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The end of the world aber eh wie immer

4 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zu einem feministischen Thema in der WZ.
© Illustration: WZ

Auch beim Weltuntergang sind alle gleich aber manche sind gleicher.


    • Über 351 Mio. Frauen und Mädchen leben bis 2030 voraussichtlich in extremer Armut.
    • Extreme Armut: weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag zum Überleben.
    • 676 Mio. Frauen und Mädchen leben nahe oder in Konfliktzonen (höchster Wert seit 1990).
    • In Ländern mit umfassenden Maßnahmen ist häusliche Gewalt 2,5-mal niedriger.
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Krisenzeiten sind Backlashzeiten. Das war immer so und das ist auch jetzt so.

In Zeiten, in denen Russland NATO-Luftraum verletzt und europäische Sicherheitsinfrastruktur testet, die USA immer weiter in Richtung Autokratie abdriftet, in Zeiten, in denen wir mit dem Fuß auf dem Gaspedal und mit vollem Tempo auf eine Klimakatastrophe zurasen, in der Wohnraum und Lebensmittel dank Inflation so gut wie unleistbar geworden sind und immer mehr Menschen in Armut leben, in denen das Weltgeschehen insgesamt von Kriegen und Krisen geprägt sind, verschwinden gleichstellungspolitische Anliegen zusehends von der Agenda. Gleichstellungspolitische Entwicklungen und feministische Analysen der Entwicklungen verschwinden aus der medialen Aufmerksamkeit.

Krisen und Backlash

Dabei wäre gerade jetzt eine feministische Linse auf Gegenwartsprobleme und Gegenwartskrisen besonders wichtig. Denn: sowohl Kriege und bewaffnete Konflikte, als auch die Klimakrise, als auch steigende Preise und steigende Armut, als auch Angriffe auf demokratische Grundfesten treffen nicht alle gleich – und Frauen gehören meist zu jenen, die in besonderem Maße, in spezifischer Weise und früher darunter leiden. Wenn die Welt untergeht, geht sie eben auch nicht für alle gleich schnell unter und nicht für alle auf die gleiche Art und Weise. Auch beim Weltuntergang sind manche gleicher als andere. Und das Patriarchat, das uns die Misere ja überhaupt erst eingebrockt hat, schlägt beim Weltuntergang noch mit besonderer Gewalt zu.

Der Gender Snapshot Report

Mitte September erschien der „Gender Snapshot“ Report der UN und wie das so ist während des Weltuntergangs hat niemand Zeit sich mit derart gleichstellungspolitischem Firlefanz rumzuschlagen. Medial ist die Sache deshalb weitestgehend untergegangen, im deutschsprachigen Raum war kein einziger Medienbericht dazu auffindbar, nur dem britischen Guardian war die Angelegenheit Berichterstattung wert. Der Bericht beinhaltete unter anderem die Feststellung, dass von den Gleichstellungszielen der UN, die bis 2030 (also in exakt 5 Jahren) erreicht werden sollten kein einziger Indikator auf Kurs ist. In anderen Worten: voraussichtlich wird kein einziges der Ziele erreicht werden. An vielen Fronten wird die Lage für Frauen und Mädchen weltweit aktuell schlimmer statt besser. (Krisenzeiten sind Backlashzeiten, aber niemand hat Zeit, dem Backlash etwas entgegenzuhalten, weil alle mit Krise beschäftigt sind und dabei vergessen, dass es Frauen gibt.)

Armut

Ein besonderes Problem stellt die steigende Armut dar: wenn wir auf dem Kurs bleiben, auf dem wir uns befinden, leben bis zum Ende dieses Jahrzehntes mehr als 351 Millionen Frauen und Mädchen in extremer Armut. „Extreme Armut“ ist im Übrigen ein genau definierter Begriff und bedeutet, dass Menschen pro Tag weniger als 2,15 US-Dollar zur Verfügung haben. Diese 2,15$ sind allerdings auch das absolute Minimum, das ein Mensch zum Überleben braucht – zum Überleben, nicht zum Leben. Bis Ende des Jahrzehntes werden also mehr als 351 Millionen Frauen und Mädchen weniger haben als sie zum reinen Überleben benötigen.

Sarah Hendriks, die Präsidentin der Politikabteilung von UN Women fasst die Situation im Guardian mit den Worten „Stagnation und Regression“ zusammen, denn neben der Tatsache, dass schon seit Jahrzehnten zu wenig für Gleichstellung getan wurde (Stagnation), findet jetzt auch noch ein Backlash statt (Regression), der hart erkämpfte Rechte zurückfährt.

Kriege und Gewalt

Kriegerische Konflikte verschärfen die Situation zusätzlich, denn 676 Millionen Frauen und Mädchen leben nahe von oder in Konfliktzonen. Das ist die höchste Zahl seit 1990. Und: Frauen sind auch in höherem Maße von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Gleichzeitig bleibt Gewalt gegen Frauen eine der größten globalen Bedrohungen für sie: in Form von Genitalverstümmelungen, in Form von Kinderheirat und in Form von häuslicher Gewalt. Bei letzterer zeigt sich allerdings, dass umfassende Maßnahmen gegen sie Wirkung zeigen: In jenen Ländern, in denen weitreichende Maßnahmen gegen häusliche Gewalt gegen Frauen gesetzt wurden, ist sie 2,5-mal niedriger als in Ländern, die das nicht getan haben.

Das ist die gute Nachricht: Gewalt ist kein Naturgesetz, man kann etwas gegen sie unternehmen und die Maßnahmen wirken auch, so sie umfassend genug sind. Dazu ist es allerdings nötig, frauen- und gleichstellungspolitische Maßnahmen wieder auf die Spitze der politischen Agenda zu setzen.

Davon würden Gesellschaften in ihrer Gesamtheit profitieren. Und vielleicht ließe so sich der Weltuntergang ja sogar noch aufhalten.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

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