000 bekennen sich zu ihrer Homosexualität: Andy Brennan, Josh Cavallo, Jake Daniels, Jakub Jankto, Phuti Lekoloane, Collin Martin und Zander Murray. Der Brite Justin Fashanu war 1990 der erste geoutete Fußballprofi weltweit. Von einem Trainer wurde er schikaniert. Acht Jahre nach seinem Outing beging er Suizid. In Deutschland gibt es mit Thomas Hitzelsberger nur einen öffentlich schwulen Fußballprofi – sein Coming-out fand aber erst nach seiner aktiven Karriere statt. In Österreich gibt es keinen einzigen öffentlich homosexuellen Fußballprofi.
Die Fairplay Initiative ist eine österreichische Organisation zur Förderung von Diversität und Antidiskriminierung im Sport – sie versucht, in den organisierten Sport hineinzuwirken. Zugleich können sich Zuschauer:innen melden, denen Diskriminierung auffällt.
Die Ombudsstelle „Fußball für alle“ dient als direkte Anlaufstelle für LGBTIQ+-Personen im Fußball. Hier geht es vor allem um Diskriminierung im Bereich Homophobie. Die Anlaufstelle ist unabhängig und eigenständig, jedoch mit einer Legitimation von ÖFB und Bundesliga ausgestattet.
Quellen
Fußball für alle – Ombudsstelle
Diversero – Verein für Diversität in Sport und Gesellschaft; die Plattform von Marcus Urban, dem Initiator des Gruppen-Coming-outs
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