Der Musiker und Kabarettist Günther Paal hat das Asperger-Syndrom. Im Interview erklärt er, warum das für ihn kein Leiden ist.
Günther Paal alias Gunkl ist bekannt für geistige Höhenflüge, gepackt in Schachtelsätze, die er auf der Kabarettbühne mit seinem Publikum teilt. Privat hat er aber am liebsten kein Gegenüber. Weil er – so wie schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung – im Autismus-Spektrum lebt, genauer gesagt hat er das Asperger-Syndrom, allerdings eine leichte Form. Die WZ hat mit ihm darüber gesprochen, ob ihn das belastet und wie er im Alltag damit umgeht.
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Von dir stammt der Satz: „Ich habe das Asperger-Syndrom, aber ich leide nicht daran – das tun andere.“ War das nur eine gute Pointe oder eine Tatsachenfeststellung?
Ich habe das Asperger-Syndrom, so wie ich rote Haare habe oder Schuhgröße 43. Für mich ist es einfach eine Wesensart, eine Gemütseigenheit. Ich betrachte es auch nicht als Behinderung, im Gegenteil. Wenn ich mir vorstelle, so viel zu fühlen wie andere, das würde mich hochgradig irritieren.
Dir fehlt also nichts?
Man muss dazu sagen, da gibt es ja verschiedene Abstufungen und Ausprägungen. Bei mir ist es deutlich, aber zart. Ich bin durchaus in der Lage, Gespräche zu führen. Ich bin auch imstande, auf ein Fest zu gehen und mich dort so zu benehmen, dass ich kein raumfüllendes Augenrollen verursache. Ich kann mich also unter Menschen bewegen – aber wenn ich allein bin, geht es mir eigentlich besser. Kontakt mit Artgenossen habe ich bevorzugt themenzentriert. Jemanden einfach so zu treffen, das gibt es bei mir bloß mit zwei, drei Leuten.
Aber gehst du wirklich lieber zum Zahnarzt als auf ein Fest, wie du vor ein paar Jahren in einem Kabarettprogramm erklärt hast?
Ja.
Auch wenn er bohrt?
Beim Zahnarzt gibt es einen Grund, warum man hingeht. Was geschieht, ist richtig – ich unterstelle jetzt einmal, dass der Zahnarzt weiß, was er tut –, und nachher ist es besser als vorher, und zwar dauerhaft. Das ist beim Fest nicht der Fall. Ich habe mir aber mittlerweile angewöhnt, dass ich nicht die Verpflichtung in mir spüre, dass ich auf einem Fest länger bleibe, als ich will.
Wie würdest du deine Haltung gegenüber deinen Mitmenschen beschreiben?
Ich möchte niemanden beleidigen, und ich möchte niemandem Anlass geben, schlecht über mich zu denken. Wenn ich den anderen wurscht bin, denke ich mir: großartig. Ich muss auch niemanden beeindrucken. Ich bin mit mir zufrieden und kann mit dem, wie ich bin, sehr gut leben. Ich will niemand anderer sein. Aber ich habe eben auch keine Härtefallausprägung. Ich bin mit beiden Beinen drüben, wo die Neurotypischen, also die „Normalen“, daheim sind, aber mit dem Rücken an den Zaun gelehnt, der die beiden Bereiche trennt. Man kann andere leichter gelten lassen, wie sie sind, weil man ja bemerkt, dass man selbst anders ist. Die Idee, dass Menschen verschieden sind, ist da im Weltbild intrinsisch eingebaut. Wenn ich weiß, ich bin anders, dann gehe ich davon aus, dass andere auch anders sind. Und zwar nicht nur anders als ich, sondern auch anders als alle anderen. Da muss ich schauen: Wie funktioniert das Gegenüber? Was hat es an Vorlieben, Abneigungen, Entwürfen, Hoffnungen, Befürchtungen? Dann kann ich mich damit arrangieren. Wenn man hingegen in der Idee lebt, dass wir alle gleich sind, und jedem seine eigenen Motive, Handlungsabsichten und Vorgehensweisen unterstellt, wird es echt problematisch. Leute im Autismus-Spektrum kommen übrigens sehr gut miteinander aus, weil sie um das Konzept von Grenzen wissen und sie respektieren. Wenn ich mich von jemandem abgrenze, dann ist das kein feindseliger Akt, sondern im Gegenteil eine Vorgehensweise, die als Idee hat, ein zumindest freundliches und höfliches Miteinander zu gewährleisten.
Ich bin mit mir zufrieden und kann mit dem, wie ich bin, sehr gut leben.Günther Paal alias Gunkl
Damit sind wir mitten in deinem aktuellen Programm, das sich um Zwischenmenschliches und Toleranz dreht. Bist du womöglich toleranter, weil du niemandem dein Schema aufzwingen willst, und sei es aus Wurstigkeit?
Ob das jetzt tolerant ist, weiß ich nicht, aber ich habe auf jeden Fall viel Federweg. Das ist jetzt aber keine Eigenschaft, die auf der glorreichen Seite steht. Ich lasse andere dort, wo sie sind, und habe kein grundsätzliches und für mich existenzielles Interesse, diesen Menschen in mein Leben einzubauen. Wenn er oder sie etwas anders sieht oder macht oder will als ich, erachte ich das nicht als Verrat an mir und meinem Weltbild. Viele nehmen das Leben, vor allem das eigene, viel zu persönlich.
Du hast einmal gesagt, du willst nicht, dass andere von dir etwas wollen können. Bist du trotzdem hilfsbereit?
Ja, schon. Mir ist es ein Anliegen, dass geholfen wird. Das hat aber mit mir nichts zu tun. Ich möchte in einer Welt leben, in der man einander hilft. Und da muss jemand gar nicht mein Freund sein. Wenn ich sehe, dass jemand etwas braucht, was ich leicht beibringen kann, dann mache ich das. Wenn mich jemand fragt, ob ich ihn heute mit dem Auto nach Wels fahren kann, und ich habe Zeit, dann fahren wir halt. Weil es geht und weil es gut ist, wenn man jemandem hilft.
Zum Auto hast du ja eine ganz besondere Beziehung, wie man hört.
Wenn ich Auto fahre, bin ich Teil einer sehr eigenartigen Gemeinschaft: Alle um mich herum haben sich durch Erwerb des Führerscheins darauf geeinigt, dass sie sich an die Straßenverkehrsordnung halten. Und alle halten Abstand zu mir, damit es nicht scheppert. Im Sommer fahre ich immer für ein bis zwei Wochen nach Hannover zum Schmieden. Ich setze mich ins Auto und fahre einfach einmal Richtung Norden, quer durch Deutschland. Irgendwo lande ich dann. Ich sitze allein im Auto, die Tür ist zu, die Welt ist draußen. Das mag ich überhaupt im Sommer: Zwei Monate lang will niemand irgendwas von mir. Ich weiß, es kommt keine Post, es ist kein Auftritt, es gibt keinen Anruf, keiner sagt: „Schau vorbei und machen wir was.“
Das heißt, Urlaub ist für dich Nicht-Müssen?
Ja. Wenn ich zum Beispiel nach Berlin fahre, dann nehme ich mir ein Hotelzimmer für drei Tage. Ich könnte mir jeden Tag Berlin anschauen, stattdessen kugle ich drei Tage auf dem Bett herum. Ich könnte, aber ich muss nicht. Ich setze mich unter keinen Erlebnisdruck. Irgendwann gehe ich dann schon durch die Stadt, aber ohne Zwang.
Widerspricht das planlose Herumfahren im Auto nicht dem Bedürfnis nach Strukturen, das man vom Autismus-Spektrum kennt?
Man hat gewisse Strukturen, ja, aber das zieht sich nicht über alles. Mein Leben ist kein Millimeterpapier. Wenn du dir meinen Schreibtisch anschaust: Ich finde, was ich suche, aber strukturiert ist das nicht.
Eine Inselbegabung hast du auch nicht, oder?
Nein, leider nicht.
Das heißt, du hättest gern eine? Welche denn?
Echt gut Musik machen zu können. Allerdings sind die musikalischen Genies alle sehr fleißig, während ich sehr faul bin. Also, wenn etwas gehen muss, übe ich es, bis ich es kann. Aber nicht darüber hinaus.
Wie bist du eigentlich zu deiner Asperger-Diagnose gekommen?
Ich habe im Fernsehen einen Bericht über Autisten gesehen und mir gedacht: Ja, das bin ich. Da bin ich dabei. All das verstehe ich aus tiefstem Herzen. Dann habe ich irgendwann einen Fragebogen ausgefüllt, den eine Asperger-Angehörigenvereinigung ins Netz gestellt hat, und da war ich auch voll drin.
Hast du es auch medizinisch diagnostizieren lassen?
Nein, weil ich mein Leben bis dahin schon so gelebt habe, wie ich es leben will. Ich weiß nicht, was anders sein soll, wenn mir ein Arzt sagt, was ich bin.
Wie geht aus deiner Sicht unsere Gesellschaft mit Autismus um? Ist es ein Tabuthema?
Nein. Eine Zeit lang war es sogar sehr hip, in der Hoffnung, dass das Kind hochbegabt sein könnte. Tabu ist es jedenfalls keines. Man ist halt so. Man ist deshalb kein moralisch schlechter Mensch. Und zumindest als Aspergerianer ist man auch nicht lebensuntüchtig. Nur Menschen mit Helfer-Syndrom haben da halt Pech. Wer neurotypisch ist, versteht die Denkwelt von Aspergerianern nicht unbedingt. Ich habe einmal in einem Interview gesagt: Unter Menschen bin ich im Ausland. Bei einem Autismus-Asperger-Symposium war ich aufs Podium eingeladen. Und da sitzt dann jemand, der beruflich die Autisten-Aspergerianer betreut und sagt ernsthaft, er versteht diesen Satz nicht. Denn wenn ich ins Ausland gehe, dann nehme ich doch meine Freunde mit. Da habe ich mir gedacht: Und du betreust Leute wie mich? Genau um das geht es doch, dass man sich fühlt, als wäre man allein in der Fremde, wo man sich erst einmal orientieren muss.
Wie ist es dir in der Schule gegangen?
Es war in Ordnung. Für mich war die Schule immer etwas, wo ich hineingehe und nach so und so vielen Jahren wieder hinausgehe. Bis dahin muss ich regelmäßig da sein, und dann ist das hinter mir.
Und in der Klassengemeinschaft? Hast du Ausgrenzung oder gar Mobbing erlebt?
Wenn, dann habe ich mich ausgegrenzt. Ich war halt nicht mit dabei. Irgendwann war ich goschert genug, um zu wissen, was ich wie wo setzen muss, um einen Status zu haben, der da lautet: Mich lasst’s ang’lehnt, und dann wird’s gut sein.
Gleichzeitig hast du dir ein soziales Verhalten angeeignet, um nicht negativ aufzufallen.
Ja, und das funktioniert. Es gibt ja affektive Empathie und kognitive Empathie. Bei der affektiven Empathie fühlt man, was der andere fühlt, was aber ein Blödsinn ist, weil man da von sich auf den anderen schließt. Bei der kognitiven Empathie weiß man, dass der andere etwas fühlt, und man schaut, ob und wie man ihm helfen kann, aber auf Distanz, da ist kein eigener Filter vorgeschaltet. Das ist ein bisschen analytischer und manchmal hilfreicher.
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Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.
Gibt es Situationen, die dich überfordern?
Ja. Es gibt durchaus Verhaltensweisen, wo ich mir wirklich viel überlegen muss, wenn es mich denn interessiert, wie es dazu kommt. Also, ja.
Fazit: Du bist allein, aber nicht einsam?
Ja, mein Alleinsein ist in eine rein numerische Veranstaltung, absolut emotionsbereinigt. Ich war aber 36 Jahre lang in einer Beziehung mit einer Frau, die vor ein paar Jahren an Krebs gestorben ist. Also ich bin schon auch paarfähig. Dass Autisten überhaupt keine Gefühle haben, stimmt ja nicht. Sie haben die halt sortiert, geschlichtet, und der Ausschlag ist nicht so groß. Und das Gefühl ist dann auch nicht, sobald es auftaucht, ein handlungsbestimmendes Element.
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Infos und Quellen
Genese
Vor kurzem erreichte die WZ-Redaktion ein E-Mail von einem knapp Zwanzigjährigen, der fragte, ob wir nicht im Rahmen der Berichterstattung über psychische Erkrankungen auch einmal über Autismus schreiben könnten. Er selbst lebt seit 2015 mit der Diagnose Asperger-Syndrom. Wir haben diese Anregung mit Freude aufgegriffen und nun mit Günther Paal alias Gunkl über sein Leben im Autismus-Spektrum gesprochen.
Gesprächspartner
Günther Paal wurde 1962 in Wien geboren und wuchs im 10. Bezirk auf. Seinen Künstlernamen Gunkl verdankt er seinem Bruder, der Günther nicht aussprechen konnte. Der gelernte Reprofotograf war zwölf Jahre als Kellner in Wiener Lokalen tätig, ehe er als Kabarettist hauptberuflich Fuß fasste. Zunächst als Saxofonist und Bassist in Alfred Dorfers Band, trat er bald auch alleine auf. Außerdem ist er ein Mitglied der Science Busters und steht – oder besser gesagt: sitzt – regelmäßig zu zweit mit Gerhard Walter in „Herz und Hirn“ auf der Bühne. Sein aktuelles, vierzehntes Soloprogramm „Nicht nur, sondern nur auch“ hatte im September 2023 Premiere.
Daten und Fakten
Autismus oder Autismus-Spektrum-Störung (ASS) Autismus wird im Allgemeinen als eine Störung der Gehirnentwicklung definiert. Diese äußert sich vor allem in Problemen bei der sozialen Interaktion mit anderen Menschen, Auffälligkeiten bei der verbalen und nonverbalen Kommunikation, stereotypen Verhaltensweisen und einseitigen Interessen. Der Begriff wurde geprägt vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, der ihn 1911 zum ersten Mal im Rahmen seiner Studien zur Schizophrenie verwendete.
Autismus wurde lang in Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, High-Functioning-Autismus und Atypischer Autismus unterteilt. Heute sieht die Wissenschaft Autismus als Spektrum, da es in der Praxis oft nicht möglich ist, die verschiedenen Typen eindeutig zu unterscheiden. Und der Begriff Autismus-Spektrum zeigt, dass es zwar bestimmte gemeinsame Merkmale gibt, die Ausprägung aber nicht bei allen gleich ist. Betroffen ist davon schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung. Bei Buben tritt Autismus viermal häufiger auf als bei Mädchen.
Viele Kinder mit Störungen im Autismus-Spektrum fallen durch ständige motorische Unruhe auf, sie sind impulsiv und können sich oft nur schwer konzentrieren (vergleichbar einer Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung). Angststörungen und Depressionen treten ebenfalls gehäuft auf, auch bei Jugendlichen und Erwachsenen.
Auch wenn man landläufig Autismus mit einem Mathematik- oder Musik-Genie verbindet (dazu hat auch der Film „Rain Man“ mit Dustin Hoffman als Zahlen-Koryphäe beigetragen), reicht die intellektuelle Bandbreite von geistiger Behinderung über normal intelligent bis Inselbegabung (außergewöhnliche Fähigkeiten in einem speziellen Gebiet, in dem es nicht um soziales Verständnis geht).Das Asperger-Syndrom zeigt sich besonders stark durch Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen – Blickkontakt wird vermieden, Körpersprache weder eingesetzt noch beim Gegenüber gelesen. Intellekt oder Sprache sind selten betroffen. Auch das Asperger-Syndrom tritt bei Buben häufiger als bei Mädchen auf. Bei Kindern findet man aber ebenso wie beim Autismus ADHS, Angststörungen oder Depressionen.
Der Begriff bezieht sich auf den österreichischen Kinderarzt Johann Asperger, der das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom als Erster beschrieben hat.
Erwachsene mit Asperger-Syndrom leben oft als Einzelgänger, soziale Interaktion fällt ihnen schwer. Ängste, Panikattacken oder Depression kommen oft vor. Viele sind jedoch aufgrund ihrer Erfahrungen in der Lage, Mechanismen zu entwickeln, mit schwierigen Situationen gut zurechtzukommen.
Autismus ist nicht heilbar, die Symptome können sich jedoch im Lauf der Zeit ändern.Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht nach ihren Diagnosekriterien Autismus nicht als Behinderung, sondern als psychische Störung. Es gibt allerdings Studien, die besagen, dass rund 70 Prozent der Menschen im Autismus-Spektrum auch eine geistige Behinderung haben. In Österreich gilt Autismus als Behinderung, wird jedoch in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt. Je nach Kategorie ist due Ausstellung eines Behindertenausweises möglich. Informationen und Hilfe gibt es unter anderem beim Dachverband Österreichische Autistenhilfe.
Quellen
Das Thema in der Wiener Zeitung
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: Autisten in Österreich nach wie vor unterversorgt
Der Standard: Gunkls neues Programm übers Tolerieren-Können und Müssen-Wollen
Hinterzimmer: Günther Paal alias Gunkl: „Der Klügere gibt besser nicht nach“
NDR: „Die Autistinnen“: Einfühlsame Aufklärung über Autismus (Video)
ARD alpha: Autismus - Eine Welt für sich? (Video)
Brutkasten: Amazing 15: Wiener Startup macht Autismus, ADHS und Co. zum Vorteil bei der Jobsuche
Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Autistin
Watson: „Dachte, ich bin eine Fehlfabrikation“ – autistische Frauen leiden unter späten Diagnosen
Healthline: Understanding Why the Term „Asperger’s“ Is No Longer Used