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Wie geht es syrischen Frauen unter der neuen Regierung?

8 Min
HTS-Anführer Al-Sharaa hat ein inklusives Syrien angekündigt, ohne Benachteiligungen von Minderheiten und Frauen.
© Fotocredit: Anadolu via Getty Images

Anfang Dezember stürzten Rebellen das syrische Regime. Die Diktatur der Al-Assads fand damit nach über 50 Jahren ihr Ende. Die WZ hat vier Syrerinnen befragt, was sie von den neuen islamistischen Machthabern halten.


Als die Rebellen die syrische Stadt Homs einnahmen, vermischten sich bei Aya Freude über die Befreiung vom Regime und Angst, weil sie nicht wusste, wie der Kampf um Syrien enden würde. Die 28-Jährige wuchs in Homs auf, wo sie heute als Bauingenieurin in einer Privatfirma arbeitet. Als Sunnitin gehört sie der zahlenmäßig größten Religionsgemeinschaft Syriens an.

Am 8. Dezember 2024 brachte die von Ahmad al-Sharaa angeführte Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) Damaskus unter ihre Kontrolle. Einen Tag später wurde bekannt, dass der langjährige Diktator Bashar al-Assad nach Russland geflohen war. Zu diesem Zeitpunkt sei Aya klar geworden, dass in Syrien eine neue Phase angebrochen ist: „Es fühlte sich an, als hätte sich für uns ein Fenster geöffnet.“

Ob dieses Fenster auch Frauen offenstünde? „Wir haben in Syrien gelernt, Versprechen nicht zu trauen“, sagt Aya. „Aber Al-Sharaa hat sein Versprechen erfüllt, als er Syrien befreite. Das gibt uns Hoffnung, dass er auch seine aktuellen Versprechen erfüllen wird.“ Tatsächlich hat Al-Sharaa ein inklusives Syrien angekündigt, ohne Benachteiligungen von Minderheiten und Frauen.

Aya will es ihm gern glauben und hofft auf eine Gesellschaft, in der Frauen in der Bildung, im Beruf und in allen Bereichen des Lebens gleichberechtigt sind. Natürlich gebe es zahlreiche Herausforderungen, vor denen das Land steht. Dennoch sei sie zuversichtlich, dass sich die Syrerinnen nicht unterdrücken lassen und gegebenenfalls für ihre Rechte kämpfen werden, sagt Aya: „Syrische Frauen haben ihre Widerstandsfähigkeit und Kreativität bereits unter Beweis gestellt und ich bin sicher, dass sie beim Aufbau des künftigen Syriens eine wesentliche Rolle spielen werden.“

Mit Blick auf den Westen ist ihr wichtig zu sagen, dass Diskussionen über das Tragen oder die Ablehnung des Kopftuches derzeit nicht das Wichtigste seien: „Die Tatsache, dass wir Syrer von Fassbomben, Beschuss, willkürlichen Verhaftungen und Folter befreit wurden, ist wichtiger als jede Debatte über die Freiheit der Kleidung.“

„Als wollten die Islamisten unsere Gesichter auslöschen“

Auch Elen kommt aus Homs, anders als Aya ist sie Alawitin und gehört damit derselben religiösen Minderheit wie Bashar al-Assad an. Da zahlreiche Alawiten im Regime hohe Positionen innehatten, befürchtete Elens Familie, dass es zu Massakern kommen könnte. Als die Rebellen vorrückten, flohen sie daher aus Homs Richtung Westen in ein Bergdorf, wo sie Verwandte hatten.

„Dort fühlten wir uns sicherer“, sagt Elen. Als Elens Familie sah, dass die Lage in Homs stabil war, kehrten sie zurück. Doch anders als Aya ist Elen weniger optimistisch, was Syriens Zukunft anbelangt. Vorfälle, bei denen Religiöse ihre Vorstellungen einer islamischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit umzusetzen versuchen, würden sich häufen, sagt Elen: „Erst kürzlich forderte ein bärtiger Mann in einem öffentlichen Bus Frauen und Männer auf, getrennt voneinander zu sitzen.“

Die 25-Jährige ist es gewohnt, ihr Haar offen zu tragen. Unlängst seien in der Stadt Plakate aufgetaucht, die Frauen auffordern, den Gesichtsschleier zu tragen. Bei anderen Gelegenheiten wurden Männer auf offener Straße von Islamisten gerügt, weil deren Ehefrauen kein Kopftuch trugen. „Es hat für mich den Anschein, als wollten die Islamisten unsere Gesichter auslöschen“, sagt Elen.

Sie habe Angst, dass die Gesellschaft auf diese Weise schleichend islamisiert werde. Auch auf Facebook würden Frauen durch Kommentare unter Druck gesetzt, die sich in den Augen der Islamisten nicht entsprechend kleiden würden: „Das Klima in den Sozialen Medien ist vergiftet.“

Ständig fragen sie die Leute nach ihrer Religion.
Elen

Den Sturz von Bashar al-Assad bedauert Elen nicht: „Wir hassten ihn und seine Familie“, sagt sie. Derzeit fühle sie sich aber nicht sicher. Grund dafür sei auch, dass es keine Polizei gibt, die Übergriffe von Islamisten gegenüber Frauen verhindern könnte. Den Soldaten, die derzeit für Ordnung sorgen, traue sie nicht: „Sie vermummen ihre Gesichter, sind sehr jung und tragen Waffen. Ständig fragen sie die Leute nach ihrer Religion.“

Als Alarmzeichen wertet Elen auch jene Liste, die unlängst auf der Facebook-Seite des Bildungsministeriums veröffentlicht wurde und Änderungen aufzählte, die auf eine islamistische Ausrichtung der Schulbücher und des Unterrichts abzielen. Einige Lehrer schienen daraufhin die Initiative ergriffen zu haben. „Im Englischunterricht wurden die Schüler aufgefordert, die Gesichter abgebildeter Frauen in den Schulbüchern zu übermalen, weil ihr Haar zu sehen war“, sagt Elen.

Nach harscher Kritik ruderte das Ministerium zwar zurück – die Lehrpläne würden fürs Erste unverändert bleiben –, aber Elens Misstrauen bleibt.

„Die HTS ist moderater geworden“

Wenige Tage, nachdem die Rebellen die Hauptstadt erobert hatten, kam Safa zurück nach Damaskus – das erste Mal nach zwölf Jahren. 2012 musste sie aus ihrem Haus im Stadtbezirk Dschobar fliehen. Zunächst in die Vororte von Damaskus in der östlichen Ghouta. Als die Rebellen von dort vertrieben wurden, floh sie nach Idlib, in den Nordwesten Syriens.

Das Regime ist gestürzt, die Opfer, die wir bringen mussten, waren es wert.
Safa

Bei ihrer Rückkehr fand sie ihr Geburtshaus zerstört. Doch die 35-Jährige fühlt sich dennoch siegreich, wie sie sagt: „Das Regime ist gestürzt, die Opfer, die wir dafür bringen mussten, waren es wert.“

Safa versteht die Sorgen der Alawitin Elen, ist aber überzeugt, dass die Mehrheit der syrischen Bevölkerung die Unterdrückung religiöser Minderheiten nicht befürwortet. Was die Personen betrifft, die zum Tragen von Kopftüchern und zur Geschlechtertrennung in öffentlichen Bussen aufrufen, glaubt sie, dass es sich dabei um Einzelfälle handelt: „Das ist nichts, was von HTS angeordnet wurde.“

Im Gegenteil: „Die Führung von HTS betont immer wieder, dass Derartiges nicht passieren dürfe“, so Safa. Das ändere freilich nichts daran, dass Teile der syrischen Gesellschaft konservativ seien – unabhängig davon, was HTS wolle oder nicht. „In Dschobar, wo ich aufwuchs, tragen etwa die Hälfte der Frauen den Niqab“, sagt Safa.

Die neue Freiheit motiviere die Menschen, ihre Meinung über ein zukünftiges Syrien öffentlich kundzutun. Neben den Stimmen der Konservativen, die Frauen verhüllt sehen wollen, gebe es auch solche, die fordern, es den Frauen zu überlassen, wie sie sich kleiden wollen.

Als jemand, der jahrelang in der von HTS verwalteten Provinz Idlib gelebt habe, wisse sie, wie die Islamisten ticken, ist Safa überzeugt. HTS habe viele radikale Elemente abgelegt und sei moderater geworden.

Sie nehme Al-Scharaa daher ab, dass er sich vom Dschihadisten zum Staatsmann gewandelt habe. Aber natürlich müsse man wachsam bleiben. Die Zivilgesellschaft verfolge sehr genau alle Entscheidungen, die die Übergangsregierung trifft: „Wir werden keine Gesetze zulassen, die die Freiheit der Frauen beschneiden.“

Vertrauen in Zivilgesellschaft

Nicole lebt in einer Stadt an der syrischen Küste, deren Namen sie nicht nennen möchte. Als HTS in die Küstenregion vordrang, gab es Gerüchte, wonach Anhänger von Assad die Rebellen zurückschlagen wollten. „Wir befürchteten, dass unsere Stadt zu einem Kriegsgebiet werden könnte“, so die 32-jährige Christin.

Als klar war, dass sie von den Rebellen nichts zu befürchten hatten, feierte Nicole mit ihrer Familie den Sturz des Regimes: „Ich kann jetzt sagen, was ich will, ohne Angst haben zu müssen, ins Gefängnis zu kommen.“ Trotz der neuen Freiheiten bleibt Nicole skeptisch. Die von Al-Sharaa eingesetzte Übergangsregierung konnte sie bisher nicht überzeugen: Anstatt sich auf den Wiederaufbau des Landes zu konzentrieren, würden die neuen Machthaber Veränderungen in Bereichen vornehmen, die nicht in ihre Zuständigkeit fallen, so Nicole: „Anstatt Schulen wieder aufzubauen, ändern sie Lehrpläne. Anstatt mit den Familien der Vermissten Kontakt aufzunehmen, lassen sie die Gefängniswände von Freiwilligen bemalen. Anstatt direkt mit den Menschen zu sprechen und sie offen zu informieren, wiederholen sie Assads Fehler, indem sie in einer vagen Sprache kommunizieren.“

Wir sind durchaus fähig, für die Rechte der Frauen zu kämpfen.
Nicole

Mit Blick auf die Frauenrechte ist Nicole vorsichtig optimistisch und glaubt an die Kraft der syrischen Zivilgesellschaft: „Wir sind durchaus fähig, für die Rechte der Frauen zu kämpfen“, sagt sie. Auch während der Zeit des Assad-Regimes hätten Aktivistinnen Frauenrechte durchsetzen können. Und das ohne oder mit nur geringer Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.

„Es ist uns gelungen, Ehrenmorde abzuschaffen und die Gesellschaft dazu zu bringen, die Rechte der Frauen in Bezug auf Arbeit, Kleidung, Mobilität und Teilnahme am öffentlichen Leben viel stärker zu akzeptieren als noch vor 2011“, sagt sie. Und an die Islamisten gerichtet: „Wir wollen jetzt nicht noch einmal von vorn beginnen müssen.“


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Infos und Quellen

Genese

Autor Markus Schauta verfolgt seit Beginn der Aufstände 2011 die Ereignisse in Syrien. 2020 bereiste er die von Assad kontrollierten Teile des Landes, war in Damaskus, Aleppo und im Alawitengebirge. Seitdem sich der Sturz von Bashar al-Assad Anfang Dezember abzuzeichnen begann, ist er regelmäßig per Telefon mit Syrer:innen in Kontakt.

Gesprächspartnerinnen

Die Kontakte zu Aya, Elen, Safa und Nicole wurden dem Autor von Bekannten vermittelt bzw. über die NGO Adopt a Revolution hergestellt, die zivilgesellschaftliche Projekte in Syrien unterstützt. Die Namen Elen und Nicole entsprechen nicht den korrekten Namen der Interviewpartnerinnen, die lieber anonym bleiben wollten.

Daten und Fakten

  • Die Speerspitze der Blitzoffensive gegen das Regime bildete Hayat Tahrir al-Sham (HTS), angeführt von Ahmad Al-Scharaa. Al-Sharaa ist kein Unbekannter. Unter dem Kampfnamen Al-Dscholani führte er 2011 eine kleine Gruppe von Al-Qaida-Kämpfern aus dem Irak nach Syrien. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich daraus eine der schlagkräftigsten Milizen im syrischen Krieg, ihr Name: Al-Nusra-Front.

  • Als Ableger von Al-Qaida propagierte sie einen extremistischen Islam. Doch als das Regime auch nach Jahren des Kriegs nicht gestürzt war und der Kampf für die Opposition verloren schien, änderte Al-Sharaa seinen Kurs. 2016 sagte er sich von Al-Qaida los. An die Stelle von Al-Nusra trat Hayat Tahrir al-Sham. Die von ihm eingesetzte Verwaltung der Rebellenhochburg Idlib gab sich moderat, baute bürokratische Strukturen auf und ließ, innerhalb gewisser Grenzen, das Heranwachsen einer Zivilgesellschaft zu.

  • Dennoch blieb Al-Sharaa Islamist. Die Gesetze des zukünftigen Syriens werden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit islamisch begründet sein. Gleichzeitig äußerte sich Al-Sharaa kritisch zu überstrengen Gesetzen und einer Moralpolizei, wie es sie in Saudi-Arabien gibt. Eine Art „Scharia-light“ ist daher ein erwartbares Model für Syrien. Vorausgesetzt, Al-Sharaa kann sich damit gegen die Hardliner in den Reihen der Rebellen durchsetzen.

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