Der Bau des Südostwalls vor 80 Jahren ist ein besonders grausames und absurdes Kapitel der NS-Herrschaft. Die Erinnerung daran lebt im Bewusstsein der entlang des ehemaligen Panzergrabens wohnenden Menschen auf vielfältige Weise weiter.
Die, die dabei waren, sind so gut wie alle tot: die Täter, die Opfer. Die Angehörigen der mordenden SS, die KZ-Häftlinge, die „Ostarbeiter“, die Kriegsgefangenen aus Frankreich und Griechenland. Auch die vielen Hitlerjungen aus Wien und die Frauen, die von einem Tag auf den anderen auf Lkw verfrachtet und zum „Schanzen“ in das Burgenland gebracht wurden.
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Der Südostwall, die von den Nazis „Reichsschutzstellung“ genannten Panzergräben und Befestigungen, sollten ab dem Herbst 1944 den Untergang des Dritten Reichs verhindern. Die Arbeiter:innen, die sogenannten „Schanzer“, gruben, nach unten spitz zulaufend, fünf Meter in die Breite und drei Meter in die Tiefe. Südlich der Donau quer durch Niederösterreich und das Burgenland, den Neusiedler See entlang über die Steiermark bis nach Slowenien. Militärisch war die Aktion völlig sinnlos, sie verzögerte die deutsche Niederlage um keinen Tag. Mörderisch war der Wall nur für die, die ihn bauen mussten. 33.000 Menschen kamen dabei um. KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen starben an Krankheiten, an Entkräftung, oder sie wurden, wenn sie nicht mehr graben konnten, von den Nazis einfach erschossen.
Die Gräben sind wieder zugeschüttet. Die, die 1944/45 in den Dörfern entlang des Südostwalls gelebt haben, haben ihre Erinnerungen nur sehr spärlich an Töchter, Söhne und Enkel:innen weitergegeben. Und das Thema ist bis heute für viele Niederösterreicher:innen und Burgenländer:innen ein Tabu.
Wozu der Mensch fähig ist
Dass die Nazi-Morde in der Grenzgemeinde Berg, da, wo der Südostwall einst war, nicht vergessen wurden, ist in erster Linie einer Initiative von SPÖ-Altbürgermeister Georg Hartl zu verdanken. Als 2008 bei Bauarbeiten eine riesige Panzersperre aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde, hatte er die Idee, das Betonrelikt für eine Gedenkstätte zu verwenden. Er habe die Kriegsvergangenheit nicht in Vergessenheit geraten lassen wollen, sagt er im Gespräch mit der WZ. Eine „Mahnung gegen Krieg“, soll das Denkmal sein, es soll zum Nachdenken anregen und deutlich machen, „wozu der Mensch fähig ist“.
Der viereckige Betonblock befindet sich, gut sichtbar, in der Nähe eines Kinderspielplatzes. Auf Schautafeln werden die Geschichte des Südostwalls und die damit zusammenhängenden Verbrechen auf Deutsch und Slowakisch dargestellt. Es gibt entlang des ehemaligen Südostwalls auch an anderen Orten Gedenkstätten, etwa in Rechnitz, wo Ende März 1945 180 Juden erschossen worden waren.
Leichen unter der Veranda
Aber wie gehen die Menschen in Berg mit der Tatsache um, dass der Ort, in dem sie leben, historisch massiv belastet ist? „Wer will schon in dem Bewusstsein leben, dass genau auf seinem Grundstück im Krieg ein Mensch elend verreckt ist“, sagt Altbürgermeister Hartl. „Das verdrängt man bewusst. Das ist Selbstschutz. Man schiebt es weg, und stellt sich die Frage: ‚Tu ich mir damit selbst was Gutes?‘“
Einst verlief der Panzergraben vor der Ortschaft. Ein Lokalaugenschein der WZ zeigt, dass das Gebiet heute erschlossen und bewohnt ist. Hier befinden sich die Siedlungsgasse und Kapellengasse, genau hier wollte Hitler per „Führerbefehl“ die Rote Armee aufhalten und sein „Tausendjähriges Reich“ in letzter Sekunde retten. An dieser Stelle schaufelten vor 80 Jahren Zwangsarbeiter:innen und KZ-Häftlinge. Das Lager Engerau, wo Juden und Jüdinnen gefangen gehalten und ermordet wurden, war nicht weit.
Eine Dame steigt aus ihrem Auto. Ob sie weiß, was hier einst war? „Ja schon“, sagt sie zur WZ, „aber fragen Sie mich nicht nach Details.“ Ob es ein Problem ist, hier zu wohnen? Es ist ein Problem. „Ganz hinten in unserem Garten“, sagt sie, „bei den Himbeeren. Da fühle ich mich unwohl.“ Ihr Mann kommt hinzu und bittet den Reporter in den Garten. Das ganze Grundstück sei lehmig, sagt er, nur am Ende, dort beim Zaun, da sei viel Schotter. Da hätten die alliierten Besatzer nach dem Zweiten Weltkrieg den Südostwall mit Steinen und Erde zugeschüttet. Manche Nachbar:innen hätten Risse in der Hausmauer und würden diese auf Unebenheiten durch den Wall zurückführen. Erwiesen sei die Ursache aber nicht. Im Übrigen sieht es der Mann, anders als seine Frau, pragmatisch. Der Graben sei zwar hier im Garten gewesen, jetzt ist er es nicht mehr, sagt er. Punkt. Aus.
Das Schicksal der eigenen Verwandten
Weiter südlich, am Neusiedler See, befindet sich die burgenländische Gemeinde Weiden. Der dortige „Oldtimer-Traktorclub Pannonia“ hat eine Abordnung nach Berg geschickt, wo ein Treffen der Freund:innen alter Landwirtschaftsgeräte stattfindet. Vor dem Wirtshaus stehen die Gefährte geparkt. Damen und Herren in bäuerlichem Outfit sind versammelt, die Stimmung ist gut.
Gern erzählen sie vom Südostwall, der einst unmittelbar an Weiden vorbeiführte. Einer sagt, dass er seinen Großvater durch den Panzergraben verloren habe. „Der hat sich damals beim Wegräumen von Leichen infiziert und ist gestorben.“ Ein weiterer weiß von Kindern, die dort nach dem Krieg mit der liegengebliebenen Munition gespielt haben. „Die haben ein Lagerfeuer angezündet und Patronen reingeschmissen.“ Die meisten Kinder hätten sich vorsorglich in Sicherheit gebracht und Abstand gehalten. Drei nicht. Plötzlich sei ein Feuerstrahl aus den Flammen geschossen, alle drei Kinder seien tot gewesen, sagt er.
Das Leid der KZ-Häftlinge, die bis zum Umfallen graben mussten und gestorben sind, ist hier bekannt. Näheres weiß man aber nicht. Es ist das Schicksal der eigenen Verwandten und das der Dorfgemeinschaft, von dem gesprochen wird. Bereits verstorbene Zeitzeug:innen haben allerdings erzählt, dass sie als Jugendliche den „Schanzern“ Essen zustecken wollten, was aber streng verboten war und von den Wachmannschaften geahndet wurde. Das ist auf dem Mahnmal in Berg nachzulesen.
Großes Schweigen
In Prellenkirchen an der burgenländisch-niederösterreichischen Grenze sitzen Einheimische vor den Weinkellern und trinken. Auch hier führte der Wall unmittelbar vorbei, ebenso wie am nahe gelegenen Deutsch-Haslau. Ein jüngerer Mann erinnert sich, dass der Großvater von dem Graben erzählt habe: Wie mühsam es gewesen sei, ihn nach dem Krieg mit Leiter-runter, Leiter-rauf zu überwinden. Aber eigentlich hätten die Alten nicht gern darüber berichtet, meistens gar nicht. Das Thema Südostwall, überhaupt der Krieg, sei bei den Vorfahr:innen „absolutes Tabu“ gewesen, meint ein älterer Herr, von der WZ darauf angesprochen. Er steht auf und muss jetzt zahlen. Ein anderer weiß, dass seine Großmutter nach der Eroberung des Burgenlands von einem Rotarmisten „eines mit der Pistole über den Kopf gezogen bekam“ und dass die alte Verletzung noch Jahrzehnte später mit den Fingern zu spüren gewesen sei.
Als Anfang April 1945 die Russen kamen und den Südostwall, ohne auf großen Widerstand zu stoßen, überschritten, ging es im Burgenland und in Niederösterreich mit den Vergewaltigungen los. Das weiß hier in den Dörfern jeder, doch gesprochen wird darüber kaum. Bis heute nicht.
Ein Stimmungskiller
Das Thema Südostwall ist sensibel, das kennt auch der Berger Altbürgermeister Hartl. Er erinnert sich an eine festliche Ansprache, die er vor etlichen Jahren am Sportplatz von Berg anlässlich eines Jubiläums des lokalen Sportvereins halten musste. „Da habe ich mir bei der Vorbereitung der Rede gedacht: ‚Sollst du den Leuten sagen, dass da mitten durch den heutigen Sportplatz der große Panzergraben durchgegangen ist? Das wäre etwas, das einschlägt wie eine Bombe.‘“ „Nein“, habe er sich damals entschieden, „unter Umständen haust du dir damit die Stimmung zusammen.“ „Die Leute wären dann zu mir gekommen und hätten gesagt: ‚Geh, hör doch auf mit dem!‘“
In festlicher Erwartung sind die Gäste des Oktoberfestes in Edelstal, einer Gemeinde unweit von Prellenkirchen und Berg. Es ist elf Uhr, das erste Bier ist bestellt, die Musikkapelle aus Hainburg hat Aufstellung genommen. An einem Tisch sitzen zünftige Herren und Damen, alle können mit dem Begriff „Südostwall“ etwas anfangen. Einer ist aus Prellenkirchen, er weiß genau, wo Gräben verlaufen sind: „Entlang der Pamaerstraße, die von Prellenkirchen Richtung Pama führt.“ Er sei früher mit dem Suchgerät die Linie entlanggegangen und habe „unheimlich viel Munition geborgen. Auch Panzergranaten.“ Die Blindgänger waren eine permanente Gefahr. Einer sagt, dass er bei Renovierungsarbeiten eine russische Granate im Gebälk seines Hauses gefunden habe. Ein anderer Mann berichtet, dass es einen Verwandten nach 1945 „zerrissen hat, als er auf dem Traktor gesessen ist“. Ein anderer weiß, dass es den Graben ja immer noch gebe, „1,5 Meter ist er tief, da drüben“, und deutet quer durch das Bierzelt. „Kann man sich jederzeit ansehen.“
Die wahnwitzige Verteidigungsstellung der Nazis hat zwischen der Donau und dem Neusiedler See zahlreiche Spuren hinterlassen. Als Erinnerung an Erinnerungen aus erster Hand, aber auch in der Landschaft. Der Hobby-Historiker Hermann Schneider, der es in der Thematik längst zum Experten gebracht hat, hat eigenhändig Luftaufnahmen gemacht, auf denen stellenweise quer durch die Felder dunkle Linien zu sehen sind. Eine bis heute gut sichtbare Spur des Verteidigungsgrabens, wie er zur WZ sagt.
Gusseisernes Vermächtnis
Erich Weintritt, Amtsleiter der Gemeinde Berg, hat in langer Arbeit unzählige historische Informationen über den Wall für das „Mahnmal Panzersperre“ zusammengetragen. Er weiß, dass überall in der Gegend heute noch die Schaufeln und Hacken, die die unglücklichen „Schanzer“ 1944/45 benutzten, in Verwendung sind. Er selbst habe „erst gestern“ mit einem derartigen Krampen gearbeitet. Kein Akt des Gedenkens, sondern ganz praktischer Nutzen. Das geschmiedete Werkzeug sei von einer Qualität, wie sie heute nicht mehr hergestellt werde, sagt er.
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Infos und Quellen
Genese
Der Autor hat vor einigen Jahren im Zug von Recherchen zu seinem Buch „Die Befreiung Wiens“, erschienen im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, mit dem mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen Franz Mikolasch gesprochen. Der hat erzählt, dass er im Herbst 1944 als Schüler einer bautechnischen Schule ziemlich unvermittelt per Lkw nach Neusiedl gebracht worden war, um im Rahmen des Südostwalls Panzergräben zu schaufeln. Mikolasch berichtete von einem HJ-Führer, der die Jugendlichen schikanierte. Er hatte Glück und wurde von einer Ärztin, die ihn schon kannte, krankgeschrieben und konnte wieder nach Hause. Das Thema Südostwall hat WZ-Redakteur Michael Schmölzer seitdem nicht mehr losgelassen.
Gesprächspartner:innen:
SPÖ-Altbürgermeister von Berg, Georg Hartl
Der Amtsleiter von Berg, Erich Weintritt
Südostwall-Experte, Hermann Schneider
Die Damen und Herren, die sich in Edelstal am 8. September zum Oktoberfest getroffen und mit der WZ gesprochen haben.
Die, die beim Kellergassenfest in Prellenkirchen am 25. August Auskunft gegeben haben.
Die Mitglieder des „Oldtimer-Traktorclubs Pannonia“ in Weiden.
Jene Anwohner in der Siedlungs- und Kapellengasse in Berg, die den Autor sogar in ihren Garten gelassen haben.
Daten und Fakten
Die NS-Verbrechen am Südostwall: 300.000 Menschen waren am Bau beteiligt, sogenannte Ostarbeiter:innen und ungarische Juden und Jüdinnen, aber auch HJ-Buben, etwa aus Wien. Unmenschliche Schikanen, Unterernährung und Krankheiten führten zum Tod von 33.000 Menschen. Die, die nicht mehr graben konnten, wurden oft gruppenweise erschossen. Allein im Bezirk Oberwart wurden mehrere hundert jüdische Zwangsarbeiter:innen bei den Massakern von Rechnitz und Deutsch-Schützen erschossen. Den Massakern von Jennersdorf und Krottendorf bei Neuhaus fielen mehr als 100 Personen zum Opfer. Der Südostwall sollte von den Weißen Karpaten bis Zagreb reichen, wurde aber nicht fertiggestellt.
Verantwortlich für den Bau des Südostwalls war die sogenannte Organisation Todt (OT), benannt nach Fritz Todt, der für Hitler auch verschiedene Rüstungsprojekte durchzog und Festungs- und Verteidigungslinien errichtete. Sein Nachfolger war Albert Speer. Die Organisation Todt beschäftigte zunächst hunderttausende Freiwillige, später aber in zunehmendem Maß sogenannte Ostarbeiter:innen, Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.
Auch Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., musste als Jugendlicher beim Bau des Südostwalls mitarbeiten. Er war zwei Monate in Deutsch Jahrndorf zum Graben eingeteilt, wie er noch zu Lebzeiten in einem Brief an den burgenländischen Diözesanbischof Ägidius Zsifkovics mitteilte.
Der „Führerbefehl Nummer 8“: Bald nach der deutschen Niederlage von Stalingrad befahl Adolf Hitler den Ausbau von Verteidigungslinien im Osten. Die Planung des Südostwalls begann Anfang 1944, die Grabungsarbeiten im Wesentlichen im Herbst 1944. Im „Ausführungsbefehl“ zum „Führerbefehl“ heißt es, dass das Gebiet vor dem Wall „eine Wüste“ werden müsse, damit ein Aufenthalt des Feindes dort schwieriger werde. Das ist zum Glück nicht umgesetzt worden.
Das Teilstück des Südostwalls, das durch Berg führt, wird von der lokalen Bevölkerung „Arigraben“ genannt. Offenbar befand sich dort schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein Truppenübungsplatz. Es war zu erfahren, dass „Ari“ für „Artillerie“ steht, die dort erprobt wurde.
Quellen
Leopold Banny, Schild im Osten – Der Südostwall zwischen Donau und Untersteiermark 1944/45, 1985
Das Thema in anderen Medien
ORF: 1945: Massaker an der Grenze
Der Standard: Akte Engerau: Das letzte Kapitel des Holocausts
Der Standard: Fleißaufgabe der Bestialität