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Warum Natalya auf dem Erdbeerfeld schuftet

7 Min
Früher kamen aus der Ukraine mehr Männer als Erntehelfer, seit Kriegsbeginn sind es vor allem Frauen, die Erdbeeren ernten.
© Fotocredit: Andreas Coerper Mainz / Moment via Getty Images

Ukrainerinnen sind billige Erntehelferinnen. Aber manche verdienen in Österreich in einem Monat so viel wie daheim in einem Dreivierteljahr.


Erdbeere für Erdbeere nimmt Natalya in die Hand, prüft sie kurz, reißt sie vorsichtig ab und legt sie entweder ins Körbchen vor sich oder lässt sie auf die Erde zwischen den Pflanzen fallen, wo sie zu Humus verfaulen werden. Es sind eingeübte Bewegungen, mit denen sich die 43-Jährige gemeinsam mit sechs anderen Frauen durch ein Erdbeerfeld im Marchfeld arbeitet. Es ist eine stille Arbeit, nur das Rascheln der Stauden ist zu hören, und die Luft duftet nach Erdbeeren.

Eine Nahaufnahme beim Erdbeerpflücken am Feld.
Nicht jede Erdbeere darf ins Körbchen.
© Fotocredit: Mathias Ziegler

Es ist Natalyas erste Saison im Marchfeld. Hier verdient sie bis zu 1.800 Euro brutto im Monat – „daheim in der Ukraine bekäme ich in meinem ursprünglichen Job als Kindergärtnerin 200 Euro“, erzählt sie der WZ (zum Vergleich: Soldaten an vorderster Front bekommen derzeit 2.500 Euro). Als Übersetzungshelfer dient dabei Andrii, der einzige Mann im achtköpfigen Erntetrupp und der Einzige, der ausreichend Deutsch kann. Andrii ist nur deshalb in Österreich, weil er seiner aus dem Kriegsland geflüchteten Frau und ihren drei gemeinsamen Kindern nachreisen durfte. Es ist seine dritte Saison im Erdbeerbetrieb.

Die sieben Frauen, die in gebeugter Hocke Erdbeeren pflücken, sind allesamt Verwandte von ihm. Eine davon ist die 20-jährige Irina, die sich mit der harten Erntearbeit im Marchfeld ihr Studium der Handels- und Warenwissenschaften in der Ukraine finanziert. Natalya wird nach rund sechs Wochen wieder in die Ukraine zurückkehren und bis zum nächsten Ernteeinsatz in Österreich von diesen Einkünften zehren.

Es dauert eine gute Woche, bis man sich an die Rückenschmerzen gewöhnt hat.
Erdbeerbauer aus dem Marchfeld

Wie belastend die hockende Arbeit ist, weiß der Erdbeerbauer, der sie beschäftigt, aus eigener Erfahrung: „Es dauert eine gute Woche, bis man sich an die Rückenschmerzen gewöhnt hat.“ Und es braucht ausdauernd hohe Konzentration, weil jede Erdbeere einzeln begutachtet und beurteilt werden muss, ob sie ins Körbchen darf oder zumindest zu Saft verarbeitet werden kann.

Jede dritte Erdbeere ist unbrauchbar

Zehn bis fünfzehn Kilo pro Stunde erntet eine gute Pflückerin – bei gutem Wetter. Die heurige Saison war allerdings durchwachsen, berichtet der Erdbeerbauer, der lieber anonym bleiben will. „Die Menge hat schon gepasst, aber die Qualität war zum Teil ein Jammer. In der Anfangsphase der Ernte ist uns fast nichts verloren gegangen, in der Mitte hatten wir einen Ausfall von fast 80 Prozent und jetzt gegen Ende etwa 30 Prozent. Heuer ist es der Regen, voriges Jahr war es die Hitze.“ Folientunnels sind zwar sehr teuer, dafür wäre der Ertrag dreimal so hoch, und die Saison ginge bis in den Oktober hinein und nicht nur bis Mitte Juni. Sein Betrieb setzt aber bewusst nicht auf Masse und beliefert keine Supermärkte, sondern vermarktet seine saisonalen Produkte regional in überschaubaren Mengen im eigenen Hofladen.

Vier Erdbeeren liegen auf dem Stroh im Feld.
Quizfrage: Welche diese vier Erdbeeren darf nicht ins Körbchen? Antwort: keine davon. Was jeweils nicht passt, erkennt nur das geschulte Auge der Pflückerin.
© WZ

Die Verarbeitungszeit ist so kurz wie die Transportwege, denn selbst die schönsten Erdbeeren halten keine drei Tage. „Außer es sind spezielle Sorten, die aber nicht gut schmecken“, meint er. „Die werden rot und sind steinhart, kein Vergleich zu einer frischen Erdbeere vom Feld. Oder aber sie werden in irgendeiner Form behandelt.“ Er selbst baut fünf verschiedene Züchtungen an, die unterschiedlich schnell reifen, um die Saison ein bisschen auszudehnen.

Eine Momentaufnahme beim Erdbeerpflücken am Feld.
Der Erntetag beginnt oft um fünf Uhr früh.
© Fotocredit: Mathias Ziegler

Der Regen hat für viele Unterbrechungen gesorgt, die Natalya und ihren Mitpflückerinnen gar nicht recht waren. „Zeit ist Geld“, sagt sie, ohne innezuhalten. Bezahlt wird nach Stunden. Der Arbeitstag beginnt oft schon um fünf Uhr früh – und endet allzu oft schon nach wenigen Stunden, weil das Wetter nicht mehr mitspielt. Genau deshalb, erklärt der Erdbeerbauer, entlohnt er seine Pflückerinnen nicht nach der geernteten Menge, wie es andere Betriebe tun. Er kann aber auch diesen Ansatz nachvollziehen: „Es hat natürlich auch etwas für sich, wenn man mehr bekommt, je mehr man leistet. Aber es gibt eben auch schlechte Tage, an denen man gar nicht so viel ernten kann. Und unsere Leute entfernen auch gleich die kaputten Erdbeeren, damit die anderen besser wachsen können, und rupfen das Unkraut raus. Das deckt der Stundenlohn mit ab.“

Seit dem Kriegsbeginn bleiben die Männer aus

Mit Blick auf manchen Skandal um die Unterbringung von Erntehelfer:innen betont der Erdbeerbauer die hochwertige Ausstattung seiner Gästezimmer im renovierten Bauernhaus. Er weiß aber, dass diese nicht überall Standard ist. Und er kennt auch den Vorwurf, billige Arbeitskräfte auszubeuten, zur Genüge. „Der kommt von denselben Leuten, die dann im Geschäft die Erdbeeren um zehn Euro pro Kilo kaufen, die womöglich in Spanien von unterbezahlten Marokkanern gepflückt worden sind und durch halb Europa gereist sind“, ärgert er sich; er selbst verlangt für seine Erdbeeren zwölf Euro. Eigentlich würde er den Preis gern noch höher ansetzen, aber dann wäre er nicht mehr konkurrenzfähig.

Im näheren Umkreis von Europa wird es keine billigen Arbeitskräfte mehr geben.
Georg Wiesinger (Bundesanstalt für Agrarwirtschaft und Bergbauernfragen)

Insgesamt habe sich die Situation der Erntehelfer:innen im Vergleich zu früher stark verbessert, meint der Erdbeerbauer. Zum Beispiel gebe es inzwischen kaum noch nicht angemeldete Arbeitskräfte, „das traut sich keiner mehr bei den vielen Kontrollen.“ Die Zahl der Ukrainer:innen in der österreichischen Landwirtschaft hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Bis vor dem Krieg kamen weit mehr Männer als Frauen, das hat sich nun ins Gegenteil verkehrt. Seit der Corona-Krise und den damit einhergehenden Grenzschließungen und dem Beginn des Kriegs in der Ukraine wird es immer schwieriger, Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu bekommen. Das sagt auch Georg Wiesinger von der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft und Bergbauernfragen, der gemeinsam mit Julia Bock-Schappelwein vom WIFO die Situation der ausländischen Erntehelfer:innen erforscht hat.

Herkunftsländer werden zu Zielländern

„Im näheren Umkreis von Europa wird es aufgrund der demografischen Verhältnisse in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren keine billigen Arbeitskräfte mehr geben“, prognostiziert Wiesinger. Herkunftsländer werden mittlerweile zu Zielländern. „Die Leute gehen inzwischen nach Polen zum arbeiten, weil dort die Löhne mitunter schon höher sind als in Österreich und ihnen die Kultur näher ist.“ Da sich das Einfliegen aus fernen Ländern in der Regel finanziell nicht auszahlt – auch wenn mitunter bereits Vietnames:innen als Erntehelfer:innen geholt werden –, stellt Wiesinger in Frage, ob bestimmte Produktionssparten in Zukunft aufrecht erhalten werden können. „Und man muss über globale Lieferketten sprechen.“ Mit arbeitslosen Inländern ließe sich die Lücke auf keinen Fall schließen, davon ist der Erdbeerbauer, der hier nicht namentlich genannt werden will, überzeugt. „Wir hatten schon vom AMS vermittelte Kräfte da – aber die waren nach einem Tag wieder weg, weil ihnen die Arbeit zu mühsam war.“

Der Ernteroboter SHIVAA
Der Ernteroboter SHIVAA wird gerade auf Erdbeerfeldern erprobt.
© DFKI GmbH / Annemarie Popp

Schlägt nun die Stunde der Robotik? Der Erdbeerbauer kann sich das nur schwer vorstellen, und selbst die deutschen Entwickler eines Erdbeerernteroboters relativieren auf Anfrage der WZ, dass ihre Maschine menschliche Arbeitskräfte wahrscheinlich nur unterstützen, aber nicht ersetzen könnte. Und wer Natalya und Irina bei der Erdbeerernte zusieht, ist geneigt, dem zuzustimmen. Denn erstens braucht es extrem viel Fingerspitzengefühl: Der Stängel wird knapp über der Frucht vorsichtig mit dem Fingernagel abgerissen, ohne die Erdbeere dabei allzu fest zu drücken. Und zweitens sortieren Natalya und ihre ukrainischen Mitpflückerinnen Früchte aus, bei denen nur das geschulte Auge erkennt, dass sie zwar aktuell reif und schön rot aussehen, aber keinen Tag im Obstkorb überleben würden. Dass ein Roboter beides schafft, kann man sich nur schwer vorstellen.


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Infos und Quellen

Genese

Als WZ-Redakteur Mathias Ziegler von der Entwicklung eines Roboters für die Erdbeerernte las, drängte sich ihm die Frage auf inwieweit eine Maschine tatsächlich den Menschen ersetzen kann. Eine Antwort darauf suchte er vor Ort auf dem Erdbeerfeld.

Gesprächspartner:innen

  • Andrii, ein ukrainischer Erntehelfer

  • Julia Bock-Schappelwein ist Ökonomin am Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO)

  • Natalya, eine ukrainische Erntehelfer:in

  • Heiner Peters entwickelt am Robotics Innovation Center des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz einen Roboter für die Erdbeerernte mit

  • Georg Wiesinger ist Abteilungseiterin-Stellvertreter in der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft und Bergbauernfragen BAB

  • Der von der WZ besuchte Erdbeerbauer im Marchfeld wollte lieber anonym bleiben

Daten und Fakten

Saisonarbeitskräfte aus Staaten außerhalb der EU brauchen in Österreich eine spezielle Beschäftigungsbewilligung. Hier gibt es eine Quotenregelung, die jedes Jahr neu verhandelt wird. Sie dürfen bis zu sechs Monate im Land bleiben (in Ausnahmefällen auch neun Monate). Eine eigene Regelung für Stammsaisoniers besagt, dass Arbeitskräfte, die in den vergangenen fünf Jahren mindestens drei Kalenderjahre jeweils 90 Tage in Österreich gearbeitet haben, einen vereinfachten Zugang an der Quotenregelung vorbei bekommen. Dazu kommt eine Soderregelung für Ukrainer:innen. In der gesamten Landwirtschaft beträgt der Ausländer:innenanteil rund 60 Prozent, beim Anbau (inklusive Ernte) sind es fast 70 Prozent. Je mehr Saisonalität, desto mehr ausländische Arbeitskräfte gibt es.

Der Kollektivvertrag für Erntehelfer:innen beträgt seit 1. Jänner 2024 zwischen 1712,34 und 1834,66 Euro brutto abhängig von der vereinbarten Verrechnungsart. Allerdings seien ausländische Arbeitskräfte ausbeutungsanfällig, weil es ihnen oft an Informationen über ihre Rechte mangle, meint Georg Wiesinger von der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft und Bergbauernfragen. „Mitunter werden sie auch von den Vermittlern aus ihrer Heimat finanziell ausgenutzt. Saisoniers sind also Angehörige einer vulnerablen Gruppe.“ Er betont aber, dass es in vielen Betrieben, die ausländische Arbeitskräfte beschäftigen, ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen gibt, „das macht Kontrollmechanismen seitens der Betriebe obsolet. Vertrauen schafft faire Arbeitsverhältnisse – trotzdem bleiben es Abhängigkeitsverhältnisse.“ Und viele Arbeitskräfte sind gut vernetzt. Die neue GAP-Strategie der EU soll dafür sorgen, dass Betriebe für faire Arbeitsbedingungen sorgen, weil sie sonst bei den Förderungen Probleme bekommen.

Der von der WZ besuchte Erdbeerbauer hadert mit ungleichen Arbeitsmarktverhältnissen in der EU: „In Deutschland beträgt der Mindestlohn 12 Euro statt 8 Euro wie bei uns, und die Arbeitgeber haben keine Lohnnebenkosten. Dafür gibt es nur eine Unfallversicherung und keine Krankenversicherung. Wenn die Leute krank werden, schickt man sie heim. Aber es ist für viele lukrativer, also gehen sie dorthin. Das Obst darf dann auch bei uns in Österreich verkauft werden.“

Was den Einsatz von Ernterobotern auf Erdbeerfeldern betrifft, so arbeiten mehrere Forschungsgruppen weltweit an deren Entwicklung. Das Robotics Innovation Center des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz zum Beispiel testet gerade seine Maschine erstmals auf dem freien Feld. „Bis wir den gesamten Prozess von der Erdbeererkennung bis zum vollautonomen Abpflücken der Früchte demonstrieren können, wird es aber noch mindestens bis zum Ende der Saison dauern“, meint Heiner Peters, der die Roboter RoLand und SHIVAA (das Kürzel steht für „Strawberry Harvester: an Innovative Vehicle for Application in Agriculture“) mitentwickelt. Bisher wird ausschließlich zur Erdbeerernte geforscht, das System könnte aber in Zukunft mit kleineren Anpassungen auch für andere Obst- und Gemüsesorten, etwa Gurken genutzt werden. Wie viel ein finaler, serienreifer Ernteroboter dann kosten würde, lässt sich noch nicht seriös berechnen. Peters schränkt auch ein: „Mit dem hier entwickelten Roboter werden wir zunächst nicht alle Früchte finden können, die menschliche Arbeitskräfte sehen. Zum Beispiel von Blättern verdeckte Früchte können wir bislang nicht aufspüren. Zudem werden wir aufgrund der Komplexität des Greifvorgangs auch nicht alle Erdbeeren abpflücken, die wir bereits als reife Früchte identifiziert haben. Der Mensch kann an der Stelle also noch deutlich sauberer arbeiten.“ Ein Vorteil ist allerdings, dass der Roboter auch in der Nacht pflücken kann und seine Arbeitszeit keinen gesetzlichen Limitierungen unterliegt.

Quellen

Das Thema in anderen Medien