Zum Hauptinhalt springen

Wahlachterbahnen

6 Min
Georg Renner schreibt jede Woche einen sachpolitischen Newsletter. Am Samstag könnt ihr den Beitrag online nachlesen.
© Fotocredit: Georg Renner

Georg Renner analysiert, wie sich die Wahlergebnisse der Parteien und der Wähler:innenstrom über die letzten Jahrzehnte entwickelt haben.


Eigentlich wollte ich euch heute ja ein bisschen darüber erzählen, wie die nächsten Wochen politisch so laufen werden. Ich wollte erzählen, wie sich der neue Nationalrat konstituieren, die Parteien sondieren und die scheidende schwarz-grüne Bundesregierung vorerst weiter regieren werden. Aber inzwischen gibt es zu all diesen Dingen anderswo exzellente Infos:

  • Das Parlament selbst beschreibt den Weg von der Wahl bis zur ersten, der „konstituierenden“ Sitzung des neuen Nationalrats am 24. Oktober.

  • In der Presse beschreibt Philipp Aichinger, wie besagter neuer Nationalrat zu seinem neuen, wahrscheinlich von der FPÖ gestellten Präsidenten kommen wird.

  • Kollege Werner erklärt im Standard, wie die aktuelle Regierung zwar ihren Rücktritt angeboten hat, aber trotzdem weiter die Amtsgeschäfte führt (und das spannende Detail, dass etliche von ihnen eigentlich ihre Jobs verlieren müssten, sie aber trotzdem behalten).

  • Hier in der WZ gehen Bernd Vasari und Matthias Winterer der Frage nach, wie eine künftige Koalition ausschauen könnte; und ein gewisser Renner hat was dazu geschrieben, wessen Wahlprogramme sich in welchem Ausmaß decken.

Nachdem das alles also schon recht gut abgedeckt ist, würde ich stattdessen gern noch einmal auf die Parteien schauen. Denn nach ein paarmal drüber schlafen finde ich, dass sich in deren Ergebnissen im Zeitverlauf einiges Interessantes getan hat. Schauen wir uns das doch ein wenig genauer an.

(Achtung: Die im folgenden erörterten Ergebnisse gehen noch vom Stand Montagabend aus.)

Was mir bei der Volkspartei bemerkenswert scheint: Sie hat nicht ihren historischen Tiefstand erreicht. Das soll jetzt kein Versuch sein, das Ergebnis schönzureden – die ÖVP ist gegenüber 2019 um mehr als elf Prozentpunkte vom ersten auf den zweiten Platz abgestürzt –, aber ein bisschen überraschend ist es doch: Bei den Wahlen 2017 und 2019 hat die Partei unter Sebastian Kurz einen deutlichen Rechtsruck vollzogen und massiv Wähler:innen gewonnen, die ansonsten ihr Kreuz bei der FPÖ gemacht hätten – was sich in deren schwachen (2019) – zumindest gegenüber Umfragen vor dem VP-Wechsel zu Kurz (2017) – Ergebnis in diesen Jahren widerspiegelt, siehe unten.

Aber trotz des nunmehrigen Rekordergebnisses der FPÖ ist die ÖVP nicht wieder auf das Stimmniveau abgerutscht, das sie unter Wilhelm Molterer 2008 und Michael Spindelegger 2013 erreicht hatte (man könnte auch die Umfragen dazuzählen, die sie ab 2016 unter Reinhold Mitterlehner nur mehr knapp über 20 Prozent sahen).

Erklärungsansätze gibt es viele, abschließend wissen können wir es nicht: Ist es der Kanzlerbonus für Nehammer, vielleicht in Verbindung mit der Perfomance nach dem Hochwasser? Sind es die Stimmen der Pensionist:innen, bei denen die ÖVP 2017 erstmals die stärkste Partei war und es seither geblieben ist?

Die Ergebnisse der SPÖ lassen sich unter mehreren Gesichtspunkten lesen. Zum einen ist da einmal der generelle Vertrauensverlust in ehemalige Breite-Parteien, der die Sozialdemokraten, über Jahrzehnte der bestimmende Machtfaktor der Zweiten Republik, ganz besonders trifft. Interessanter scheint mir aber der Austausch mit den Grünen, die inhaltlich in Sozial- und Gesellschaftspolitik, aber auch in der Wähler:innenschaft weitgehende Überschneidungen mit der SPÖ aufweisen.

Schauen wir uns an, wo die SPÖ-Stimmen in der Wählerstromanalyse von Foresight für ORF und APA herkommen:

Wir sehen: Ungefähr jede siebte Stimme für die SPÖ kommt von Menschen, die 2019 noch die Grünen gewählt hatten – während der Stimmanteil der Sozialdemokraten insgesamt praktisch gleichgeblieben ist. Damit wiederholt die SPÖ das Manöver, das sie schon 2017 unter Christian Kern vollzogen hat: Sie gewinnt Stimmen von der anderen prononciert linken Partei im Parlament (damals hatte das – neben anderen Gründen – zur Folge, dass die Grünen aus dem Nationalrat geflogen sind), während sie selbst Wähler:innen Richtung Nichtwählerschaft (18 Prozent der SPÖ-Stimmen von 2019) und FPÖ (sechs Prozent) verliert.

Das Ergebnis der Freiheitlichen ist schon überall breit diskutiert worden, aber trotzdem; sie haben in diesem Jahrtausend schon eine ziemliche Achterbahnfahrt hinter sich. Nachdem es die Partei in der ersten blau-schwarzen Koalition unter Wolfgang Schüssel (der 1999 als knapp Dritter Kanzler wurde, obwohl die ÖVP ein paar tausend Stimmen hinter der FPÖ lag) zerrissen hatte, stürzte sie auf nur noch zehn Prozent der Stimmen.

In den folgenden Jahren hatte sie nicht nur mit internen Querelen, sondern auch mit rechtspopulistischer Konkurrenz am Wähler:innenmarkt zu hadern: 2006 und 2008 zog Jörg Haiders BZÖ in den Nationalrat ein, 2013 Frank Stronachs gleichnamiges „Team Stronach“. Nach Ibiza, dem Ausschluss aus der Regierung und Spesenaffären war die FPÖ 2019 auf 16 Prozent der Stimmen abgestürzt – um sich bei dieser Wahl wieder zu erholen und ihren bisherigen Spitzenwert einzufahren.

Wobei man die Wahl 2013 nicht außer Acht lassen sollte: Rechnet man die Stimmen von FPÖ, Stronach und dem BZÖ, das es bei dieser Wahl nicht mehr über die Vierprozenthürde geschafft hatte, zusammen, kommt man auf 29,7 Prozent – damals hatte das rechtspopulistische Lager zusammen also einen höheren Anteil als die FPÖ heute ohne vergleichbare Konkurrenz.

Wie schon gesagt, kann man die grünen Ergebnisse kaum ohne die Rolle der SPÖ lesen: Wie schon 2017 sind Wähler:innen der Kleinpartei massiv zu den Sozialdemokrat:innen gewechselt; im Gegensatz zu damals hatten die Grünen aber den Vorteil, dass diesmal keine Abspaltung (wie 2017 in Gestalt der Liste Pilz) ihnen ernsthaft Konkurrenz machte – die Liste Petrovic, immerhin angeführt von einer ehemaligen Grünen-Chefin, hat es ja nicht einmal auch nur in die Nähe der Vierprozenthürde geschafft.

Als jüngste Parlamentspartei können die Neos immerhin einen klaren Wachstumskurs verzeichnen – wenn auch auf niedrigem Niveau, der Sprung über zehn Prozent ist ihnen auch heuer nicht gelungen. Bemerkenswert ist hier erstens der verhältnismäßig starke Zugewinn 2019, als die Neos viele ehemalige ÖVP-Wähler:innen aufgabeln konnten, die mit dem Kurz-Kurs unzufrieden waren. Die damalige Wählerstromanalyse weist aus, dass mehr als jede fünfte Neos-Stimme 2019 von Bürger:innen kam, die 2017 die ÖVP gewählt hatten.

Stimmen, die die Neos offensichtlich an sich binden konnten – die Partei verzeichnete vergleichsweise wenige „Abwanderer:innen“ zu anderen Parteien und dürfte, der aktuellen Untersuchung nach, auch einen guten Teil bisheriger Nichtwähler:innen für sich mobilisiert haben.

So, damit nun aber – etwaige Anfechtungen, die noch ein paar Wochen lang möglich sind, einmal ausgeschlossen – genug von dieser Wahl. Kommende Woche begeben wir uns zurück in die Sachpolitik; es gibt genug zu tun.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

Innenpolitik-Journalist Georg Renner erklärt einmal in der Woche in seinem Newsletter die Zusammenhänge der österreichischen Politik. Gründlich, verständlich und bis ins Detail. Der Newsletter erscheint immer am Donnerstag, ihr könnt ihn hier abonnieren. Renner liebt Statistiken und Studien, parlamentarische Anfragebeantwortungen und Ministerratsvorträge, Gesetzes- und Verordnungstexte.

Quellen