Die Fixierung auf die Geschichte der USA treibt seltsame Blüten des Demokratieverständnisses. Sieben Kuriosa.
Als „Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten“ hat der österreichische Germanist Joseph Peter Strelka die USA in einem privaten Gespräch bezeichnet. Er meinte es, bei aller Ironie, liebevoll. Doch die Wahlen in den USA lassen (nicht nur) Österreicher:innen jedes Mal wieder ungläubig die Köpfe schütteln. Ja, gibt’s denn sowas? Und wieso? Und weshalb? Und woher kommt das? Die WZ hat ein Sammelsurium der sieben größten Kuriosa der Präsidentschaftswahlen in den USA zusammengestellt. Die Reihung erfolgt ohne Wertung.
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1) The winner takes it all
Da reiten sie durch die Prärie, die Wahlmänner, gehetzt von Apachenkriegern und Bisons, über ihnen kreisen erwartungsvoll die Geier, unter ihnen klappern die Klapperschlangen, die nie fröhlicher klangen. Und sie reiten und reiten und reiten, die Wahlmänner, um im fernen Washington die Entscheidung zu deponieren, wer nach Meinung der Bevölkerung ihres Bundestaates der nächste Präsident sein soll.
Entgegen dem europäischen Klischee, dass die USA eine Nation ohne Geschichtsbezug sind, sind die USA auf ihre Geschichte fixiert wie kaum eine europäische Nation. Man beruft sich auf die Präzedenz, kurz: Man folgt den einmal eingeführten Vorgängen. Wie damals, so heute.
Das bedeutet für das Wahlrecht: Jeder der 52 Bundesstaaten wird für sich gezählt. Jeder hat eine Zahl von Wahlleuten (heute sind natürlich Frauen darunter), die sich nach der Zahl der einem Staat zugemessenen Mitglieder des Kongresses (der sich aus Senat und Repräsentantenhaus zusammensetzt) bemisst. Der/die stimmenstärkste Kandidat:in erhält alle Wahlleute dieses Bundesstaates. Wer bundesweit die meisten Wahlleute hinter sich bringt, ist der nächste US-Präsident.
Das System ist historisch gewachsen. In den USA fanden die ersten Präsidentschaftswahlen von 15. Dezember 1788 bis 10. Jänner 1789 statt. Wahlen bedeuten, dass jemand Stimmen zusammenzählt, was wiederum bedeutet, dass dieser Jemand erfahren muss, wie viele Stimmen auf welchen Kandidaten oder welche Kandidatin entfallen sind – um es kurz zu machen: Wahlen sind ein Prüfstein für die Kommunikation. Und deren Möglichkeiten waren 1789 auf die Post- und Meldereiter beschränkt. Heißt: Um dem geografisch riesigen Land in möglichst kurzer Zeit eine stabile Regierung zu geben, musste man den Wahlvorgang vereinfachen und beschleunigen. Denn je mehr Menschen, zumal in einem großen Gebiet, wählen, desto unübersichtlicher und zäher wird die Sache. Wenn relativ wenige Personen eine:n Vertreter:in wählen, der seine/ihre Stimme in ihrem Sinn abgibt, scheint das kompliziert und, zugegeben, etwas absurd – aber nur aus heutiger Sicht einer modernen Demokratie wie Österreich. Für das 18. Jahrhundert war in einem weitläufigen Land wie den USA das von Wahlbeauftragten ausgeführte Mehrheitswahlrecht wesentlich praktikabler.
2) Der Sieger verliert, der Verlierer siegt
Präsident:in der USA wird, wer die Mehrheit der 538 Wahlleute hinter sich versammelt. Um das Problem zu verstehen, muss man im Gedächtnis behalten, dass jeder Bundesstaat für sich gezählt wird und in jedem der/die Sieger:in nicht im Verhältnis der Stimmen die Wahlleute gewinnt, sondern unterschiedslos alle. Nun repräsentieren je nach Bundesstaat die Wahlleute unterschiedlich viele Wahlberechtigte. Die Faustregel ist, dass einwohnerschwache Bundesstaaten mehr Wahlpersonen pro Einwohner:in haben als einwohnerstarke Bundesstaaten. Beispielsweise repräsentiert in Wyoming eine Wahlperson weniger als 200.000 Einwohner:innen, während in Kalifornien eine Wahlperson für knapp 700.000 Einwohner:innen steht. Damit hat eine Stimme in Wyoming mehr Gewicht als eine in Kalifornien. So können Bundesstaaten mit gemessen an der Zahl der Bevölkerung unverhältnismäßig vielen Wahlleuten Bundesstaaten mit gemessen an der Zahl der Bevölkerung unverhältnismäßig wenigen Wahlleuten überstimmen.
Eine Rechnung, die reine Theorie ist, in der Praxis nicht vorkommt? Weit gefehlt! 1876 gab es eine Stimmenmehrheit für Samuel J. Tilden, Präsident wurde aber mit hauchdünner Wahlmänner-Mehrheit Rutherford B. Hayes. 1888 setzte sich Benjamin Harrison in der Wahlmänner-Abstimmung gegen den in der Bevölkerung stimmenstärkeren Grover Cleveland durch. So etwas könnte heute nicht mehr passieren? – Wieder weit gefehlt! Im Jahr 2000 hatte Al Gore zwar die Mehrheit der Wähler:innen hinter sich, Präsident wurde aber George W. Bush; und 2016 lag Hillary Clinton mit 48,2 Prozent der Wähler:innenstimmen vor Donald Trump mit 46,1 Prozent, doch Trump hatte bei den Wahlleuten mit 306 Stimmen die Nase deutlich vor Hillary Clinton, die nur 232 Wahlleute hinter sich bringen konnte.
3) Wenn Wahlleute untreu sind
Wahlleute müssen auftragsgemäß abstimmen. Meistens tun sie es. Meistens, aber nicht immer. Zwischen 1796 und 2016 sollen 180 Wahlleute entgegen dem Votum der Wähler:innen ihres Bundesstaates abgestimmt haben. Das hat bisher zwar noch nie den Ausgang der Wahl verändert, ist aber eine Quelle der Unsicherheit. Statt das Wahlsystem selbst zu reformieren, landete die Frage, charakteristisch für die USA, vor Gericht, nachdem bei der Wahl 2016 entgegen ihrem Auftrag fünf Wahlleute gegen Hillary Clinton und zwei gegen Donald Trump gestimmt hatten und Wahlfreiheit geltend machten. Das Höchstgericht der USA sah das anders. Seither können untreue Wahlleute von ihrem Bundesstaat bestraft werden. Als Strafe sind zumeist Geldbußen in der Höhe von bis zu 1.000 Dollar vorgesehen.
4) Keine Chance für unabhängige Kandidat:innen
Wahlkämpfe in den USA werden zwischen der Republikanischen und der Demokratischen Partei ausgetragen. Es heißt: entweder – oder. Unabhängige Kandidat:innen können sich nicht durchsetzen, weil sie nicht die Geldmittel aufzubringen vermögen, die für die weitestgehend spendenfinanzierten US-Wahlkämpfe notwendig sind. Wer spendet, will eine Gegenleistung. Eine Investition in einen Kandidaten oder eine Kandidatin der Republikaner oder der Demokraten bedeutet eine 50:50-Chance auf Vorteile während der nächsten Präsidentschaft. Investitionen in unabhängige Kandidat:innen sind, salopp gesagt, hinausgeschmissenes Geld.
Die Hintergründe der Entscheidungen.
Einfach Politik.
Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.
Allerdings können unabhängige und selbst völlig chancenlose Kandidat:innen Stolpersteine auf dem Weg ins Weiße Haus sein. Bei den Wahlen im Jahr 2000 bekam der von den ohnedies wenigen Grünen unterstützte, völlig aussichtslose Ralph Nader mehrere zehntausend Stimmen im Bundesstaat Florida. Damit nahm er Al Gore die dringend benötigten Stimmen weg, und Florida kippte zugunsten von George W. Bush, der damit zwar nicht die Mehrheit der Wähler:innen, aber die der Wahlleute hinter sich hatte.
Mehr davon unter Punkt 7.
5) Gewählt werden leicht gemacht
Das passive Wahlrecht für das Amt des Präsidenten oder der Präsidentin der USA ist leichter zu bekommen als das aktive. Grundbedingung, um Präsident:in der USA zu werden, ist, dass man in den USA geboren sein und die US-Staatsbürgerschaft haben muss (was durch die Geburt in den USA inkludiert ist), man muss mindestens 35 Jahre sein und 14 Jahre hintereinander in den USA gelebt haben. Niemand darf mehr als zweimal Präsident:in sein, und zwar auch dann nicht, wenn die Präsidentschaften nicht unmittelbar aufeinander folgen würden.
Eine strafrechtliche Verurteilung ändert nichts am passiven Wahlrecht; theoretisch wäre es möglich, dass eine inhaftierte Person zum Präsidenten oder zur Präsidentin gewählt wird. In der Praxis würde der/die Inhaftierte das Amt dann an den/die Vizepräsident:in übertragen, der/die umgehend eine Begnadigung ausspricht.
Vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind allerdings aktive und ehemalige Offizier:innen, Beamt:innen oder gewählte Amtsinhaber:innen, wenn sie an einer Rebellion gegen die Vereinigten Staaten beteiligt waren oder ihre Feinde unterstützt haben. (Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Diskussion, wie der Sturm auf das Kapitol und Donald Trumps Rolle dabei einzustufen ist.)
6) Wählen schwer gemacht
Während nahezu alle demokratischen Staaten Europas die Hemmschwelle für das aktive Wählen zu senken versuchen, ist sie in den USA unverändert denkbar hoch. Das aktive Wahlrecht haben alle Staatsbürger:innen der Vereinigten Staaten, die das 18. Lebensjahr vollendet und ihren Wohnsitz in einem der 50 Bundesstaaten oder dem District of Columbia haben oder hatten. Ausgeschlossen vom Wahlrecht sind Gefängnisinsass:innen; die meisten Bundesstaaten aberkennen auch ehemaligen Gefängnisinsass:innen nach der Verbüßung der Haftstrafe das aktive Wahlrecht.
US-Staatsbürger:innen, die ein aktives Wahlrecht besitzen, sind in dem Bundesstaat wahlberechtigt, in dem sie ihren letzten Wohnsitz in den Vereinigten Staaten hatten. Briefwähler:innen im Ausland wird die Stimmabgabe extrem erschwert: Sie müssen die Unterlagen anfordern, erhalten dann aber oft die für die Inlands-Briefwahl, was eine neuerliche Anforderung bedingt. Jeder Bundesstaat hat dabei andere Regeln, auf welche Weise die Briefwahlstimmen am Zielort eintreffen müssen, also ob der normale Postweg genügt (mit der Gefahr, dass die Stimmen über den Stichtag hinaus in den Verteilerzentren lagern und verfallen), oder ob es die Diplomatenpost sein muss (was die Stimmabgabe auf der Botschaft oder dem Konsulat erfordert).
Damit US-Staatsbürger:innen wählen dürfen, müssen sie sich registrieren lassen. Für den Registrierungsvorgang hat jeder Bundesstaat eigene Regeln: In 18 Bundesstaaten bedarf es keiner selbst vorzulegenden Dokumente; in anderen muss ein Lichtbildausweis vorgelegt werden, wieder in anderen genügt ein Dokument ohne Lichtbild, wobei die Identität in diesem Fall durch die Beantwortung persönlicher Fragen nachzuweisen ist. Welche Ausweise akzeptiert werden, wechselt ebenfalls von Bundesstaat zu Bundesstaat.
7) Das Amt bleibt (nicht) in der Familie
In kaum einem anderen Land sind der Geld- und Einflussadel so eng vernetzt wie in den USA. Dennoch stellt kaum je eine Familie mehrfach die/den Präsident:in. Geschafft hat das George W. Bush: Er wurde Präsident der USA (2001-2009) als indirekter Nachfolger seines Vaters George H. W. Bush (1989-1993). Die beiden trennte lediglich die Amtszeit Bill Clintons. Sonst vertrauten die US-amerikanischen Wähler:innen ziemlich selten den Familienclans. Gerade einmal Vater John Adams (1797-1801) und Sohn John Quincey Adams (1825-1829) sowie Onkel Theodore „Teddy“ Roosevelt (1901-1909) und Cousin fünften Grades Franklin D. Roosevelt (1933-1945) waren die Ausnahmen. Hillary Clinton, Frau des Ex-Präsidenten Bill Clinton, scheiterte jedoch an Donald Trump.
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Infos und Quellen
Genese
Die Wahlen in den USA sind für Europäer:innen gleichzusetzen mit außerirdischen Vorgängen. Vieles davon lässt sich durch die Geschichte der Nation erklären. Und manches ist einfach nur bizarr. WZ-Redakteur Edwin Baumgartner lädt zum Kopfschütteln ein.
Daten und Fakten
Die ersten Präsidentschaftswahlen in den USA fanden von 15. Dezember 1788 bis 10. Jänner 1789 statt. George Washington wurde zum ersten Präsidenten gewählt, John Adams wurde erster Vizepräsident der Vereinigten Staaten. Es gab noch keine offiziellen Kandidaten. Abgesehen von Washington erhielten Stimmen: John Adams (Ex-Botschafter der USA in Großbritannien), James Armstrong (seine Identität ist ungeklärt), George Clinton (Gouverneur von New York), Robert Hanson Harrison (Richter), John Hancock (Gouverneur von Massachusetts), Samuel Huntington (Gouverneur von Connecticut), John Jay (Außenminister), Benjamin Lincoln (Vizegouverneur von Massachusetts), John Milton (Staatssekretär von Georgia), John Rutledge (Ex-Gouverneur von South Carolina), Edward Telfair (Ex-Gouverneur von Georgia). Sie alle unterstützten Washington, der die meisten Stimmen erhielt. Adams erhielt die zweitmeisten Stimmen und wurde damit Vizepräsident.
Die Wahlen und das Gericht: Die USA sind eine Nation der Straf- und Zivilprozesse. Allein der Supreme Court (das Höchstgericht) verhandelt pro Jahr durchschnittlich 8.000 Fälle. Vor Gericht verhandelt werden angeblich gesundheitsgefährdende Strahlungen von Parkuhren ebenso wie angeblich lungenschädliche Popcorndämpfe. Angesichts dessen versteht es sich sozusagen von selbst, dass auch Vorgänge in den und um die Wahlen Thema für die Gerichte werden. Am bekanntesten wurde das Verfahren bei den Wahlen des Jahres 2000: Die Wähler:innen haben in Mehrheit für Al Gore gestimmt, doch die Wahlleute-Mehrheit hat für George Bush gestimmt – und selbst das ist nicht sicher; Florida musste neu ausgezählt werden. Der Oberste Gerichtshof von Florida entschied zugunsten von Al Gore und für die nochmalige Auszählung, der Oberste Gerichtshof der USA zugunsten von George Bush und gegen die nochmalige Auszählung. Aus dem mehrfachen Kräftemessen der Gerichte ging schließlich Bush als Sieger hervor und wurde mit Wähler:innenstimmen-Minderheit und Wahlleute-Mehrheit Präsident der USA.
Joseph Peter Strelka (1927-2022) war ein österreichischer Germanist von internationalem Ansehen. Die University of Southern California in Los Angeles ernannte ihn 1964 zum Associate Professor of German Literature. Von 1966 bis 1971 lehrte er an der Pennsylvania State University, danach bis 1997 an der State University of New York in Albany. Strelka verfasste maßstabsetzende Arbeiten über Franz Kafka, Hermann Broch, Robert Musil und Dante Alighieri.
Quellen
Deutsche Welle (DW): „Untreue Wahlleute“ müssen büßen
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Ehemalige Kandidaten
Tagesschau: Robert Kennedy - der Spielverderber?
Planet Wissen: Die Geschichte des US-Wahlrechts
Augsburger Allgemeine: Michelle Obama als Präsidentschaftskandidatin? Ein Pro und Contra
SWR Kultur: Gerichtsdrama um US-Präsidentenwahl Bush vs. Gore
Redaktionsnetzwerk Deutschland: Tücken der US-Wahl: Die nicht so demokratischen Staaten von Amerika
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
OÖ Nachrichten: Die spinnen, die Amerikaner? Ein Wahlvergleich
Die Presse: Das US-Wahlsystem ist besonders anfällig für Klagen
Der Standard: Wie das amerikanische Wahlsystem das Ergebnis verzerrt
Stuttgarter Zeitung: Das Wahlsystem der USA einfach erklärt
Süddeutsche Zeitung: Zehn Gründe, warum die US-Demokratie in größter Gefahr ist