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Ist vegan rechts?

17 Min
Eine vegane Lebensweise ist progressiv, sie ist zukunftsorientiert, sie nimmt Rücksicht auf die Umwelt und die Tiere. Und dann ist da noch der Antispeziesismus.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Warum Antispeziesismus menschenfeindlich ist. Content Warnung: Ableismus, Eugenik, Holocaust-Relativierung, Menschenfeindlichkeit.


„Frauen sind wie Kühe, also nicht dasselbe, aber man kann es schon vergleichen.“ Was klingt wie ein schlecht gealterter Spruch aus einer misogynen Werbung für Küchenprodukte aus den 70er-Jahren, ist de facto ein Zitat eines deutschsprachigen Tierrechtsaktivisten auf Social Media aus diesem Jahr.

Immer mehr Menschen entscheiden sich, vegetarisch oder vegan zu leben, allein in Österreich gaben knapp über 100.000 Personen (Stand 2021) an, vegan zu sein. Die individuellen Motivationen mögen unterschiedlich und vielschichtig sein, ich denke, die mehrheitlichen Hauptgründe lassen sich aber vor allem in dem Bedürfnis nach Tierschutz beziehungsweise Tierrechten, Umweltschutz und Nachhaltigkeit zusammenfassen.

Wer so wie ich in Graz aufgewachsen ist, wird bestimmt schon ein Dutzend Mal an den Ständen von Tierschützern am Hauptplatz vorbeigelaufen sein, mit Videoaufnahmen aus europäischen Schlachthäusern und Mastbetrieben. Das Internet ist voll mit aufklärenden Beiträgen rund um den menschengemachten ökologischen Fußabdruck und die Auswirkungen der Massentierhaltung. Es ist quasi unmöglich, diesem Thema nicht zu begegnen, und wenn man mich fragen würde, ist das auch gut so.

Die positiven Seiten der veganen Ernährung

Eine vegane Lebensweise ist progressiv, sie ist zukunftsorientiert, sie nimmt Rücksicht auf die Umwelt und die Tiere; und sie wird oftmals mit jungen, linken, öko-liebenden und manchmal auch naiven, träumenden Menschen assoziiert.

Vegan zu sein, geht für viele Personen über die Ernährungsform hinaus. Man ernährt sich nicht nur vegan, man ist vegan und damit wird Veganismus zu einer Frage der eigenen Identität und Selbstwahrnehmung. Mit diesem tiefen, persönlichen Stellenwert nimmt das vegan sein einen großen Teil in der Lebensrealität von Individuen ein und kann zu einer Mission werden. Das Ziel: den leidenden und sterbenden Lebewesen ohne Stimme Gehör verschaffen und das manchmal um jeden Preis.

Vegan, Massentierhaltung, Holocaust? Ja, Holocaust

Den ersten bewussten Kontakt mit Antispeziesismus hatte ich 2022 im Internet. Eine vegane Tierrechtlerin sprach in einem YouTube-Video mit mehreren Millionen Aufrufen über die vegane Lebensweise und dann über Massentierhaltung und den Holocaust. Ja, den Holocaust.

Speziesismus ist, so schreibt die Tierrechtsorganisation Peta auf ihrer Homepage, „die Diskriminierung von nicht-menschlichen Tieren und ihre Ausbeutung als Nahrung, Forschungsobjekte, Bekleidungsmaterialien oder Spielzeug“. Es geht darum, dass der Mensch Tiere aus reiner Willkür in Gruppen teilt und ihnen auf dieser Basis unterschiedliche Rechte und auch unterschiedlichen Wert zugesteht. Haustiere, als unsere liebenden und treuen Begleiter, sind in dieser hierarchischen Pyramide ganz oben, im Gegensatz zu Nutztieren, die nur leben dürfen, um für uns zu sterben.

Antispeziesisten sehen in der Diskriminierung von Tieren eine Analogie zu Rassismus und Sexismus, da die Ungleichbehandlung von Leben ein ähnliches Maß an Leid bei den Betroffenen verursacht. Dass die Gesellschaft Menschen und nicht-menschliche Tiere unterschiedlich betrachtet, seien die Folgen von Speziesismus.

EuGH: Holocaustrelativierung nicht zumutbar

Schon 2012 löste Peta in Deutschland einen Skandal aus – mit Plakaten voller unaussprechlicher Bilder und skandalöser Titel, die den Holocaust und auch die Überlebenden mit der Massentierhaltung und Tieren verglichen. Der Europäische Gerichtshof in Straßburg entschied damals in einem deutlichen Urteil, dass diese Holocaustrelativierungen nicht zumutbar seien – und bestätigte damit das Verbot der Plakate.

2018 veröffentlicht ein millionenstarker deutschsprachiger Youtuber ein Video, in dem er über Tierrechte, Massentierhaltung und den Holocaust spricht. Er löscht es wieder, die Artikel und vor allem die Kritik bleiben.

Eine Organisation und zwei unterschiedliche, voneinander unabhängige Tierrechtler:innen sprechen über Massentierhaltung und ziehen Vergleiche zum Holocaust. Bei meiner Recherche entdecke ich weitere Fälle, schon 2009 gab es ein Urteil des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe, das ein bereits vorausgegangenes Urteil aus 2004 bestätigte. Inhalt auch hier wieder: der Vergleich von Massentierhaltung und dem Holocaust.

Vergleiche manipulieren - zum Positiven oder zum Negativen

Die Ablehnung der Vergleiche rund um den Holocaust sollen nicht die Grausamkeit und Brutalität der Massentierhaltung relativieren, vielmehr sorgen „Vergleiche mit dem Holocaust zur Relativierung von Geschichte“ schreibt Professorin Antje Flüchter in „Praktiken des Vergleichens“. Vergleiche erklären und bewerten, wir brauchen Vergleiche, um Dinge zu verstehen, die wir nicht kennen, so Flüchter. Und weiter: „Vergleiche sind nämlich nicht neutral oder objektiv, sondern können manipulieren – zum Positiven oder zum Negativen.“

Die Gemeinsamkeit dieser Fälle: Alle Thesen und Annahmen lassen sich auf den Begriff des Speziesismus zurückführen und hangeln sich an dessen Philosophie entlang. Erstmals benannt wurde der Begriff durch den britischen Psychologen Richard Ryder, geprägt wurde er durch den umstrittenen Philosophen Peter Singer, der unter anderem einen Lehrstuhl für Bioethik an der Eliteuniversität Princeton in den USA hält.

Kein zufälliger Griff ins Klo

Wer sich etwas länger mit Peter Singer beschäftigt, muss unweigerlich zu dem Folgeschluss kommen, dass der Vergleich zwischen Massentierhaltung und dem Holocaust kein Versehen ist, kein individueller Ausrutscher einzelner aktivistischer Menschen, die es zu gut gemeint und damit ins Klo gegriffen haben, sondern die zu Ende gedachte Konsequenz der Speziesismus-Theorie.

Tierschutz ist etwa 200 Jahre alt und hat seinen Ursprung Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien, wo es auch erstmals Schutzgesetze gegen das Quälen von Haustieren gab. Die Tierschutzbewegung stand in England, aber auch in den Südstaaten in Verbindung zum Kampf gegen Sklaverei und auch der Frauenbewegung.

Die Geschichte des Tierschutzes ist aber keineswegs eine rein linke, progressive und menschenoffene.

Die Geschichte des Tierschutzes ist aber keineswegs eine rein linke, progressive und menschenoffene. Denn, unter anderem angetrieben durch die Lebensreform-Bewegung, finden sich auch eugenische, sozial-darwinistische bis hin zu rassistischen und antisemitischen Richtungen darunter. Und bis in die heutigen Tage scheitern Tierrechtler:innen und -schützer:innen regelmäßig daran, sich von rechten, menschenverachtenden Bewegungen und Gruppierungen zu distanzieren, solange es „halt um die Tiere geht“.

Vegan als Lebensweise trat erstmal in den 1960er-Jahren in England auf, zuerst vor allem vertreten durch Frauen, und die moderne Tierrechtsbewegung lehnte die Nutzung von Tieren grundsätzlich ab.

Zehn Jahre später wurde Speziesismus das erste Mal als solcher benannt; 1975 erschien das Buch „Animal Liberation: Die Befreiung der Tiere“ von Peter Singer. Das über eine halbe Million Mal verkaufte Buch gilt als eines der einflussreichsten Tierrechtswerke und wird nach wie vor, auch auf Social Media, von Tierrechtsaktivist:innen und Influencer:innen beworben und als philosophisches Meisterwerk zelebriert. Auch Singer steht weiterhin hinter, auch und besonders, den kontroversesten Thesen, wie er bei Interviews zur Neuauflage 2011 öffentlich erklärte.

Singers Speziesismus: Personen versus Nicht-Personen

Peter Singer ist ein Vertreter des Konzepts der präferenzutilitaristischen Philosophie, er spricht von einem moralischen Kassenbuch, durch das es moralisch richtige und falsche Antworten gibt, die sich nach einer Formel richten, die allgemeines Leid minimieren und Freude maximieren soll.

Durch die These des Speziesismus radiert Singer die Differenzierung zwischen Mensch und nicht-menschlichem Tier aus, er begründet das wie folgt: „Die Zugehörigkeit zur menschlichen Art ist kein moralisch relevantes Kriterium für ein Recht zu Leben.“ Das Leben wird, unabhängig von der Spezies, in zwei Klassen geteilt, in sogenannte Personen und Nicht-Personen. Personen sind intelligente, selbstbewusste, vernünftige Wesen und symbolisieren die höchste Stufe des Lebens.

Denkt man Singers Ideologie zu Ende, hat ein Neugeborenes die gleiche Wertigkeit wie eine Schnecke.

Dazu zählt Peter Singer gesunde, erwachsene Menschen ohne Behinderung, ausgewachsene, gesunde Menschenaffen und in neueren Ausgaben auch ausgewachsene, gesunde Hunde und andere nicht-menschliche Tiere, denen auf Grund von wissenschaftlicher Erkenntnis mehr Fähigkeiten zugetraut werden als ursprünglich angenommen. Nicht-Personen sind bewusste Wesen, die lediglich Gefühle empfinden, aber nicht in der Lage sind, ein laut Singer lohnenswertes Leben zu rationalisieren, ein solches mit guten Aussichten. Denkt man Singers Ideologie zu Ende, hat ein Neugeborenes die gleiche Wertigkeit wie eine Schnecke, mit dem Zusatz, dass das Neugeborene sich mit Glück in einem liebenden Umfeld befindet, und die Freude und Bedürfnisse der Verwandtschaft die Existenz des Neugeborenen über der der Schnecke legitimieren. Vorausgesetzt, es handelt sich um ein gesundes Neugeborenes ohne Behinderung.

Profil von Herrn Singer mit roter Illustration
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In den ursprünglichen Ausgaben seiner Bücher schreibt er unter anderem über Kinder mit Downsyndrom als Kinder ohne Aussicht auf ein lohnendes Leben, also eines, das weder unabhängig noch ökonomisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich von Wert sei, da es wohl niemals in der Lage sei, Gitarre zu spielen, sich für Science-Fiction zu interessieren oder eine Fremdsprache zu erlernen...

Dass diese Aussagen völlig haltlos, aber vor allem auch falsch sind, steht außer Frage. Menschen mit Behinderung haben sehr wohl Aussichten auf lohnendes Leben, und wo diese Aussichten nicht gegeben sind, trägt die Schuld nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft, die als solche versagt, barrierefreie und nicht-behindernde Lebensrealitäten für alle Menschen zu schaffen. Die Ideologie von Peter Singer trieft nur so vor Ableismus, der Diskriminierung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Menschen mit Behinderung. Singer hält es für grundsätzlich falsch, allen Menschen ein Existenzrecht zuzusprechen, und hält bis heute an dieser Aussage fest.

Animal Liberation ist nicht primär harmlos

Es ist ein gefährlicher und verkennender Irrglaube, wenn man denkt, dass es in Animal Liberation primär um die liebevolle und harmlose Befreiung der Tiere geht, um ein Leben, in dem man mit Katzen, Schweinen und Fröschen auf gleicher Augenhöhe koexistieren sollte, um eine friedliche Welt ohne Leid zu erreichen. Gerade auf Social Media wird Speziesismus in immer weiter wachsenden Gruppen, vor allem auch durch Reichweiten starke Influencer:innen und Aktivist:innen, als die finale und optimierte Antwort auf die Diskriminierungsfrage angepriesen, indem mit der Anerkennung der Diskriminierung der Tiere und dessen Zerschlagung quasi das Patriarchat und auch die häufigste und älteste Form der Diskriminierung ausdribbelt.

Eine eiskalte Rechnung

Peter Singer berücksichtigt in seiner Speziesismus-Philosophie zwar auch Tiere, aber genau wie Menschen sind auch diese lediglich Teil einer moralisch-rationalisierten, eiskalten Rechnung und unterliegen darin, genau wie Menschen, den Regeln ihrer Aussicht auf ein gesundes, erstrebenswertes Leben. In seinen zwei Dutzend Büchern, die seit 1975 erschienen sind, beschreibt er mit kaltherziger Logik, warum er Menschenrechte und Menschenwürde nur Menschen zugesteht, die über ein Bewusstsein verfügen.

Peter Singer ist ein Liberaler, der Menschen und nicht-menschliche Tiere nach ihrer Verwertbarkeit sortiert und ihnen wohlwollend so das Recht zu existieren abspricht.

„Der berüchtigte Todesbote“

Während der Uni-Präsident der Eliteuniversität Princeton von dem „einflussreichsten lebenden Ethiker“ spricht und die Giordano Bruno Stiftung, die unter anderem wegen ihres Namens und der Gründungsideologien immer wieder in der Kritik steht, eine Ehrung ausspricht, trägt Peter Singer in seiner Heimat den Titel „der berüchtigte Todesbote“ und „der Mann, der behinderte Babys töten würde.“ Nicht verwunderlich ist, dass sich an seinem ersten Arbeitstag an der Princeton protestierende Rollstuhlfahrer:innen an einen Zaun ketteten und auch der Milliardär Steve Forbes seit Singers Berufung sämtliche Spenden an die Universität storniert hat.

Wie auch andere bekannte Vertreter der Speziesismus-Theorie ist Peter Singer ein Befürworter der freiwilligen Euthanasie, aber auch der unfreiwilligen Tötung von schwerbehinderten Säuglingen und Erwachsenen, die durch Alter oder Krankheit die Fähigkeit der eigenen Entscheidungsfindung verloren haben. Immer wieder werden Debatten darüber eröffnet, ob es nicht moralisch gerechtfertigter sei, Versuche an Komapatienten durchzuführen als an ausgewachsenen, gesunden Menschenaffen.

Radikale Über-Rationalisierung

Das wohl erschreckende Fazit besteht darin, dass durch eine radikale Über-Rationalisierung der Versuch entsteht, ein Narrativ gesellschaftsfähig zu machen, in dem Menschen das Recht zu leben abgesprochen wird. Die philosophische Debatte über die Stellung von nicht-menschlichen Tieren führt nicht etwa dazu, dass diesen mehr Rechte zugesprochen werden, vielmehr dient sie als Deckmantel, um an Grundrechten und moralischen Grundsätzen zu sägen und tiefsitzende, eugenische Menschenfeindlichkeit auszuleben und salonfähig zu machen.

Unaussprechlich Ungeheuerliches wird in einem philosophischen Kontext romantisiert.

Unaussprechlich Ungeheuerliches wird in einem philosophischen Kontext romantisiert, aber hinter all den Blumen stecken klare, grausame Forderungen: Menschenleben muss sich ökonomisch und wirtschaftlich für die Mehrheitsgesellschaft rechnen, sonst verliert es seine Berechtigung auf Existenz.

Für all jene, denen diese Veranschaulichung bis dato nicht reicht: Der Begriff der Euthanasie, also des Gnadentods, wurde vor allem zur Zeit des Nationalsozialismus genutzt, um Krankenmorde zu relativieren.

Die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari sehen in einer berühmten Radierung von Goya die These, nicht der Schlaf der Vernunft gebäre Ungeheuer, sondern die wachsame und schlaflose Rationalität.

Der Ursprung und die Basis des Speziesismus sind also, gelinde gesagt, nicht tragbar.

Warum "Antispeziesist:in" als Selbstbezeichnung?

Aber warum gibt es dann so viele Personen (des öffentlichen Lebens), Aktivist:innen und Influencer:innen, die sich lachend und mit voller Begeisterung in die Öffentlichkeit stellen und „Ich bin Antispeziesist:in“ als Selbstbezeichnung wählen?

Wenn wir uns mit dem philosophischen Gedankenspiel der Differenzierung zwischen Mensch und Tier auseinandersetzen, dann enden wir meistens bei zwei bestehenden Thesen:

  • Die Differenzierung im Umgang mit Arten wird festgemacht an der Leidensfähigkeit.

  • Die Differenzierung im Umgang mit Arten wird festgemacht anhand der Fähigkeiten, die man Arten zuspricht.

Also, wir dürfen mit nicht-menschlichen Tieren nicht grausam umgehen, weil sie im Stande sind, Leid, Schmerz und Trauma zu empfinden, und/oder wir müssen nicht-menschlichen Tieren Rechte zuerkennen auf Grund der kognitiven oder emotionalen Fähigkeiten, die sie haben.

Beide Thesen sind irgendwo in sich schlüssig, werden aber in dem Moment problematisch, in dem wir die Differenzierung zwischen Mensch und nicht-menschlichem Tier, also Speziesismus, aufheben. Menschen anhand von Leidensfähigkeit oder kognitiven, emotionalen oder anderen Fähigkeiten zu bewerten, fällt in den Bereich des Ableismus.

Die Urform der Ausgrenzung

Menschen aufgrund ihrer (Leistungs-)Fähigkeit (ab) zu werten, ist quasi die Urform der Ausgrenzung und Anfeindung von Menschen mit Behinderung und/oder chronischen Erkrankungen. Leidensfähigkeit wird, wie man anhand von vorherigen Beispielen sieht, gegen Menschen interpretiert, die zum Beispiel im Koma liegen oder durch schwere Behinderung und/oder ein verändertes oder gar kein sichtbares Schmerzempfinden haben. Das Gleiche trifft auf kognitive Fähigkeiten zu. Emotionalität und die Fähigkeit, Empathie oder Mitgefühl zu empfinden, steht in Frage, sobald es um das Spektrum von psychischen Erkrankungen oder Diagnosen geht, also wenn wir über Menschen auf dem neurodiversen Spektrum sprechen.

Speziesismus ersetzt in seiner Definition also lediglich eine Diskriminierungsform durch eine andere und relativiert damit dessen Lebensrealität.

Speziesismus ersetzt lediglich eine Diskriminierungs­form durch eine andere.

Es ist davon auszugehen, dass durch die Ausradierung der Differenz zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren ein nicht zu verkennendes Risiko besteht, dass nicht Tiere auf die Rechtseebene von Menschen angehoben werden, sondern dass genau das Gegenteil passiert.

Wenn man sich vor Augen führt, was die möglichen und auch klar ausgelebten und ausgesprochenen Vorstellungen und Ideologien dieser Gedankengänge sind, fühlt es sich absurd an, dass in vielen auch politisch links orientieren Kreisen über die Lösung und endgültige Zerschlagung der Diskriminierung gesprochen wird und dass diese, vor allem auch von Aktivist:innen mit Behinderung, zurecht bereits im 20. Jahrhundert scharf kritisierten und abgelehnten Ideologien jetzt im Internet durch die Hintertür wieder Beachtung und Anhängerschaft finden.

Illustration von einem Affengesicht und einem menschlichen Embryo
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Gerade die auf Social Media unterkomplexe und verkürzte Darstellung von politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen birgt ein großes Risiko für menschenverachtende Ideologien. Nach dem Motto, wenn ich mir etwas auf ein T-Shirt drucken kann und das cool aussieht, dann mach ich das und denke nicht darüber nach, was der Ursprung davon ist, und wohin dieser Gedankengang potenziell führen kann. So ist es wenig verwunderlich, dass vor allem weiße, abled (also jene ohne Behinderung) Akteur:innen sich selbst als stolze Antispeziesist:innen bezeichnen, und Stimmen von Menschen mit Behinderung kaum bis gar nicht gehört werden. Die Grundbausteine unserer moralischen, philosophischen und gesellschaftlichen Regeln und Grenzen werden nach wie vor durch das Subjekt männlich, weiß, abled, cis, heteronormativ bestimmt, und vielleicht auch deswegen finden die Ideen von Peter Singer als auf perverse Art und Weise gefeierter Vordenker mehr Beachtung als die seiner Kritiker.

Ist das überhaupt eine philosophische These?

Die Frage, die sich mir stellt, ist: Wie progressiv und wertvoll kann eine philosophische These sein, wenn sie, zu Ende gedacht, nicht drumherum kommt, von der Diskriminierung von anderen Personengruppen für ihre eigene Definition abhängig zu sein; und sollten wir in einem solchen Kontext überhaupt von einer philosophischen These sprechen, oder relativiert diese Einordnung bereits?

Moderner Antispeziesismus sieht sich selbst als Teil einer antifaschistischen, queeren, feministischen, progressiven, antidiskriminierenden Revolution, und so findet man Vertreter:innen mittlerweile auf allen möglichen Demonstrationen (auch auf dem CSD in Berlin).

„Kein Gott, kein Staat, kein Fleischsalat“

Ich sehe entfremdete Sticker mit Abwandlungen von anderen linken Kämpfen wie „kein Mensch ist illegal“ zu „Tiere sind keine Ware“ oder „Antifaschistische Aktion“ zu „Antispeziesistische Aktion“, Leitsprüche wie „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“ werden zu „Kein Gott, kein Staat, kein Fleischsalat“ und je länger ich mich damit beschäftige, desto mehr fühlt sich die antispeziesistische, vegane Bewegung wie eine riesige Nebelkerze an, eine, die andere wichtige Kämpfe von marginalisierten einnimmt, kopiert wie ein Chamäleon und dann durch die exakte Reproduktion unscheinbar macht und aus der Aufmerksamkeit verdrängt. Wenn man sich den historischen Hintergrund dieser Bewegung und ihre zu Ende gedachten Konsequenzen ansieht, dann vielleicht auch, eher wie ein Wolf im Schafspelz, der auf der Bühne von linken Kämpfen tanzt und sich diese aneignet, aber im Hintergrund schlummern menschenfeindliche, ableistische Ideologien, denen man zumindest die Türe offenlässt.

Kaum kritische Auseinandersetzung mit Speziesismus

Besonders bedauerlich ist, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Speziesismus auch in jüngeren Generationen (Social Media), kaum bis wenig gelingt. Radikale vegane aktivistische Gruppen sprechen von einer sogenannten stellvertretenden Diskriminierung, die sie als Stimmen der nicht gehörten diskriminierten Tiere, die sich nicht selbst zu Wort melden können, einnehmen. In dieser Rechtfertigung nimmt das nicht-menschliche Tier eine moralisch völlig von Schuld befreite und unschuldige Opferposition ein, die in ihrem Sein nicht von nicht völlig von Schuld befreiten Personen kritisiert oder gar in Frage gestellt werden darf, da sonst eine direkte Täterzuschreibung erfolgt.

Selbst-angeeignete Deutungshoheit

Dass diese Opferfigur nicht sprechen kann, ist dabei nicht einfach nur ein Zufall, sondern eine äußert praktische Gegebenheit, denn dadurch entsteht die Möglichkeit, dass Dritte sich stellvertretend und schützend davorwerfen und dabei die selbst-angeeignete Deutungshoheit als stellvertretende betroffene Person einnehmen. Dasselbe Phänomen kann man auch bei der Pro-Life Bewegung beobachten, bei der sich fremde Menschen herausnehmen, über die Grenzen des Übergriffigen oder sogar beleidigenden oder bedrohenden Verhaltens hinwegzusteigen, mit der selbstgenehmigten Begründung der selbstlosen Aufopferung für die nicht sprechende Opferfigur. Aus diesem Gedankengang heraus rechtfertigen Akteur:innen vor sich selbst und auch anderen immer wieder Äußerungen, Forderungen, aber auch Aktionen, die Grenzen zu überschreiten, auch dann, wenn sie sich gegen andere marginalisierte oder die eigentlich diskriminierte Personengruppen stellen, im Falle von Pro-Life Frauen und Menschen mit Gebärmutter, im Fall von Speziesismus Menschen, die tatsächlich von Ableismus betroffen sind.

Diese perfide Art der Argumentation dient vor allem einer skrupellosen Opfer-Täter-Umkehr.

Diese perfide Art der Argumentation verhindert nicht nur jeglichen nachhaltigen Diskurs, sie dient vor allem einer skrupellosen Opfer-Täter-Umkehr, in der Betroffene durch nicht betroffene Dritte aus dem Diskurs gedrängt und dann auch noch in eine Verantwortung geschoben werden.

Tierrechte und der Schutz dieser sind ein unabdingbar wichtiger Kampf im Kontext unserer weltlichen Gerechtigkeit. Es ist wichtig und richtig, dass wir Tiere nicht als zu konsumierende Produkte betrachten, die wir aus Willkür ausbeuten und töten können. Nicht nur aus einem ethisch-moralischen Kontext heraus sind Tierrechte unabdingbar, sie sind auch wichtig für eine für die Menschheit gerechte Zukunft, in der die Massentierhaltung und der daraus resultierende Konsum verheerende Folgen für unser Klima und die daraus resultierende Ungleichheit von Menschen auf Grund von Klassismus, Rassismus, Herkunft, sozialem und gesellschaftlichem Stand.

Menschenfeindlichkeit unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit

Mehr Gerechtigkeit erreicht man aber nicht unter dem im Tierschutz leider auch historisch betrachtet immer wiederkehrenden Deckmantel für Menschenfeindlichkeit, unter dem Antihumanismus frei ausgelebt und eugenische Ideologien, welche oftmals auch mit Rassismus und Antisemitismus einhergehen, zelebriert oder zumindest geduldet werden, weil es halt um die Tiere geht.

Tierrechts­bewegungen müssen sich endlich von rechten Ideologien distanzieren.

Tierrechtsbewegungen müssen endlich den kollektiven Sprung schaffen, sich von rechten Ideologien und menschenverachtenden Strömungen zu distanzieren. Eigene progressive Ideen und Philosophien zur Tierethik und zu Tierrechten müssen in den Vordergrund, damit linke Ströme koexistent für eine gerechtere und bessere Welt kämpfen können, ohne dass wichtige existenzielle Kämpfe verdrängt oder für eigene, egoistische Ziele übergangen werden.

Speziesismus wird das meines Erachtens nicht gelingen und es wäre gut, diese philosophisch zumindest fragwürdige Ideologie endlich hinter uns zu lassen.


Pia Scholz (Shurjoka) schreibt seit September 2023 einmal im Monat eine Kolumne in der WZ. Alle Beiträge findet ihr in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Genese

Vegan als Trend, das setzt sich seit Jahren durch. Auf der einen Seite steht dahinter das Bedürfnis, Tierleid auf ein Mindestmaß zu reduzieren oder gar vollständig zu bekämpfen. Auf der anderen Seite versteckt sich hinter so manch einer veganen Strömung mehr als nur der selbstaufopfernde und empathische Wunsch nach einer gerechteren Welt. Die Kolumne befasst sich mit den nicht Neuen, sondern eher schon alten Kritiken der Speziesismus-These, geprägt durch den problematischen und kontroversen Philosophen Peter Singer, die leider auf Social Media neuen Aufschwung und vor allem junge Anhängerschaft genießt.

Daten und Fakten

Fachbegriffe

  • Speziesismus beschreibt die moralische Diskriminierung von Lebewesen auf Grund ihrer Artzugehörigkeit. Benannt wurde diese kontroverse philosophische Theorie erstmalig 1970 durch den britischen Psychologen Richard Ryder. Das erste bekannteste Werk und die nachfolgende Prägung und Weiterführung der Gedanken mit und um Ryder unternahm der stark umstrittene Philosoph Peter Singer, unter anderem mit seinem Werk "Animal Liberation: Die Befreiung der Tiere".

  • Präferenzutilitaristische Philosophie: die utilitaristische Philosophie versucht, ein grundlegendes moralisches Problem zu lesen. Anhand dieser Theorie seien moralische Handlungen und/oder Regeln daran zu messen, wie gut sie für die Allgemeinheit sind, um damit Glück und Wohlstand zu maximieren, und damit als „gut zu bewerten“. Die präferenzutilitaristische Philosophie unterscheidet sich darin, dass die Präferenz bei einer Gruppe von Lebewesen liegt, das bedeutet eine bestimmte, definierte Gruppe hat Vorrang. Interessenabwägungen sollen unabhängig von Art, Rassifizierung oder Geschlecht vorgenommen werden, stattdessen wird eine Abhängigkeit zum Gesundheitszustand suggeriert. Kritiker äußern, dass über diesen Weg unmoralische und ethisch verwerfliche Forderungen und Legitimationen gegen Minderheiten gerechtfertigt werden können, solange diese einen Nutzen für die Mehrheit ergeben würden.

  • Ableismus ist das Fachwort für die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und daraus resultierende Diskriminierung von Menschen auf Grund einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung, aufgrund einer Behinderung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten. Die Bewertung von Menschen in „ihrem Behindertsein“ anhand von meist äußerlicher Wahrnehmung und die daraus abgesprochenen oder zugesprochenen Fähigkeiten zählen auch zur ableistischen Diskriminierung. Ebenso die Kategorisierung und Bewertung von Menschen anhand von kognitiver, psychischer, physischer, emotionaler oder anderer Fähigkeiten.

Philosophische Strömungen

Quellen

Das Thema in anderen Medien