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Weiblicher Schmerz

6 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine feministische Kolumne zu einem aktuellen politischen Thema für die WZ.
© Illustration: WZ

Das medizinische System nimmt Frauen, ihre Gesundheit, ihre Sicherheit und ihren Schmerz nicht ernst: Das hat lebensbedrohliche Folgen.


Anfang August wurde eine Studie publiziert, die zum Ergebnis hatte, dass Frauen in Notaufnahmen länger warten als Männer und zudem auch noch weniger schmerzstillende Mittel erhalten. Während sich viele Kommentatoren auf Social Media ob der Ungleichbehandlung und medizinischen Diskriminierung von Frauen ungläubig zeigten und anzweifelten, ob die israelisch/amerikanischen Ergebnisse auf europäische Gesundheitssysteme übertragbar seien, lockte die Meldung informierten Feministinnen höchstens ein mildes Lächeln hervor. Denn tatsächlich sind die Ergebnisse der Studie nicht neu. Es gibt eine lange Liste an Studien, die zu früheren Zeitpunkten ähnliche Ergebnisse brachten: Frauen warten länger in Notaufnahmen, Frauen erhalten weniger Schmerzmittel, Frauen werden im Fall von Krebs zu spät behandelt, Frauen erhalten auch bei physischen Beschwerden überdurchschnittlich oft Psychopharmaka.

Frühere Studien

So wurde beispielsweise bereits 2008 eine USA-weite Studie durchgeführt, um potenzielle geschlechtsspezifische Unterschiede bei Wartezeiten in Notaufnahmen zu ermitteln. Das Ergebnis war erschreckend: Männer mit akuten Unterleibsschmerzen warteten in Ambulanzen im Durchschnitt 49 Minuten, Frauen im Durchschnitt 65 Minuten, bis sie Schmerzmittel erhielten – das sind 16 Minuten länger. Oder: Eine Studie, die die Verabreichung von Schmerzmitteln nach Bauchoperationen untersuchte, kam zum Schluss, dass Frauen im Alter von 55 Jahren oder älter weniger Schmerzmittel verschrieben bekamen als Männer derselben Altersgruppe. Oder: Männliche Patienten, die sich einer Bypass-Operation an den Koronararterien unterzogen, bekamen öfter starke Schmerzmittel als Patientinnen, während letztere häufiger Beruhigungsmittel erhielten. Oder: Eine Studie über postoperative Schmerzen bei Kindern hatte zum Ergebnis, dass Jungen signifikant stärkere Schmerzmittel erhielten als Mädchen. Oder: Wenn Patient:innen unter Brustschmerzen leiden, werden sie weniger wahrscheinlich ins Krankenhaus gebracht, wenn sie Frauen sind. Oder: Wenn Patient:innen mit chronischen Schmerzen in eine Spezialklinik für ihre Schmerzbehandlung überwiesen wurden, wurden Männer häufiger von Allgemeinmediziner:innen überwiesen, Frauen öfter von Spezialist:innen. Grund hierfür ist, dass Frauen bei ihren ersten Begegnungen mit Gesundheitsdienstleister:innen auf Unglauben stoßen.

Oder: Während der Aids-Epidemie in den frühen 1990ern erhielten betroffene Frauen weniger Schmerzmittel als Männer und bis zur Verschreibung dieser Schmerzmittel verging auch mehr Zeit. Oder: Eine Studie aus dem Jahr 1994 konnte nachweisen, dass Frauen mit metastasierenden Krebserkrankungen fünfmal weniger Schmerzmittel erhalten als Männer. Oder: Krebs bleibt bei Frauen viel länger undiagnostiziert. 25 Prozent aller Patientinnen mit Gehirntumoren wenden sich bereits ein Jahr vor der Diagnosestellung mit krebsbedingten Symptomen an Ärzt:innen, werden aber nicht ausreichend ernst genommen. Auch Schlaganfälle werden bei Frauen um 30 Prozent wahrscheinlicher falsch diagnostiziert, ähnliches gilt für Herzinfarkte.

Die aktuelle Studie

Oder: die aktuelle Studie. Sie untersuchte Daten in Form von 20.000 Patient:innenakten aus den USA und aus Israel und kam zum Schluss, dass Frauen 30 Minuten länger in Notaufnahmen warten mussten als Männer. Die Daten aus Israel zeigten außerdem, dass 47 Prozent aller Männer, aber nur 38 Prozent aller Frauen, die mit Schmerzen in die Notaufnahme kamen, schmerzstillende Medikamente erhielten. Dies war unabhängig von der Stärke der Schmerzen und vom Alter der Patient:innen der Fall. Schmerzwerte werden bei weiblichen Patientinnen zudem seltener erfasst als bei männlichen Patienten.

Weiters wurde im Rahmen der Studie ein Experiment durchgeführt: 109 Ärzt:innen und Pfleger:innen wurde ein Fall vorgelegt, der entweder einen Patienten oder eine Patientin mit starken Rückenschmerzen beschrieb. Das Geschlecht der zu behandelnden Person war die einzige Variable in der Beschreibung, abgesehen davon war das Szenario immer gleich. Nach der Fallbeschreibung sollten die Ärzt:innen und das Pflegepersonal die Schmerzen der fiktiven Patientin oder des fiktiven Patienten auf einer Skala von null bis 100 einschätzen.

Beschrieb das fiktionale Szenario einen männlichen Patienten, wurden seine Schmerzen häufiger bei 90 und im Durchschnitt mit 80 eingestuft. Wurde jedoch das exakt gleiche Problem bei einer Frau beschrieben, fiel die Schmerzbewertung niedriger aus, und wurde im Durchschnitt mit 72 eingestuft. Diese Unterschiede traten sowohl im Experiment als auch in den analysierten Daten auf und unabhängig vom Geschlecht des medizinischen Personals.

Weiblicher Schmerz wird nicht ernstgenommen

Die Studie reiht sich in zahlreiche andere Untersuchungen ein, die folgende Erkenntnis erbracht haben: Weiblicher Schmerz wird viel weniger ernstgenommen als männlicher. Frauen wird mehr und länger Schmerz zugemutet, bevor sie Hilfe erhalten. Männlicher Schmerz führt zu mehr und zu schnelleren Interventionen.

Und, das ist kein Ergebnis der aktuell publizierten Studie, aber eine Erkenntnis aus vielen vorhergegangenen: Frauen erhalten öfter Psychopharmaka für physische Erkrankungen und Beschwerden, weil davon ausgegangen wird, dass diese psychischer Natur sind, dass Frauen übertreiben würden oder „hysterisch“ seien. Das führt nicht zuletzt dazu, dass Frauen, weil sie Frauen sind, nicht die richtige Diagnose erhalten, leiden müssen und nicht rechtzeitig oder ausreichend behandelt werden. Das kostet ihnen im schlimmsten Fall ihr Leben, in jedem Fall Gesundheit und Lebensqualität.

Der männliche Körper als Normkörper

Und dann kommt noch hinzu, dass die Medizin – sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Praxis – lange Zeit überhaupt nur den männlichen Körper im Blick hatte, weswegen frauentypische Symptome von Erkrankungen oftmals unbekannt oder weniger bekannt sind – das berühmteste Beispiel hierfür ist der Herzinfarkt: Frauen erleiden ihn zwar seltener als Männer, aber wenn sie betroffen sind, haben sie eine höhere Sterblichkeitsrate, da sie oft andere Symptome zeigen als Männer und diese Unterschiede lange Zeit nicht beachtet wurden. Der männliche Körper galt längste Zeit als der Normkörper schlechthin, das ist ein misogyner Irrtum mit schwerwiegenden Folgen. Neben der Falsch-, Zu-Spät- oder Nichtdiagnostizierung von Erkrankungen bei Frauen und damit einhergehender Zu-Spät- oder Nichtbehandlung führte es auch dazu, dass jene Erkrankungen, die Frauen betreffen, schlechter bis gar nicht erforscht wurden (ein klassisches Beispiel hierfür ist die Endometriose) oder dass selbst über völlig gesunde körperliche Vorgänge im weiblichen Körper sogar bei medizinischem Fachpersonal wenig Wissen vorherrscht. So ist es beispielsweise eine Herausforderung, Ärzt:innen zu finden, die die Menopause auch nur auf dem Schirm haben oder sich gar mit ihren vielfältigen Symptomen und Herausforderungen auskennen. Absurd, wenn man sich vor Augen hält, dass die Hälfte der Weltbevölkerung den Wechsel durchlebt. Die Setzung des männlichen Körpers als Normkörper führte auch dazu, dass Impfungen und Medikamente lang nur am männlichen Körper getestet wurden.

Viele dieser Mittel wirken jedoch anders oder stärker auf den weiblichen Organismus oder haben andere Nebenwirkungen und Risiken. Diese Vernachlässigung hat weitreichende Konsequenzen für die Gesundheit von Frauen.

All das kostet Frauen im schlimmsten Fall ihr Leben, in einem sehr wörtlichen Sinn. Vielen anderen Frauen verunmöglicht der misogyne Bias in der Medizin ein gesundes, schmerzfreies Leben. Was wir nämlich auch wissen: Frauen leben zwar länger als Männer, aber sie haben viel weniger gesunde Lebensjahre, viel weniger Jahre ohne Krankheit und Schmerzen. Das ist kein Zufall, sondern hat System in einer Welt, die weibliche Körper, weibliche Gesundheit, weibliche Sicherheit, weiblichen Schmerz nicht ernst nimmt.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

Das Thema in anderen Medien