Gerade Episoden exzessiver Gewalt können auch Wendepunkte in Konflikten sein. Wie man dem Terror die Grundlage entzieht, zeigen Beispiele aus Europas jüngster Vergangenheit.
In Nahost dreht sich nach dem Terror der Hamas die Gewaltspirale immer schneller, es droht eine Ausweitung des Krieges mit tausenden Toten. Die Situation ist verfahren, der Friedensprozess stockt seit Jahren. Analyst:innen sprechen von einer hoffnungslosen Lage, die Gewalterfahrungen für die Menschen – Israelis und Palästinenser:innen – sind unglaublich. „Irgendwann aber kommt der Punkt, an dem sich die Frage stellt, wie man da wieder rauskommt“, sagt der österreichische Friedensforscher Adham Hamed im Gespräch mit der WZ. Episoden besonderer Gewalt hätten sich ganz generell schon öfter als Wendepunkte von Konflikten erwiesen.
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Nach dem „Bloody Sunday“ am 30. Jänner 1972 in Nordirland etwa konnte sich niemand eine Lösung des Konflikts zwischen Protestant:innen und Katholik:innen vorstellen. 13 Menschen starben, als britische Soldaten in eine friedliche Kundgebung schossen. Die Gewalt eskalierte, die IRA verübte Anschläge, die Protestant:innen schlugen zurück. Im Laufe des Jahres 1972 starben 479 Menschen, 4.876 wurden verletzt. Lösung war keine in Sicht. Rund 25 Jahre später kam es dennoch zu einem Friedensabkommen, das dem Terror der IRA die Basis entzog – wenn es auch die gesellschaftlichen Gräben nicht zugeschüttet hat. Dem ging ein politischer Prozess voraus: Kompromisse, ein aufeinander Zugehen, Akzeptanz der Gegenseite und Vermittlung der USA.
„Gelungene Autonomielösung“ für Baskenland
Das war in Nordirland so und auch im spanischen Baskenland. Dort starben mehr als 800 Menschen, weil die ETA nach dem Zweiten Weltkrieg einen unabhängigen Staat durch Terror erzwingen wollte. Durch die Einigung auf eine „gelungene Autonomielösung“, wie Friedensforscher Hamed sagt, wurde dem Terror der Wind aus den Segeln genommen. „Irgendwann hatte die ETA kaum noch Unterstützung in der Bevölkerung“, weiß Hamed. Die charakteristisch vermummten baskischen Terroristen tauchen heute nicht mehr im Fernsehen auf.
Beispiele, die Mut machen, auch wenn man in Nahost von einer Friedenslösung so weit weg ist wie nie zuvor. Israelis und Palästinenser:innen leben schon seit 1948 in zwei völlig verschiedenen Realitäten. Heute herrscht eine Extremsituation: Auf der einen Seite die Hamas, die Israel auslöschen will, auf der anderen Seite eine israelische Regierung mit Ultranationalisten und Rechtsextremen, die einen Anspruch auf das komplette biblische Israel erheben – ohne Araber. Doch der gordische Knoten könnte sich auflösen.
Hamas nicht so populär wie gedacht
Einer Lösung im Weg steht in erster Linie die Hamas, doch die hat nach 16 Jahren Gewaltherrschaft im Gazastreifen nicht mehr eine klare Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Die Gesellschaft dort ist gespalten, die meisten wünschen sich laut Umfragen die moderate Palästinensische Autonomiebehörde PA zurück, die im Westjordanland das Sagen hat, mit Israel reden kann und von der Hamas brutal aus Gaza vertrieben wurde. Es gibt auch in Gaza große Gruppen, die in einem gewaltlosen Widerstand den besten Weg sehen und der Hamas massiv misstrauen.
Zudem haben der Terrorangriff und die humanitäre Katastrophe in Gaza dazu geführt, dass die USA an einem Friedensplan arbeiten. Das ist neu nach Jahren der Lethargie und unsinniger Ansätze der Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump. Mit seinem Nachfolger Joe Biden ist jetzt ein erfahrener und fähiger Außenpolitiker Präsident in Washington. Dem Plan der Amerikaner zufolge könnten arabische Staaten wie Ägypten und Jordanien eine Art Vormundschaft über den Gazastreifen übernehmen. Die Palästinensische Autonomiebehörde würde mit der unmittelbaren Verwaltung betraut, die reichen Golfstaaten die Geldbörse zücken und die Kosten decken.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiß zwar noch niemand, wie man die Hamas genau loswerden könnte. Die Resultate der israelischen Offensive in Gaza stehen aus. Möglich aber, dass die Islamisten mit ihrem jüngsten Terrorangriff den Bogen überspannt haben. Washington will jedenfalls verhindern, dass Israel dauerhaft Soldat:innen in Gaza stationiert. Der Friedensprozess mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung soll wieder in Gang kommen, um den Palästinenser:innen eine Perspektive zu geben. Klingt nach Utopie. Trotzdem: In Nahost ist etwas in Bewegung geraten.
Rache führt in Sackgasse
Die Frage ist, ob sich Israel als dominanter Player nach den Jahren des Verhinderns ernsthaft einer Friedenslösung zuwendet. Unter Premier Benjamin Netanjahu scheint das ausgeschlossen, auch im Hinblick auf die derzeitige Regierung, in der Ultranationalisten und Rechtsextreme sitzen. Aber viele in Israel sehen, dass sie in einer Sackgasse gelandet sind. Israel wollte im Jahr 2006 die radikalislamische Hisbollah im Libanon ein für alle Mal militärisch erledigen, musste dann schrittweise zurückrudern und schließlich erkennen, dass das überhaupt nicht möglich ist. Die israelischen Streitkräfte zogen sich zurück, ohne ihr Vorhaben ansatzweise umgesetzt zu haben. „Jetzt ist die Hisbollah 17 Jahre danach ein Faktor, an dem niemand vorbei kann“, erklärt Friedensforscher Hamed. Das Gleiche könnte im Fall der Hamas passieren – eine Horrorvorstellung. Dazu kommt, dass die jüngere US-Geschichte den Israelis vor Augen führt, dass blinde Wut nach einem Terrorangriff ein schlechter Ratgeber ist. Die USA mussten das nach 9/11 und nach den Fehlschlägen in Afghanistan und im Irak am eigenen Leib erfahren.
Es hat schon funktioniert
Noch ist eine Lösung in Nahost nicht erkennbar, doch ist klar, wie ein Weg in Richtung Entspannung aussehen könnte. Theoretisch. Die Konflikttransformationsforschung kennt jedenfalls mehrere Ebenen, auf denen ein Friedensprozess aufgesetzt werden kann, erklärt Hamed. Neben hochrangiger offizieller politischer Verhandlungsführung sollten beispielsweise die Zivilgesellschaft, Vertreter:innen der Religionsgemeinschaften und die Universitäten in den Prozess einbezogen werden.
Im Fall Israels sei jetzt die erste Reaktion, dass man nach der Terrorattacke mit militärischen Mitteln für Sicherheit sorgen wolle. „Das allein greift zu kurz“, warnt der Friedensforscher. Es gehe darum, Gesprächspartner:innen zu identifizieren, Kommunikationskanäle zu etablieren, Verhandlungen zu starten und die Schicksale auf der anderen Seite zu sehen. Reine Utopie? In Nordirland, im Baskenland und in Kolumbien, wo ein Bürgerkrieg mehr als 200.000 Tote forderte, hat dieser Zugang in Teilen bereits funktioniert.
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Infos und Quellen
Genese
Immer wieder wird behauptet, dass im Fall Nahost eine Lösung prinzipiell nicht möglich sei. Das wollte Redakteur Michael Schmölzer nicht so stehen lassen und mögliche Wege aufzeigen, wie das Blutvergießen zumindest von künftigen Generationen beendet werden könnte. Nicht in dieser Generation, aber vielleicht von der nächsten. Die Friedensforschung sowie die Beispiele Nordirland und Baskenland zeigen jedenfalls auf, dass die Hoffnung lebt.
Gesprächspartner
Wichtige Hinweise hat der österreichische Friedensforscher Adham Hamed geliefert. Er lehrte an der Universität Innsbruck, in Haramaya, Äthiopien und an der Universität Bagdad und wusste Interessantes zum Thema Konflikttransformationsforschung zu berichten.
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