Projekttage und Themenblöcke für mehr Selbständigkeit beim Lernen: Wie unser Schulsystem revolutioniert werden könnte.
Fünfzig Minuten Deutsch, fünf Minuten Pause, fünfzig Minuten Mathematik, zehn Minuten Pause, fünfzig Minuten Biologie, eine Viertelstunde Pause, fünfzig Minuten Englisch, zehn Minuten Pause, fünfzig Minuten Physik, fünf Minuten Pause, fünfzig Minuten Latein – so sah ein typischer Schultag an einem österreichischen Gymnasium vor fünfzig Jahren aus. Und so sieht er auch heute noch aus. „Dabei ist längst bewiesen, dass ein konzentriertes Lernen schwierig ist, wenn man so viele kurze verschiedene Einheiten hintereinander hat und eine Fortsetzung teils erst eine Woche später oder bei Feiertagen noch weiter weg stattfindet“, sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel.
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Dazu passt das bekannte Zitat des Schulpädagogikprofessors Peter Pauling: „Wir sind Schüler von heute, die in Schulen von gestern mit Lehrern von vorgestern und Methoden aus dem Mittelalter auf die Probleme von morgen vorbereitet werden.“ Auch wenn Spiel sich dem nur eingeschränkt anschließen kann, kritisiert sie, dass die Art, wie an unseren Schulen unterrichtet wird, als selbstverständlich hingenommen wird. Ebenso die Struktur unseres Bildungssystems, ergänzt Ernst Smole, der einen „Bewegungs- und Unterrichtsplan für Österreich 2030“ koordiniert. Die Fünfzig-Minuten-Stunden dauern genauso lange wie einst die Exerziereinheiten der Habsburger-Armee; und die Schulverwaltung ist immer noch für eine 52 Millionen Einwohner:innen zählende Monarchie ausgelegt. Laut einer Vergleichsstudie aus dem Jahr 2015 müsste Österreich sogar eine Bevölkerung von 66 Millionen haben, um die Kosten unseres Schulsystems zu legitimieren, rechnet Smole vor.
Flächenfächer als Weg zu einem besseren Stundenplan
Mehr als hundert Jahre nach dem Ende der Monarchie in Österreich täte ein Umdenken beim Stundenplan not. Jedoch scheitern die meisten Reformversuche an den Zwängen, in denen unser Schulsystem insbesondere in Mittelschule und Gymnasium gefangen ist. Solange die Lehrpersonen in den verschiedenen Fächern von Klasse zu Klasse gehen, wird sich wenig ändern lassen. Und je weniger Stunden sie pro Klasse haben, desto mehr Klassen werden ihnen zugeteilt und desto komplizierter ist die Stundenverteilung.
Ein Lösungsansatz wären sogenannte Flächenfächer, meint Spiel. Das bedeutet, bestehende Fächer, zum Beispiel Physik, Chemie und Biologie, unter dem Dach „Naturwissenschaften“ zusammenzufassen. „Das wird dann von den zuständigen Fachlehrkräften im Team erarbeitet und gemeinsam oder im Wechsel unterrichtet, sodass man diese Stunden bündeln kann.“ Also keine drei Einzelstunden, sondern ein dreistündiger Block, in dem ein Thema ausführlich behandelt wird und verschiedene Disziplinen zusammengebracht werden. Da die Einführung neuer Schulfächer zumeist zu Stellungskriegen der Vertreter:innen der bestehenden Fächer führt, schlägt die Bildungspsychologin vor, diesen Weg zu gehen. „Es ist besser, man durchforstet und entrümpelt die bestehenden Lehrpläne und bringt neue Inhalte hinein, statt neue Fächer zu erfinden.“
Themenblöcke statt jede Stunde ein anderer Lernstoff
Sie hat schon vor Jahren vorgeschlagen, die Struktur des Unterrichts völlig zu ändern, indem man, nach dem Erwerb des Basiswissens in den verschiedenen Fächern, dieses Wissen primär themenbezogen praktisch anwendet. „Da könnte man zum Beispiel die Entwicklung von Wäldern über einen gewissen Zeitblock hinweg behandeln, und es tragen alle Fächer, die dazu passen, etwas bei. Das könnte entweder in den bestehenden Stunden stattfinden oder man würde überhaupt einen ganzen Waldtag machen.“ Und dann gäbe es auch Hausaufgaben zu diesem Thema und nicht lauter verschiedene zu den unterschiedlichen Fächern. Denn auch das ist ein Problem im Schulalltag, die Vermischung von Lernstoff am Nachmittag daheim.
Spiel möchte wegkommen vom abstrakten Faktenwissen und „in der Schule Themen aufmachen und von allen Seiten beleuchten, die in unserer Welt wichtig sind“. Die Schüler:innen sollen dabei auch lernen, wie sie an solche Themen herangehen. Selbst Suchmaschinen oder ChatGPT könnten dabei sinnvoll eingesetzt werden. „Und alles, bei dem man selbst aktiv etwas tut, lernt man besser.“ Und weil man sich auch Stoff, den man selbst interessant findet, leichter aneignet, als wenn es bloß ums schulische Überleben geht, fordert Spiel ebenso wie Smole eine Trennung zwischen Pflicht und Kür, also zwischen der Basis für alle und den individuellen Vertiefungen. Dadurch bekäme auch unsere Gesellschaft insgesamt mehr Wissen, ist die Bildungspsychologin überzeugt.
„Verantwortung“ und „Herausforderung“ als Schulfächer
Insbesondere für das Angstfach Mathematik propagiert Smole eine Splittung in verpflichtende alltagsbezogene Basismathematik und Höhere Mathematik für Interessierte. Sein Ziel ist, wieder zum bewertungsfreien Dialog frei nach Sokrates zurückzukommen. „Das so erfolgreiche und überzeugende Prinzip des schulischen Erkenntniserwerbs durch das beurteilungsfreie, wechselseitige Fragen und Antworten durch Lernende und Lehrende ist durch unglückliche Umstände zum gefürchteten Prüfungs- und Beurteilungsinstrument verkommen.“
Was hier alles möglich ist, zeigt etwa die Evangelische Schule Berlin Mitte/Zentrum, die das Fach „Verantwortung“ eingeführt hat: Jede:r Schüler:in muss sich selbst eine Aufgabe suchen, die über ein ganzes Schuljahr hindurch an zwei Stunden in der Woche erfüllt wird. Zum Beispiel werden Flüchtlingsheime besucht, kleinere Kinder in Sportvereinen trainiert, ältere Personen unterstützt und vieles mehr. Im neuen Fach „Herausforderung“ organisieren die Kinder in Kleingruppen selbständig eine Reise. Die Bildungspsychologin ist von diesem Fach richtig begeistert: „Erstens ist es sozial. Zweitens erlebe ich, was ich kann – das sind vor allem für ‚schlechte‘ Schüler:innen ganz wichtige Erfolgserlebnisse. Unser Schulsystem schaut zu viel auf die Fehler und versucht sie zu vermeiden, statt die Stärken zu betonen und hervorzuheben, was alles gelingt. Da ist bei uns durchaus Luft nach oben.“
Vertiefendes Lernen und Selbstorganisation als Brücke zur Uni
Zurück zum vertiefenden Lernen, bei dem die Lehrkräfte als Coaches fungieren sollten. Damit könnte auch schon eine Brücke zur Uni geschlagen werden, „wo man ja dann das studieren wird, was einen interessiert“, regt Spiel an. Gerade mit Blick auf ein späteres Studium, aber auch auf die Arbeitswelt insgesamt bräuchte es mehr Selbständigkeit im Unterricht. Diese lernen die Kinder zwar in der Volksschule, wo Freies Lernen inzwischen an der Tagesordnung ist und eine einzelne Lehrkraft einen ganzen Vormittag zur individuellen Gestaltung zur Verfügung hat – doch damit ist es dann in Gymnasium oder Mittelschule vorbei. Dort teilt ein strikter Stundenplan den Vormittag und häufig auch den Nachmittag minutengenau ein. Und nach der AHS-Matura steht man an der Uni wie der sprichwörtliche Ochs vorm neuen Tor und ist angesichts der Fülle von Lehrveranstaltungen, Lernstoff und Arbeitsaufgaben förmlich verloren, weil man acht Jahre lang verlernt hat, sich selbst zu organisieren. Zeitplanung, Selbstorganisation, soziales Lernen, Gewaltprävention – wer fühlt sich dafür verantwortlich? Das müsste eigentlich in allen Fächern vorkommen und nicht bloß beim Klassenvorstand, meint Spiel, „stattdessen findet es oft gar nicht statt.“
Das Problem bei so gut wie allen neuen Ansätzen im Schulsystem sieht Spiel darin, dass es zwar „schon Schulen gibt, die hier etwas tun, aber das sind dann die wenigen Vorzeigeschulen, auf die die Politik verweist. Aber auch hier wird die Wirksamkeit von neuen Maßnahmen höchst selten evaluiert. Und gerade die Kinder, die sich schwertun und die solche Projekte bräuchten, gehen meist in Schulen, wo wenig oder nichts passiert.“ Eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Schule bedeutet für Lehrpersonen sicherlich mehr Arbeit. „Aber sie hätten auch mehr Erfolgserlebnisse. Daher sollten Mitarbeit und Mitverantwortung zum Selbstverständnis jeder Lehrpersonen gehören.“
Jetzt schon am Schulsystem des Jahres 2050 arbeiten
Oft werden die Schulsysteme der skandinavischen Länder als vorbildhaft gelobt. Was man dabei nicht vergessen darf: Dort wurde in den 1990ern mit der Umstellung begonnen, „das hat 25 bis 30 Jahre gedauert“, sagt Spiel. Wir müssten also jetzt damit beginnen, am Schulsystem des Jahres 2050 zu arbeiten. „Aber die Politik greift so komplexe Dinge, wo wenig zu gewinnen ist, nicht gerne an. Und die Öffentlichkeit glaubt, nur weil eine Reform gestartet wird, dass sofort alles besser wird. Aber das dauert Jahre bis Jahrzehnte, bis es entwickelt ist und greifen kann. Und wenn es dann so weit ist, verbindet die Öffentlichkeit es nicht mehr mit der seinerzeitigen Reform.“ Um das der Öffentlichkeit klarzumachen, müsste diese mehr in die Prozesse eingebunden werden, meint Spiel.
Wie mühsam eine Veränderung durchzusetzen ist, das ist auch Smole bewusst: „Es braucht das plangeleitete, von Revierdenken, Berührungsängsten, Dünkel, Versagensangst und Hoffnungslosigkeit befreite Zusammenwirken einer Vielzahl von Wissenschaftsdisziplinen, aller Ebenen der Politik, der Sozialpartner, der Zivilgesellschaft und ganz besonders der Akteur:innen der täglichen Schulpraxis – quer über alle Unterrichtsfächer, seien es traditionelle oder neu erdachte. Man weiß heute alles, was zu tun ist.“ Man müsste es nur endlich umsetzen.
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Infos und Quellen
Genese
Mit dem neuen Schuljahr wird es für den Sohn von WZ-Redakteur Mathias Ziegler auch wieder einen neuen Stundenplan geben. Und damit einher gehen wird wohl wieder eine unterschiedliche Auslastung an den verschiedenen Tagen in Bezug auf Hausaufgaben und Lernen für Tests. Da drängt sich die Frage auf, wie zeitgemäß die Stundenpläne an unseren Höheren Schulen eigentlich noch sind. Die kurze Antwort: Gar nicht. Die lange Antwort gibt der vorliegende Text.
Gesprächspartner:innen
Ernst Smole war Berater der Unterrichtsminister Fred Sinowatz, Helmut Zilk und Herbert Moritz. Er ist Musikkindergärtner und Koordinator eines „Bewegungs- und Unterrichtsplans für Österreich 2030“.
Christiane Spiel ist Professorin für Psychologie an der Universität Wien mit Schwerpunkt Bildung. Davor war sie unter anderem AHS-Lehrerin sowie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und an der Universität Graz tätig.
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: Lernen von morgen: Wo Österreichs Bildungssystem saniert gehört
Kleine Zeitung: Warum es so schwer ist, in Österreich das Schulsystem zu reformieren
RTL-Jugendreporter: Ist unser Schulsystem veraltet?
Perspective Daily: Herr Lehrer, mir ist langweilig. Wo bleibt das Upgrade unserer Bildung?