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Wie der Rechtsextremismus in Frankreich wählbar wurde

10 Min
Frankreich ist knapp an einer rechtsextremen Regierung vorbeigeschrammt.
© Bildquellen: Adobe Stock, Getty und Reuters

In Frankreich konnte die Absolute der Rechtsextremen verhindert werden. Historiker Jérôme Segal erklärt, wie es nun weitergehen könnte – und warum es ihn als Jude traumatisiert, dass so viele Jüdinnen und Juden Marine Le Pen ihre Stimme gaben.


Frankreichs Brandmauer gegen die Rechtsextremen hat gehalten. In der zweiten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen vergangenen Sonntag konnte der Rassemblement National (RN), vormals Front National, von Marine Le Pen, nicht wie erwartet die absolute Mehrheit erreichen. Gewonnen hat überraschend das linksgrüne Wahlbündnis, die „Neue Volksfront“, knapp vor Präsident Emmanuel Macrons Regierungsallianz „Ensemble“. Für Le Pens Partei reichte es nur für Platz 3. Nun wird befürchtet, dass sich die republikanische Front gegen rechts zu keiner Regierung durchringen können wird und dem Land Instabilität droht. Der franko-österreichische Historiker und Publizist Jérôme Segal erklärt im Interview, wie schwer es wird, eine Regierung zu bilden, den Vorwurf einer antisemitischen Linken und warum so viele Juden und Jüdinnen bei dieser Wahl einer rechtsextremistischen Partei ihre Stimme gegeben haben.

WZ | Solmaz Khorsand

Was bedeutet das Wahlergebnis für die zukünftige Regierungsbildung?

Jérôme Segal

Da es keine absolute Mehrheit gibt, muss bei jedem einzelnen Thema und jedem Gesetz ein neues Bündnis gebildet werden. Es wird sehr schwierig sein, Frankreich so zu regieren. Wir sind keine Koalitionsregierungen gewöhnt. Zumal es schon innerhalb des Linksbündnisses so viele verschiedene Positionen gibt, etwa beim Thema Atomkraft. Die Grünen wollen das partout nicht, die Kommunisten sind dafür. Allein innerhalb dieser Gruppe von 182 Abgeordneten wird es schwierig sein, einen Konsens zu finden, geschweige denn mit den anderen politischen Lagern.

WZ | Solmaz Khorsand

Präsident Emmanuel Macron hat seinen Premier Gabriel Attal gebeten, vorerst Ministerpräsident zu bleiben, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Er hat die Regierungsbildung auf die Zeit nach den Olympischen Spielen, die von 26. Juli bis 11. August in Paris stattfinden, verschoben. Könnte Macron das Ergebnis auch einfach aussitzen, ein paar Expert:innen ernennen und in einem Jahr wieder wählen lassen?

Jérôme Segal

Ja, wenn er sich an Belgien ein Beispiel nehmen würde. Da gab es zwei Jahre lang keine richtige Regierung, nur eine Expertenregierung. Es ist möglich, dass Frankreich eine ähnliche Zukunft hat, aber das halte ich für unwahrscheinlich, weil Macron selbst seine Programme umsetzen will. Das wird schwierig, aber Frankreich wird trotzdem eine politische Regierung bekommen.

WZ | Solmaz Khorsand

Sie haben bereits angesprochen, wie unterschiedlich die einzelnen Fraktionen im Linksbündnis sind. Hinzu kommt, dass deren prominentester Vertreter, Jean-Luc Mélenchon von der linkspopulistischen „La France insoumise“, als charismatisch, aber autoritär gilt. Ist so ein Linksbündnis überhaupt in der Lage zu regieren?

Jérôme Segal

Ich denke schon, aber ohne Mélenchon. Er ist sehr umstritten und spielt auch bewusst damit. Er nimmt wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Meinungen und viele – auch innerhalb des Bündnisses – sind damit überhaupt nicht einverstanden, dass er Premierminister wird.

WZ | Solmaz Khorsand

Viele werfen ihm vor, dass er Antisemit sei, weil er den Judenhass in Frankreich kleinrede und jüdische Politiker:innen auf ihre jüdische Identität reduziert.

Jérôme Segal

Das war Teil einer großen Kampagne gegen ihn. Ich halte Mélenchon nicht für einen Antisemiten und die Vorwürfe für übertrieben. Ich denke aber trotzdem nicht, dass er Premierminister sein kann, aber innerhalb seiner Partei, La France Insoumise, gibt es vernünftige Menschen, die als Premierminister fungieren könnten. Und auch bei den Grünen: ihre Chefin, Marine Tondelier, zum Beispiel.

WZ | Solmaz Khorsand

Die aktuelle Situation hat Frankreich Macron zu verdanken, der nach der EU-Wahl unerwartet Neuwahlen ausgerufen hat. Handelt es sich bei ihm tatsächlich um den arroganten Sonnenkönig, der nicht weiß, wie unbeliebt er ist?

Jérôme Segal

Ja, er ist sehr kapriziös. Französische Psychologen beschreiben folgendes Bild: Macron hat am Strand eine Sandburg gebaut. Dann ist sie bei den EU-Wahlen kaputt gegangen und jetzt will er alles kaputt machen, weil sein Schlösschen kaputt ist. Es ist wirklich kindisch, wie er reagiert hat. Er hat behauptet, dass er mit dieser Wahl Klarheit will. Jetzt hat er seine Klarheit: Er ist wirklich so unbeliebt.

WZ | Solmaz Khorsand

Jede Wahl in Frankreich ist ein Showdown zwischen den Rechtsextremen und der „Republikanischen Front“. 2002 war diese Front noch sehr stark, als 82 Prozent für Präsident Jacques Chirac gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gestimmt haben. 20 Jahre später haben „nur“ mehr 58 Prozent für Macron gegen Marine Le Pen gestimmt. Was ist passiert in 20 Jahren?

Jérôme Segal

Es gab eine Normalisierung des Rassemblement National mit Marine Le Pen. Ihr ist es gelungen, das Image ihrer Partei zu verbessern. Sie war nicht so provokant wie ihr Vater Jean-Marie Le Pen, ein Holocaustleugner, der sechsmal wegen Rassismus und Antisemitismus verurteilt wurde. Außerdem hat Marine Le Pen Glück gehabt.

WZ

Glück?

Jérôme Segal

Weil der Rechtsextreme Éric Zemmour 2021 eine neue Partei gegründet hat, die „Reconquête“, die Wiedereroberung, eine noch rechtere Partei als der RN. Zemmour, selbst Sohn jüdischer, algerischer Einwanderer, hetzt offen gegen Migranten, will nicht-französische Vornamen verbieten lassen, kokettiert mit der Todesstrafe und verharmlost das Nazi-kollabierende Vichy-Regime. Er ist „das neue Böse“, der Teufel, wenn man so will, und Marine Le Pen wirkt im Vergleich richtig sanft, anständig und damit wählbar.

WZ | Solmaz Khorsand

Sie hat ihren Vater 2015 aus der Partei geschmissen und auch bei der EU-Wahl die AfD aus der gemeinsamen Parlamentsfraktion, nachdem der AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah behauptet hat, dass nicht alle SS-Männer Verbrecher waren. Hat sich die Partei wirklich verändert oder haben sich die Franzosen verändert?

Jérôme Segal

Beide. Die Franzosen haben gesehen, dass Macron sehr viel von den Rechtsextremen übernimmt. Er hat beispielsweise in seiner bisherigen Amtszeit viele Gesetze beschlossen, die aus dem RN-Programm stammen könnten, wie die Sozialhilfen für Ausländer zu kürzen. Das signalisiert den Leuten, dass die Rechtsextremen nicht so schlimm sein können, wenn ein Zentrist wie Macron manche ihrer Programmpunkte übernimmt. Das macht eine Marine Le Pen nicht so schlimm.

WZ | Solmaz Khorsand

In diesem Wahlkampf war das Thema Antisemitismus sehr präsent. Mit einem großen Paradoxon. Der Rassemblement National konnte sich als die Partei positionieren, die auf der Seite Israels für die Rechte der Juden und Jüdinnen einsteht, während das Linksbündnis hauptverantwortlich gemacht wurde für den Anstieg des Judenhasses in Frankreich. Wie ist das möglich?

Jérôme Segal

Die Erklärung ist ein Wort: Israel. In Israel gibt es auch eine Regierung mit Rechtsextremen. Je mehr die Rechtsextremen in Israel die Macht übernommen haben, desto mehr haben sich die Kontakte zu den Rechtsextremen in Europa intensiviert. Viele sind nach Israel gereist. Wir erinnern uns an den ehemaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der vor der Regierungsbeteiligung der FPÖ nach Israel gekommen ist und dort mit offenen Armen empfangen wurde. Der Grund für diese Allianz ist leicht erklärt: Sie haben die gleichen Feinde. Das sind die Araber und die Muslime.

WZ | Solmaz Khorsand

Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 hat das französische Innenministerium gemeldet, dass die Angriffe auf Juden und Jüdinnen von 436 im Jahr 2022 auf 1.676 gestiegen sind. Sie selbst sind Jude, wie sicher fühlen Sie sich in Ihrer Heimat?

Jérôme Segal

Ich fühle mich komplett sicher, aber ich trage keine Kippa. Das heißt, man sieht nicht, dass ich Jude bin, wenn ich einfach auf der Straße spaziere. Aber ich verstehe, dass religiöse Juden Probleme haben können.

WZ | Solmaz Khorsand

In der Vergangenheit gab es immer wieder Berichte jüdischer Mitbürger:innen in Europa, dass sie aufgrund des Antisemitismus in Europa nach Israel auswandern.

Jérôme Segal

Ich kann mir das für mich nicht vorstellen. Israel ist für die Juden im Vergleich zu westlichen Ländern viel gefährlicher. Außerdem sehe ich nicht ein, warum ich als Franko-Österreicher das Recht hätte, dort Land zu kaufen, Zuschüsse und Beihilfen zu bekommen, während ein Palästinenser, der 1947 vertrieben wurde, in diesem Land nicht leben kann. Das ist ein No-Go für mich.

WZ | Solmaz Khorsand

Wie nehmen Sie es wahr, dass führende jüdische Prominente wie der Nazijäger Serge Klarsfeld, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde, bei der Stichwahl dem Rassemblement National seine Stimme geben wollte mit dem Argument, dass es gar keine Faschisten seien, sondern nur Populisten?

Jérôme Segal

Ich bin sehr traurig, und finde das wirklich schlimm. Serge Klarsfeld hat das Vorwort in meinem Buch über meine Familie geschrieben. Er und seine Frau Beate Klarsfeld sind wichtige Figuren der Vergangenheitsbewältigung. Ihnen ist es zu verdanken, dass führende Nazis wie Kriegsverbrecher Klaus Barbie, „der Schlächter von Lyon“, vor Gericht gestellt wurden. Und jetzt sagen diese Leute, dass sie in einer Stichwahl einen Rassemblement National wählen statt eine Linke, die sie für antisemitisch halten. Es ist wirklich verrückt. Es ist ein Trauma für mich, weil diese Partei, der RN, wirklich von Holocaust-Leugnern, Waffen-SS und Nazi-Kollaborateuren gegründet wurde. Nun werden sie von so vielen Juden gewählt, nur weil sie gegen Araber und die Muslime hetzen, und sagen: Wir wollen keinen Hijab in Frankreich! Aber natürlich wollen sie genauso wenig eine Kippa. Die Juden verstehen nicht, dass sie die Nächsten sind.

WZ | Solmaz Khorsand

2027 steht in Frankreich die nächste Präsidentschaftswahl an. Wird die republikanische Front gegen den Rassemblement National halten? Noch einmal?

Jérôme Segal

Es ist sehr schwierig. Vielleicht wird der oder die nächste Premier Le Pen bei der Wahl schlagen können. Ich hoffe es, aber sicher bin ich mir da nicht.


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Infos und Quellen

Genese

Solmaz Khorsand hat für den Polit-Podcast „Ganz offen gesagt“ den österreichisch-französischen Publizisten Jérôme Segal interviewt, dessen Expertise sie für die WZ aufbereitet hat.

Gesprächspartner

Jérôme Segal, österreichisch-französischer Essayist und Wissenschaftshistoriker, Dozent an der Universität Sorbonne in Paris, veröffentlicht Bücher und Artikel u. a zur jüdischen Identität.

Ein Foto von Jerome Segal.
© Fotocredit: Privat

Daten und Fakten

  • Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach dem schlechten Abschneiden seiner Partei bei den EU-Wahlen am 9. Juni und dem Triumph des rechtsextremen Rassemblement National (RN) überraschend Neuwahlen für den 30. Juni ausgerufen. In der ersten Runde der Parlamentswahl lag der RN vor dem Linksbündnis „Nouveau Front populaire“ (Neue Volksfront) und Macrons Mitte-Lager „Ensemble“ (Gemeinsam). 33,2 Prozent der Wähler:innen gaben Marine Le Pens Rechtsextremen ihre Stimme. RN-Spitzenkandidat Jordan Bardella wurde bereits als nächster Premier gehandelt.

  • Im zweiten Wahlgang wendete sich das Blatt. Das Linksbündnis, bestehend aus Sozialdemokrat:innen, Grünen, Kommunist:innen und den linkspopulistischen „La France Insoumise“, holte mit 182 Sitzen von insgesamt 577 die relative Mehrheit im französischen Parlament, während Macrons Bündnis 168 und der rechtsextreme Rassemblement National 143 Sitze erhalten haben. Eine regierungsfähige Mehrheit ist nicht in Sicht. Als Präsident obliegt es Emmanuel Macron, den Premierminister zu ernennen.

  • Der Rassemblement National konnte trotz ausbleibenden Sieges seine Position stärken. Von ehemals 89 stieg die Zahl ihrer Abgeordneten im Parlament auf 143. Außerdem erhält die Partei nun auch mehr Parteienfinanzierung und bringt sich für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 in Stellung.

  • Das französische Meinungsforschungsinstitut Ifop hat in seinem Bericht vom Mai 2024 die Bevölkerung befragt, welche Partei am meisten für den Anstieg des Judenhasses verantwortlich sei. 92 Prozent der jüdischen Befragten nannten La France Insoumise. Im Fall von Marine Le Pens Rassemblement National waren es nur 49 Prozent, noch hinter den Grünen mit 60 Prozent. Seit dem Hamas-Terroranschlag am 7. Oktober 2023 ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle laut französischem Innenministerium massiv gestiegen, von 436 im Jahr 2022 auf 1.676 nach dem 7. Oktober.

  • Im Vorfeld der französischen Parlamentswahl wurden zahlreiche Kandidat:innen und deren Helfer:innen angegriffen. Der Innenminister meldete mindestens 51 Fälle von körperlichen Angriffen auf Kandidat:innen, Vertreter:innen und Helfer:innen.

Quellen

Das Thema in anderen Medien