Warum sehen wir den Reichen so gerne beim Leiden zu? Der Versuch einer Erklärung.
Es ist doch so: Wenn eine Milliardärin das überteuerte Meeresfrüchte-Gelee samt Champagner, das ihr gerade von unterbezahlten Angestellten auf einer Luxusyacht serviert wurde, wieder auskotzt, macht das etwas mit uns. Noch besser finden wir nur, wenn sie danach prompt im eigenen Erbrochenen ausrutscht und eine Treppe hinunterfällt. Gemerkt hat man das spätestens vergangenes Jahr im Zuge der Tragikomödie Triangle of Sadness von Regisseur Ruben Östlund. Wir können also festhalten: Wenn Menschen mit Geld eins auf die Schnauze bekommen, macht das universal und klassenübergreifend gute Laune. Wahrscheinlich haben reale Menschen mit Geld deshalb beschlossen, dieses Phänomen zu einem aktuellen Motiv des Zeitgeists zu machen und damit, man erahnt es, noch mehr Geld zu verdienen; wenn wir bei Triangle of Sadness bleiben wollen, rund 23 Millionen US-Dollar. Aber der Reihe nach.
- Für dich interessant: Vorarlberg-Wahlen: Welche Schattierung bekommt Schwarz?
Wer in den letzten Monaten nach einem Film oder einer Serie gesucht hat, ist früher oder später über sie gestolpert: The Menu, White Lotus, Glass Onion. In ihnen geht es immer um die vermögende Elite, um ihre Dünnhäutigkeit, ihren exzessiven Lebensstil und der damit einhergehenden Verachtung von arbeitenden Menschen. Wer sich fragt, wie die Superreichen so sind, dieses eine Prozent der globalen Gesellschaft, das mehr als die restlichen 99 Prozent besitzt, bekommt hier die Antwort: von Grund auf schlecht. Deswegen bestraft die Handlung die Hauptcharaktere auch − mit einer mehr oder weniger subtilen satirischen Grundtonalität, Demütigung oder gar mit dem Tod. Das Publikum wird deswegen nahezu immer mit der sicheren Gewissheit dreier Dinge aus der Geschichte entlassen: erstens, so schlimm wie die sind wir nicht; zweitens, am Ende bekommen alle, was sie verdient haben; drittens, wie schön wäre eine Luxuskreuzfahrt.
Neue Narrative
Joachim Schätz arbeitet am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Dort forscht er zu Poetiken und Politiken der Komödie und Schnittstellen zwischen Ökonomie und Ästhetik. Er meint, diese Filme seien an etwas Neuem dran und hätten angeregt, alte, marxistische Klassenerzählungen neu zu denken: „Das sind alles Geschichten, die von Arbeitsformen der Dienstleistung, der Pflege- und Care-Arbeit handeln. Also nicht das klassisch marxistische Narrativ der Fabrikarbeit, des Großraumbüros und des Angestelltenwesens, sondern Arten von Arbeit, in denen es um einen körperlichen Nahkontakt zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Stellungen geht.“
Schauplatz tertiärer Sektor. In Triangle of Sadness sind es die Yachtbediensteten, die den Superreichen jeden Wunsch von den Lippen ablesen müssen; für sie gibt es nur „Ja, Sir“ oder „Ja, Ma'am.“ Bei The Menu befinden wir uns in einem Nobelrestaurant, in White Lotus in einem Hotel. „Die Unterscheidung zwischen einer öffentlichen Produktionssphäre und einer Privatsphäre bricht da zum Teil zusammen. Deswegen sind die Fragen, was es heißt, hier Konflikte auszutragen, auch so vertrackt. Diese Arten von Arbeit sind von bestimmten Klassenkampfnarrativen bis jetzt noch gar nicht so stark mitbedacht worden“, so Schätz.
Ironisch lachen
Vielleicht liegt der Erfolg dieses Motivs auch ein wenig darin, dass die Auseinandersetzung in Filmen und Serien oft auf einer recht oberflächlichen Ebene bleibt. Im Vordergrund steht meistens ein moralischer Ekel vor Überfluss, selten eine generelle Strukturkritik.
Im Vordergrund steht ein moralischer Ekel vor Überfluss, keine Strukturkritik.
Am Ende hat man zudem das Gefühl, es ernten sowieso alle, was ihnen eigentlich von Anfang an gebührt hätte. Spoiler-Alarm: In Triangle of Sadness kentert das Kreuzfahrtschiff, in The Menu stirbt beinahe jeder durch eine Explosion, in White Lotus kehren die meisten zutiefst unglücklich aus dem Urlaubsressort zurück. „Im Kern könnte man sagen, Filme und Serien wie White Lotus bieten eine Art unmögliche Lösung für real-weltliche Konflikte an. Also die symbolische Rache an Superreichen ist einfacher darzustellen, als eine Vermögenssteuer durchzusetzen. Oder bestimmte Hassfiguren, wie Elon Musk'eske-Disrupter, zu inszenieren, ist einfacher, als Strukturen abzubilden“, meint Schätz. Diese Fantasien würden im Mainstream-Kino aber immer in mehrere Richtungen laufen. „Einerseits gibt es diese hämische Freude, wenn die Privilegierten bestraft und Hochstatus-Figuren erniedrigt werden. Gleichzeitig sind diese Serien und Filme ein visuelles Mitgenießen an den Luxuswelten der Reichen, an denen wir sonst nicht teilhaben dürfen. Das steht in einem besonders seltsamen Verhältnis zueinander.“
Eat the Rich
Bestrafung und zusätzlich schöne Bilder aus Süditalien, Hawaii oder vom Luxus-Kreuzfahrtschiff also. Über ähnliches hat schon Filmwissenschafter John David Rhodes in seinem Buch „Spectacle of Property“ geschrieben. Darin behandelt er die ambivalenten Gefühle, die wir empfinden, wenn wir privates Eigentum − bei ihm sind es besonders amerikanische Häuser − auf der Kinoleinwand beobachten. Das lässt sich auf das Genre der „Eat-the-Rich“-Geschichten umlegen. „Filme und Serien, gerade die aus der Welt der Superreichen, erzählen immer das Spektakel von Besitz, der nicht unserer ist“, sagt Schätz.
Ironisch reich sein
„Das ist natürlich ein Teil der Ironie. Was heißt es, in der hochkapitalisierten Kulturbranche Kapitalismuskritik zu üben? Was heißt es, wenn Glass Onion, ein Film, der von Netflix produziert worden ist, also einer Disruptor-Firma, satirisch von der Disruptor-Kultur erzählt? Ist das die ultimative Subversion? Oder ist das eben der Hofnarr, der sagen kann, was er will, weil er an der Struktur ohnehin nicht kratzt?“, sagt Joachim Schätz.
„Ein Theater ist ein Unternehmen, das Abendunterhaltung verkauft“, sagte schon Bertolt Brecht. Gleiches gilt heutzutage für Streaming-Anbieter oder das Kino. So schön die Vorstellung auch sein mag, dass dort Kunst und Kreativität für sich allein regieren können, so schnell muss man sich eingestehen, es ist und bleibt ein Geschäft – jemand möchte damit Geld verdienen.
Es ist und bleibt ein Geschäft – jemand möchte damit Geld verdienen.
Und besonders gut eignen sich dafür eben satirische Aufarbeitungen der ungerechten Vermögensverteilung. Persiflagen auf den Neoliberalismus, wenn man so will. Daraus entsteht folgendes: Reiche Menschen produzieren Filme, in denen reiche Menschen reiche Menschen spielen, um sich über reiche Menschen lustig zu machen. Anschließend werden sie auf Veranstaltungen voller reicher Menschen prämiert; wenn man böse sein möchte, zwischen Champagner und Meeresfrüchte-Gelee.
Ironisch visuell am Reichtum von anderen teilhaben, das ganze gleichzeitig ironisch verurteilen und dann ironisch erfreut sein, wenn die Yacht brennt. Ob sich diese Ironie in die reale Welt transferieren lässt, bleibt offen. Bertolt Brecht würde vielleicht deswegen folgern: „Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu ändern vermag.“
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
„Eat-the-Rich“-Filme sind super-erfolgreich. The Menu gewann den Critics’ Choice Super Award, Triangle of Sadness war für drei Oscars nominiert, Glass Onion für zwei Golden Globes und alle reden über Jennifer Coolidge in The White Lotus. Eva Sager wollte dieser Entwicklung auf den Grund gehen.
Gesprächspartner
Joachim Schätz ist seit März 2019 Universitätsassistent am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Poetiken und Politiken der Komödie, Schnittstellen von Ökonomie und Ästhetik sowie der österreichischen und deutschen Film- und Kinogeschichte.
Daten und Fakten
Bertolt Brecht (* 1898, † 1956) war ein einflussreicher deutscher Schriftsteller und Regisseur. Zu seinen bekanntesten Stücken zählen „Die Dreigroschenoper“, „Mutter Courage und ihre Kinder“ sowie das kapitalismuskritische Werk „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“.
Tertiärer Sektor: Dienstleistungssektor
Disruptor-Firma: Ein Unternehmen, das mit seinem Geschäftsmodell die traditionelle Arbeitsweise einer Branche verändert bzw. „zerstört.“ Ein vielgenanntes Beispiel ist Amazon.
Quellen
John David Rhodes: Spectacle of Property: The House in American Film, 2017
Statista Reichtumspyramide: Verteilung des Reichtums auf der Welt im Jahr 2021