Tempolimits sind gut für die Verkehrssicherheit, für die Gesundheit, für das Klima – und manchmal auch für das Ortsbild.
„Schön ist es geworden“, stellt Marius (31) fest. „Ja, früher war die Thaliastraße nicht so attraktiv“, ergänzt seine Frau Birgit (40). Das Paar aus Graz ist mit dem kleinen Sohn Julius zu Besuch in Wien, und die drei machen gerade Rast auf einer Bank im Schatten eines von insgesamt 91 Bäumen, die bis 2025 im Zug der Umgestaltung des 2,5 Kilometer langen Straßenzugs neu gepflanzt wurden und werden. Während Julius eine Taube beobachtet, betrachten die Eltern das Ergebnis der Bemühungen der Stadt Wien, aus der grauen Durchzugsstraße in Ottakring einen grüneren, lebenswerten Aufenthaltsraum zu machen: 152 Autoparkplätze werden durch 250 neue Sitzgelegenheiten für Passant:innen ersetzt, neben Bäumen und Pflanzenbeeten gibt es Nebelduschen und Wasserspiele, eine niveaugleiche Gestaltung soll später Begegnungs- oder Fußgängerzonen ermöglichen, nicht zuletzt mittels beweglicher Sitzelemente.
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Ein weiterer wichtiger Schritt war die Reduzierung des Tempolimits von 50 auf 30. Denn wo langsamer gefahren wird, genügt eine geringere Fahrbahnbreite, um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten – und man kann dem ruhenden Verkehr mehr Platz einräumen. Niedrigere Tempolimits erhöhen somit nicht nur die Sicherheit und senken die Lärm- und Schadstoffbelastung, sondern sie können auch das Ortsbild verändern.
Das Potenzial ist noch lang nicht ausgeschöpft
Der 30er in der Thaliastraße ist Birgit und Marius allerdings nicht aufgefallen. Zu dominant ist noch immer der Autoverkehr, auch wenn er keinen eigenen Fahrstreifen hat, sondern sich diesen mit der Straßenbahn teilen muss. Einen Radweg sucht man vergebens. Und was den Lärm betrifft, der durch Tempo 30 ebenso reduziert wird wie die Schadstoffbelastung, so gilt das nur für die vorbeirauschenden Autos und nicht für das Motorrad, das laut vorbeiknattert, während Marius und Birgit von ihrer Heimatstadt Graz erzählen.
Dort wurde bereits vor gut 30 Jahren fast flächendeckend Tempo 30 eingeführt. Und seither hat sich auch das Erscheinungsbild vieler Straßenzüge verändert. „Es ist schon viel begrünt worden. Und wir haben viele Straßen, wo früher ein Auto nach dem anderen durchgedüst ist, und jetzt sind es Begegnungszonen mit Schritttempo“, erzählt Birgit. „Es ist ein gutes Miteinander, man nimmt Rücksicht, man kann sich schön im Freien aufhalten. Es ist ein viel besseres Lebensgefühl, vor allem im Innenstadtbereich.“ Aber das Potenzial sei noch lang nicht ausgeschöpft, meinen die beiden.
Derzeit sind in Graz etwa 80 Prozent aller Straßen – und zwar alle, die keine Vorrangstraßen sind – 30er-Zonen. „An den anderen 20 Prozent arbeiten wir laufend“, sagt dazu die für den Verkehr zuständige Grazer Vizebürgermeisterin Judith Schwentner im Gespräch mit der WZ. Immer wieder werden Vorrangstraßen zu 30er-Zonen heruntergestuft. Seit der jüngsten Novelle der Straßenverkehrsordnung vom 1. Juli 2024 ist das noch einfacher für Gemeinden.
Halb so viele Fahrstreifen, doppelt so viel Platz für Geh- und Radwege
Das derzeit größte Umbauprojekt in Graz ist die Neutorgasse, wo nicht nur Tempo 30 eingeführt wurde, sondern auch die drei bis vier Fahrstreifen auf zwei reduziert wurden. Auf dem gewonnenen Raum gibt es jetzt Grünflächen rund um die bestehenden Bäume, neue Straßenbahnhaltestellen, zwei eigene Radstreifen und doppelt so viel Platz für Fußgänger:innen. Vor der Umgestaltung beanspruchte der motorisierte Verkehr bis zu zwei Drittel der Gesamtbreite der Neutorgasse – jetzt ist es nur noch ein Drittel.
Lebenswerte Straßenräume werden von der Bevölkerung angenommen.Judith Schwentner, Grazer Vizebürgermeisterin
„Es geht immer um die gleichen Dinge: Sicherheit und Lebensqualität im Sinn von Lärmreduktion, Luftverbesserung, Aufenthaltsqualität, Wohlbefinden, Gesundheit“, meint Grünen-Politikerin Schwentner. „Und das kann man immer nur lösen, indem man den Straßenraum neu verteilt: Hat dort ein Radweg Platz, kann man den Gehweg verbreitern, kann man Parkplätze reduzieren zugunsten von Bänken, von Bäumen und anderen schattenspendenden Elementen, vielleicht auch von Trinkbrunnen?“ Sie ist überzeugt: Schafft man lebenswerte Straßenräume, werden diese von der Bevölkerung „gleich angenommen, sobald dort ein Bankerl steht“.
Wie man Autofahrer:innen zwingt, Tempo 30 einzuhalten
„Man kann auch mit wenig Geld baulich viel verbessern“, ist Martin Reis überzeugt. Der Geschäftsführer des Energieinstituts Vorarlberg war vor zehn Jahren involviert, als in Wolfurt der Verkehr komplett neu gedacht und unter anderem Vorarlbergs bisher einzige Begegnungszone auf einer Landesstraße geschaffen wurde. Zusätzlich zu flächendeckendem Tempo 30 – bis auf wenige Verbindungsstraßen – wurden neben Begegnungszonen auch Fahrradstraßen implementiert, die als privilegierte Routen Vorrang gegenüber Autostraßen bekamen. Die Gehsteige wurden verbreitert, Bäume gepflanzt und die Einfahrtssituationen in die 30er-Zonen optisch verändert, „weil sich die Fahrgeschwindigkeit an der Sichtweite und der Straßenbreite orientiert“, erklärt Reis die Psychologie des Autofahrens.
Tempo 30 einzuführen, sollte jedenfalls mehr bedeuten, als bloß ein Taferl aufzustellen. Auch, weil es noch zu oft von Autofahrer:innen ignoriert wird. Schmalere Fahrbahnen oder Grüninseln geben nicht nur dem ruhenden Verkehr mehr Raum, sondern haben auch eine gewisse Bremswirkung. Manche Verkehrsplaner:innen treiben es sogar so weit, die Straßen so zu verengen, dass man überhaupt nur durchkommt, wenn der Gegenverkehr in eine Parklücke ausweicht. Reis ist sicher, dass es noch vielerorts weitere bauliche Veränderungen geben wird: „Gemeinden sind Herdentiere. Was woanders funktioniert, wird gern nachgemacht.“
Bei Tempo 30 geht es darum, mehr Aufenthaltsqualität in die Orte zu bringen.Martin Reis, Geschäftsführer des Energieinstituts Vorarlberg
Jenen, die Tempolimits als Schikane empfinden, hält er entgegen: „Es geht nicht darum, Leuten etwas wegzunehmen oder lästig zu sein, sondern darum, mehr Aufenthaltsqualität in die Orte zu bringen. In Wolfurt hat sich jemand beschwert, dass wir ihm täglich zwei Minuten seiner Lebenszeit stehlen. Tatsächlich sind es 15 Sekunden. Aber es sind 15 Sekunden Zeitverlust für gute Lebensqualität, für mehr Sicherheit, für ein gutes Zusammenleben.“ Und selbst die Begegnungszone auf der vielbefahrenen Landesstraße war am Ende ein Gewinn, betont er. Vorher gab es dort Zebrastreifen und Schülerlotsen, die für Sicherheit, aber auch für Staus sorgten. Da befürchteten Kritiker:innen durch die Begegnungszone einen wahren Verkehrsinfarkt. „Und was ist passiert? Nichts ist passiert, der Verkehr fließt besser als vorher.“
Marius braucht er nicht mehr zu überzeugen. „Ich bin auch als Autofahrer für Tempo 30“, stellt der 31-Jährige klar. „Weil es einfach die Lebensqualität steigert.“ Für Marius steht fest: „Es ist höchste Zeit, dass wir den Fußgängern mehr Raum geben und nicht den Autofahrern.“
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Redakteur Mathias Ziegler wohnt in einer Siedlung am Wiener Stadtrand. Dort wurde vor kurzem flächendeckend Tempo 30 eingeführt – allerdings ohne weitere bauliche Maßnahmen mit Ausnahme bereits bestehender Bodenschwellen an den Ortseinfahrten, weshalb sich zumindest seinem Gefühl nach an der Geschwindigkeit der durchfahrenden Autos wenig geändert hat. Er nahm dies zum Anlass, sich anzuschauen, wie andernorts die Chancen von Tempo 30 genutzt werden, um das Ortsbild zu verändern und dem ruhenden Verkehr mehr Platz einzuräumen.
Gesprächspartner:innen
Birgit Hofer und Marius Algader leben in Graz, sind aber öfter in Wien unterwegs.
Barbara Laa, Verkehrswissenschaftlerin an der Technischen Universität Wien
Martin Reis, Geschäftsführer des Energieinstituts Vorarlberg
Judith Schwentner (Grüne), Vizebürgermeisterin von Graz
Daten und Fakten
Seit 1. Juli 2024 erleichtert eine Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) Österreichs Gemeinden, im Ortsgebiet Tempo 30 flächendeckend einzuführen. Zahlreiche 30er-Zonen sind schon entstanden oder im Entstehen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Tempo 30 erhöht nicht nur die Verkehrssicherheit, reduziert die Lärmbelastung, schafft bessere Bedingungen für den Fuß- und Radverkehr durch leichtere Querungsmöglichkeiten und erhöht somit die Lebensqualität, sagt Barbara Laa, Verkehrswissenschaftlerin an der Technischen Universität Wien. „Studien in Graz und Deutschland zeigen, dass durch die Einführung von Tempo 30 statt 50 auch Schadstoffemissionen gesenkt wurden und der Verkehrsfluss verbessert wurde.“ Nicht umsonst spricht der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) von „low hanging fruits“ im Klimaschutz, weil hier mit einer einfachen Maßnahme leicht Emissionen reduziert werden können. Das beweist etwa die spanische Stadt Pontevedra, wo seit dem Jahr 2009 Tempo 30 gilt und das Gehen Vorrang hat. Hier konnten die CO₂-Emissionen um 70 Prozent reduziert werden. Und Tempo 30 kann auch das Ortsbild verändern, wie zahlreiche Beispiele von Graz bis Wolfurt zeigen.
Erschreckend sind allerdings die Zahlen, die das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) jüngst veröffentlicht hat. Dieses führt an 230 Stellen in ganz Österreich mit kleinen Seitenradargeräten insgesamt rund 23 Millionen Geschwindigkeitsmessungen pro Jahr durch. Das Ergebnis: Zwar hat die Bundespolizei zuletzt mit 6,12 Millionen Geschwindigkeitsüberschreitungen pro Jahr so viele wie noch nie angezeigt beziehungsweise als Organstrafverfügungen geahndet. Insgesamt dürfte sich aber die Verkehrsdisziplin in Österreich verbessert haben. Laut KFV ist seit den ersten Erhebungen im Jahr 1984 die Anzahl der freifahrenden (also nicht durch Fahrzeuge vor ihnen gehemmten) Pkw, die die jeweiligen Tempolimits von 30 km/h, 50 km/h und 70 km/h überschreiten, langsam, aber stetig gesunken. Allerdings sind 72 Prozent der Pkw in 30er-Zonen zu schnell unterwegs; bei 0,1 Prozent von 1,5 Millionen Messungen waren es mehr als 70 km/h – den negativen Rekord stellte ein Autofahrer mit 159 km/h auf. Weil sich 65 Prozent aller Verkehrsunfälle mit Toten oder Verletzten im Ortsgebiet ereignen und zu den Hauptursachen „nichtangepasste Geschwindigkeit“ gehört, fordert das KFV eine Regelumkehr: Tempo 30 als generelles Tempolimit im Ortsgebiet und nur, wenn es die Verkehrssicherheit zulässt, eine Erhöhung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 50.
Quellen
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: Thaliastraße: Die autogerechte Begrünung
Kronen Zeitung: Umfrage: Nur 19 Prozent für Tempo 30 im Ortsgebiet
Kleine Zeitung: Gemeinden fahren besser mit mehr Tempo 30
KFV: 72 Prozent der Pkw fahren in Tempo-30-Zonen im Ortsgebiet zu schnell