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$uizid, Selbstverl€tzung und der toxische TikTok-Algorithmus

6 Min
TikTok blockiert bestimmte Schlagwörter, doch die Algorithmen erkennen suizidales Verhalten nicht immer zuverlässig. Nutzer:innen umgehen Filter, indem sie Begriffe modifizieren, wie etwa „Selbstm0rd“ statt „Selbstmord“.
© Illustration: WZ

Romantisierte Suizid-Szenen sind für Jugendliche auf TikTok sehr leicht zu finden. Zu leicht.


Hinweis: In diesem Artikel geht es um Suizid und psychische Erkrankungen. Falls du auf diese Themen sensibel reagierst, lies diesen Beitrag vielleicht mit einer vertrauten Person, mit der du auch unterbrechen kannst, um dich mit ihr über das Gelesene zu unterhalten.

Ukraine, Oktober 2023. Zwei Jugendliche sterben während eines TikTok-Livestreams. Im Netz kursieren Gerüchte über mögliche Gründe wie eine verbotene Liebe oder Drogenmissbrauch. Dieser Vorfall wirft Fragen nach der Verantwortung sozialer Medien und deren Einfluss auf die psychische Gesundheit Jugendlicher auf.

For You: Von Empfehlungen zu Rabbit Holes

Wer auf TikTok nach den beiden Teenagern sucht, wird schnell fündig. Der Algorithmus reagiert prompt. Zwischen harmlosen Videos tauchen auf der „For You Page“ zunehmend Beiträge auf, die an die verstorbenen Jugendlichen Irina* und Ivan* erinnern. Immer begleitet von derselben düsteren ukrainischen Popmusik, die den für TikTok typischen Ohrwurm erzeugt. In den Kommentaren spekulieren User:innen über die Todesursache und teilen sogar Links zum Livestream-Mitschnitt.

Das Empfehlungssystem ist das Herzstück von TikTok. Es analysiert Interaktionen wie Likes, Kommentare und Videoansichten, um passende Inhalte vorzuschlagen. Doch hier liegt die unsichtbare Gefahr: Selbst ohne bewusste Interaktion führt einen der Algorithmus immer wieder zu den gleichen problematischen Inhalten – sogenannte „Rabbit Holes“.

Besonders kritisch sind Livestreams von selbstverletzendem Verhalten.
Thomas Niederkrotenthaler, Suizidforscher an der Medizinischen Universität Wien

Livestreams als Gefahr

„Der Umgang mit Suizidäußerungen auf Sozialen Medien birgt zahlreiche Risiken. Besonders kritisch sind Livestreams von selbstverletzendem Verhalten und die wiederholte Konfrontation mit psychisch belastenden Inhalten“, erklärt Thomas Niederkrotenthaler, Suizidforscher an der Medizinischen Universität Wien. Algorithmen verstärken diese Problematik: „Suchen Jugendliche nach Selbstverletzung, zeigt der Algorithmus ähnliche Inhalte, was Normalisierung und Glorifizierung fördern kann.“

Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP), warnt, dass die intensive Nutzung Sozialer Medien das Selbstbild Jugendlicher in der Selbstfindungsphase stark beeinflusst. „Wenn Jugendliche täglich mehrere Stunden auf diesen Plattformen verbringen, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion“, erklärt sie.

Belastungen durch Krisen

Ob durch Pandemie, Klimakrise oder Kriege – die psychische Gesundheit von Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert. Thomas Niederkrotenthaler verweist auf die „Mental Health in Austrian Teenagers“-Studie (MHAT): Demnach litten rund 24 Prozent der Jugendlichen an einer psychischen Erkrankung. Besonders häufig traten Angststörungen, Störungen der neuronalen oder psychischen Entwicklung (z. B. ADHS) sowie depressive Störungen auf. Nur etwa die Hälfte der betroffenen Jugendlichen erhielt eine entsprechende Behandlung.

Die Pandemie verschärfte diese Entwicklung: Ende 2021 zeigten 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Buben depressive Symptome. Auch die Zahl stationärer Aufnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stieg nach einem anfänglichen Rückgang während der Lockdowns über das Niveau vor der Pandemie. Zudem nahmen Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten deutlich zu.

Nutzer:innen müssen lernen, Inhalte kritisch zu hinterfragen.
Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie

Umgang mit Suizidalität in Medien

Der Werther-Effekt beschreibt das Phänomen, dass mediale Darstellungen von Suiziden Nachahmungen fördern können. Barbara Haid warnt, dass Plattformen wie TikTok diesen Effekt verstärken könnten, da dort Inhalte oft ungefiltert und ohne professionelle Einordnung verbreitet werden. Die WZ wollte von TikTok wissen, welche Maßnahmen oder Schritte gesetzt werden, um Jugendliche vor solchen Inhalten zu schützen – die Anfrage blieb unbeantwortet. „Aufklärung über Suizidalität ist notwendig, aber Nutzer:innen müssen lernen, Inhalte kritisch zu hinterfragen“, so Haid.

TikTok blockiert zwar bestimmte Schlagwörter, doch die Algorithmen erkennen selbstverletzendes oder suizidales Verhalten nicht immer zuverlässig. Nutzer:innen umgehen Filter, indem sie Begriffe modifizieren, wie etwa „Selbstm0rd“ statt „Selbstmord“. Dies erschwert die rechtzeitige Identifizierung und Unterstützung von Betroffenen. Niederkrotenthaler weist jedoch darauf hin, dass das Löschen von Beiträgen, die sich mit dem Thema Suizid befassen, nicht immer zielführend ist. Solche Inhalte enthalten unter anderem auch Hilferufe oder ermutigende Erfahrungsberichte, die lebensrettend sein können.

Erfahrungsberichte als Hoffnungsträger

Vor einiger Zeit entwickelte sich auf TikTok ein Trend, bei dem junge Menschen offen über ihre Erfahrungen und Diagnosen im Umgang mit psychischen Problemen sprechen. Solche Videos bieten Teenagern wertvolle Unterstützung und Informationen zu Hilfsangeboten. Dieser Ansatz spiegelt den Papageno-Effekt wider, bei dem positive Botschaften betroffenen Menschen Hoffnung geben und ihnen Wege aus der Krise aufzeigen. Thomas Niederkrotenthaler verweist auch auf die Plattform „X“, wo Postings zur Suizidprävention nachweislich zu mehr Hilfsgesuchen und damit zu weniger Suiziden führten.

Wettlauf gegen die Zeit in der Suizidprävention

Die tragischen Schicksale der ukrainischen Jugendlichen Irina* und Ivan* machen die Dringlichkeit einer effektiven Suizidprävention deutlich. Rückzug, Interessenverlust, Verhaltensauffälligkeiten oder Aussagen wie „Ich kann nicht mehr“ sind laut Thomas Niederkrotenthaler wichtige Warnsignale. Auch Drogenkonsum, schulische Leistungseinbrüche oder eine intensive Beschäftigung mit Tod und Sterben sollten ernst genommen werden. „In solchen Momenten ist es entscheidend, das Gespräch zu suchen und gegebenenfalls professionelle Hilfe zu organisieren“, betont der Experte. „Es geht darum, den Betroffenen das Gefühl von Schuld und Einsamkeit zu nehmen“, fügt Psychotherapeutin Barbara Haid hinzu. Ihr Appell: „Hinschauen statt Wegschauen!“

Auch soziale Medien müssen ihren Beitrag leisten. Trotz Community Guidelines auf TikTok lassen sich problematische Inhalte oft umgehen. „Es braucht mehr geschultes Personal zur Inhaltsüberwachung und wirksamere Algorithmen“, plädiert Niederkrotenthaler. Gesundheitsfolgeabschätzungen für Tech-Unternehmen könnten Risiken für Nutzer:innen schon bei der Entwicklung der Technologie minimieren.

Zugang zu Psychotherapieplätzen erleichtern

Barbara Haid fordert zudem einen leichteren Zugang zu Psychotherapieplätzen. Kostenfreie Angebote, mehr auf Kinder- und Jugendarbeit spezialisierte Fachkräfte und kürzere Wartezeiten seien dringend notwendig. In ländlichen Regionen sollten aufgrund der langen Anfahrtswege digitale Therapieoptionen gefördert werden. Nur so lasse sich die Versorgung verbessern und stationäre Einrichtungen könnten entlastet werden. Haid betont: „Psychische Gesundheit ist genauso wichtig wie körperliche. Wir müssen die Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit fortsetzen, um das Thema weiterhin zu enttabuisieren. Jeder investierte Euro in die Kinder- und Jugendgesundheit rechnet sich – auf die Lebensspanne der Menschen bezogen – um ein Vielfaches.“

Du bist in einer schwierigen Lebenslage und brauchst Unterstützung? Hier findest du Hilfe:

Wenn du dich in einer akuten Krise befindest, ist es wichtig, nicht allein zu bleiben. Wende dich an vertraute Personen – manchmal hilft es schon, mit jemandem über deine Gedanken zu sprechen und gemeinsam weitere Schritte zu planen.

Nutze außerdem die folgenden Hilfsangebote:


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Infos und Quellen

Genese

WZ-Autorin Florentina Glüxam stieß beim Scrollen durch TikTok zufällig auf das Schicksal von Irina* und Ivan* und war erschrocken, wie einfach es ist, auf Social-Media-Plattformen mit suizidalen Inhalten in Kontakt zu kommen. Diese Entdeckung warf die Frage auf, wie besonders Jugendliche besser vor gefährlichen Inhalten im Netz geschützt werden können. Die Namen der Jugendlichen haben wir in der Geschichte bewusst geändert, um keinen Nachahmungseffekt zu reproduzieren.

Gesprächspartner:innen

  • Thomas Niederkrotenthaler – Professor an der Medizinischen Universität Wien im Fachbereich Public Mental Health, Suizidforscher am Zentrum für Public Health sowie Vizepräsident der Internationalen Vereinigung für Suizidprävention (IASP)

  • Barbara Haid – Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie, Psychotherapiewissenschaftlerin, Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin, Psychotherapeutin in freier Praxis und an den Tirol Kliniken

Daten und Fakten

  • Der im Jahr 2023 veröffentlichte Berichte „Psychische Gesundheit von österreichischen Jugendlichen“ des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) analysierte Schüler:innen zwischen 10 und 21 Jahren. Ergebnisse zeigen, dass 41 Prozent der Schülerinnen und 21 Prozent der Schüler der 11. Schulstufe häufig an Niedergeschlagenheit leiden. Angstgefühle betreffen 35 Prozent der Schülerinnen und 12 Prozent der Schüler. An einem WHO-5-Score von ≤28 gemessen, sind 31 Prozent der Schülerinnen und 17 Prozent der Schüler von depressiven Verstimmungen betroffen. Besonders anfällig sind Mädchen, sozial benachteiligte Jugendliche sowie jene mit Migrationshintergrund.

  • Der Suizidbericht 2024 des BMSGPK zeigt, dass im Jahr 2023 insgesamt 1.212 Menschen in Österreich durch Suizid starben, darunter 65 Jugendliche unter 20 Jahren. Zu Suizidversuchen gibt es keine genauen Statistiken, jedoch wird geschätzt, dass auf jeden vollendeten Suizid 10- bis 30-fach mehr Versuche unternommen werden. Dies entspricht jährlich etwa 11.000 bis 32.000 Suizidversuchen. Während Frauen häufiger Suizidversuche unternehmen, sterben Männer deutlich öfter durch Suizid. Besonders gefährdet ist die Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen, für die Suizid die zweithäufigste Todesursache darstellt.

Anlaufstellen und Unterstützungsangebote für Jugendliche in Österreich

Psychologische und psychotherapeutische Hilfe

  • fit4SCHOOL: Kostenloses Angebot zur psychotherapeutischen Beratung im Schulalltag. Schulpsychotherapeut:innen arbeiten in Modellschulen als Teil eines interdisziplinären Teams. Zudem gibt es eine Hotline für Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen, die werktags von 14:00 bis 15:00 Uhr kostenlose, anonyme und vertrauliche Beratung bietet.(Hotline +43512561734, fit4school@psychotherapie.at)

  • Gesund aus der Krise: Dieses vom BMSGPK geförderte Programm bietet Kindern und Jugendlichen bis 21 Jahre kostenlose psychologische und psychotherapeutische Unterstützung. (0800800122, werktags von 8-18 Uhr, info@gesundausderkrise.at)

  • SOS Kinderdorf: Hier findest du Tipps zu einem gesunden Umgang mit TikTok

Prävention und Resilienzförderung

  • Chatsafe: Internationale Empfehlungen für sicheres Verhalten von Jugendlichen in sozialen Medien.

  • Jugendschutz.net: Unterstützt Jugendliche mit Informationen zu sicherem Verhalten online.

  • SEYLE-Programm: Präventionsinitiative mit Rollenspielen im Klassenzimmer. Studien zeigen eine deutliche Verringerung von Suizidgedanken und -versuchen.

  • Lesen für die psychische Gesundheit: Projekt zur Förderung der Resilienz durch Lesen an Schulen.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien