Der israelische Historiker Moshe Zimmermann zieht Bilanz, wie sich sein Land ein Jahr nach dem 7. Oktober verändert hat – und geht mit der extremistischen Regierung von Premier Benjamin Netanjahu scharf ins Gericht.
Ein Jahr nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober und dem Krieg in Gaza sitzt Israels einst angeschlagener Premier Benjamin Netanjahu fest im Sattel. Israels Invasion ins Nachbarland Libanon befürworten 80 Prozent der Israelis. Der befürchtete Flächenbrand in der Region ist längst da. Auch aufgrund der israelischen Kriegspolitik. Warum erhält dieser Kurs so viel Zuspruch in der Bevölkerung?
Das ist nicht kompliziert. Israelis sind traumatisiert. Es war grausam und präzedenzlos, was am 7. Oktober passiert ist. Diese Traumatisierung erklärt, weshalb eine Regierung, die auf Vergeltung aus ist, so viel Zuspruch bekommt. Das ist eine typisch israelische Haltung. Man muss immer zeigen, dass man bereit ist, sich zu verteidigen, Gewalt anzuwenden und zu zeigen, dass man nicht schwächelt. Das ist das Allerwichtigste. Das unterstützen die Menschen. Man steht unter dem Schock des 7. Oktobers. Daher ist man auch gewillt, die Feinde Israels, also die Hamas, die Hisbollah und in weiterer Folge deren Drahtzieher Iran zu bestrafen. Es ist immer Schlag, Gegenschlag. Die Leute können sich keine Alternative vorstellen. Dabei gibt es immer Auswege und Alternativen, aber wenn man geschult ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu denken und danach zu agieren, gibt es keinen Ausweg.
Die Islamische Republik Iran hat Israel dieses Jahr zum zweiten Mal mit Raketen direkt angegriffen. Unmittelbar nach der Tötung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, einer der wichtigsten Verbündeten des Mullah-Regimes, sah sich die iranische Führung offenbar gezwungen, ihr Gesicht hinsichtlich der israelischen „Provokationen“ der vergangenen Monate zu wahren. Wie sehr will Premier Netanjahu den Iran in einen offenen Krieg ziehen?
Erstens hat der Iran Israel angegriffen. Es ist die regionale Macht, die hinter Hisbollah und Hamas steht. Für Netanjahu war es über die Jahre wichtig, den Iran als Erzfeind aufzubauen, einerseits wegen dem Atomprogramm, andererseits aber, um von der eigentlichen Frage, die uns beschäftigen sollte, abzulenken: Palästina. Das heißt, wenn er diese Art von Entscheidungen trifft, die den Iran provozieren und Hass schüren, dann tut er das nicht nur, weil der Iran israelfeindlich ist, sondern weil er weiß, dass das vom Thema Palästina ablenkt.
In Ihrem Buch „Niemals Frieden?“ stellen Sie die ketzerische Frage, ob mit dem Hamas-Terroranschlag auf Israels Boden das zionistische Versprechen, dass jeder Jude und jede Jüdin in Israel endlich sicher ist, versagt hat. Hat es das?
Ich interpretiere den Zionismus als eine Nationalbewegung der Juden, die sich parallel entwickelt hat zu den Nationalbewegungen in Europa. Damals war die Idee, dass das Leben der Juden, die in der Diaspora unsicher sind, diskriminiert und pogromiert werden, normalisiert werden muss. Dafür muss man die Juden als Nation verstehen, für die es ein Territorium für eine Staatsgründung braucht, in dem Juden in Sicherheit vor Verfolgung leben können. Dann passierte der 7.Oktober und der Zionismus konnte dieses Versprechen, diese Illusion oder Hoffnung, die lange Zeit aufrechterhalten worden war, nicht länger einhalten. Ausgerechnet in Israel selbst hat das größte Pogrom nach 1945 mit über 1.000 Toten stattgefunden. Das ist eine These, die nicht sehr viel Freude hervorruft bei Israelis.
Sie beschreiben, wie in Theodor Herzls „Judenstaat“, die Idee eines liberalen und demokratischen Staates, in dem Juden und Nicht-Juden sowie Jüdinnen und Nicht-Jüdinnen gleichberechtigt zusammenleben, beschrieben wurde. Nun sitzen in der aktuellen Regierung viele Rechtsextremisten, wie Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich, die nichts von dieser Gleichberechtigung halten. Wie sehr treiben diese Extremisten aus der Siedlerbewegung Premier Netanjahu vor sich her?
Die Entscheidung von Netanyahu, diese zwei Minister in die Koalition zu holen, bedeutet, dass er sich voll und ganz auf die Seite der Extremisten stellt. Er hatte die Alternative, eine Regierung mit anderen Parteien zu bilden. Nur hatten diese darauf bestanden, dass er wegen seiner Korruptionsvorwürfe vor Gericht kommt. Und dort bis auf weiteres bleibt, bis das geklärt ist. Das wollte Netanjahu vermeiden. Ihm waren also seine Macht und Karriere wichtiger, als jetzt diese Extremisten nicht regieren zu lassen. Aber man muss auch zugeben, sehr viel von dem, wofür Smotrich und Ben-Gvir stehen, gehört auch zu Netanjahus Ideologie.
Also etwa, dass es überhaupt kein palästinensisches Volk gibt und Israel nur das Land von und für Juden und Jüdinnen ist.
Finanzminister Smotrich verfolgt die Ganz-Israel-Idee. Das heißt „From the river to the sea“, aber als Judenstaat, worin Palästinenser nur dann leben dürfen, wenn sie bereit sind, mit den Juden zu kooperieren, ohne hingegen je Staatsbürger werden zu dürfen. So soll verhindert werden, dass sie in einer Demokratie irgendwann die Mehrheit stellen können und sich das an der Wahlurne widerspiegelt. Jene Palästinenser, die mit diesem „Nebeneinander“ nicht einverstanden sind, können auswandern oder werden vertrieben. Dieses extremistische Programm ist zwar nicht die Vorstellung von Netanjahus Likud-Partei, aber wenn solche Stimmen eine Rolle spielen in der israelischen Politik und Regierung, ist das selbstverständlich besonders gefährlich und eigentlich besonders absurd.
Absurd?
Juden hätten aus der Geschichte lernen müssen, und zwar aus der Geschichte vor 1945, dass man die Politik der Faschisten und Rassisten einfach nicht nachahmen darf.
Israel hat eine sehr vitale Zivilgesellschaft. Vor dem 7. Oktober gab es Massenproteste gegen die Justizreform, danach vor allem gegen Netanjahus Regierungskurs in Bezug auf einen Waffenstillstand in Gaza, um die eigenen Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft zu befreien. Ging es diesen Israelis dabei primär „lediglich“ um die Freilassung der Geiseln oder auch um ein Ende des Krieges in Gaza, etwa aus Solidarität mit dem Leid der Palästinenser:innen?
Das ist eine heikle Frage. Die Zivilgesellschaft in Israel ist gespalten. Unmittelbar nach dem 7. Oktober gab es keine Demonstrationen, weil man der Grundhaltung folgte: Solang der Krieg dauert, darf man keinen Druck ausüben. Das hat man schnell sein lassen, weil man verstanden hat, dass die Priorität der Regierung nicht die Freilassung der Geiseln ist, sondern die Zerschmetterung der Hamas. So wurde erneut demonstriert mit dem Ziel: „Wir wollen unsere Geiseln.“ Doch nach und nach kamen die Demonstrierenden von früher zurück, die nicht nur die Freilassung der Geiseln forderten, sondern ein Ende des Krieges in Gaza und das Ende der Regierungskoalition. Natürlich ist das sehr problematisch in Israel, wenn man noch dazu dafür protestiert, dass Israel aufhören soll, Gaza weiter zu bombardieren und auch Zivilisten im Libanon anzugreifen.
Weil?
In einer Kriegssituation ist es einfacher, ein Freund-Feind-Bild zu schaffen. Da sind alle in Gaza automatisch Kollaborateure der Hamas und im Libanon unterscheidet man nicht mehr zwischen Hisbollah und Zivilisten. Daher muss man mutig sein, indem man betont: Wir wurden angegriffen von der Hamas. Es war grausam. Aber unsere Reaktion muss darauf achten, dass wir menschlich bleiben, dass wir Menschenleben schonen. In einer Kriegssituation steht dieses Plädoyer für Menschlichkeit leider im Abseits. Und trotzdem spürt man das auch in den Demonstrationen, zu denen ich gehe. Sie gehen über die Forderung hinaus, „nur“ die Befreiung der Geiseln zu verlangen bzw. einer Feuerpause, um die Geiseln rauszuholen.
Die israelische Journalistin Ilana Dayan argumentiert ähnlich in einem Interview auf CNN. Sie sagt: „Wir kämpfen um unser Leben, aber wir müssen auch um unsere Seele und unsere Werte kämpfen.“ Hallt das nach in der israelischen Gesellschaft?
Die Priorität ist eine andere. Die Priorität ist, wir müssen uns schützen. Wir wurden brutal angegriffen. Der 7. Oktober ist noch immer da. Er verfolgt uns seit einem Jahr, deswegen ist man blind für das Leid der anderen. Aber es gibt selbstverständlich diese Menschen in Israel, die besser Bescheid wissen. Das ist die Gruppe, zu der ich auch gehöre, in der man eine breitere Perspektive hat und weiß: Wenn wir hier in Israel eine offene Mustergesellschaft sein wollen, dann können wir nicht brutal um uns schlagen und die Hochschätzung des Menschenlebens, wo auch immer, aufgeben.
Aber Sie sind eine Minderheit.
Ja, das zeigen die Meinungsumfragen. Das hat mit der Situation zu tun. Israel war von Beginn an umkreist von Staaten, die Israel nicht akzeptiert haben. Und es hat mit einer israelischen Regierung zu tun, die seit 1977 nationalistisch ist und dementsprechend auch ihre Bürger nationalistisch sozialisiert hat. Dass es möglich war, mit Ägypten und Jordanien Frieden zu schließen, hat man vergessen.
Unmittelbar nach dem 7. Oktober begann der Jahr Krieg in Gaza, und seit 1. Oktober ist nun auch der Libanon zum Ziel der israelischen Kriegspolitik geworden. Wohin möchte Netanjahus Regierung mit diesen Manövern? Was ist das Endgame?
Viele Tote gibt es auch auf Israels Seite. Was die Regierung anstrebt, ist eigentlich der absolute Sieg. So hat es Netanjahu einmal formuliert. Aber wie so ein Sieg aussieht und was das politisch bedeutet oder bezwecken soll, weiß nicht mal Netanyahu selbst.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Solmaz Khorsand hat den israelischen Historiker Moshe Zimmermann im April bei der Diskussionssendung „Im Zentrum“ kennengelernt. Daraufhin interviewte sie ihn für den Podcast „Ganz offen gesagt“, dessen Inhalt hier in verdichteter Form zu lesen ist.
Daten und Fakten
Am 7. Oktober 2023 attackierten Hamas-Terroristen Israel und töteten 1.200 Menschen, vergewaltigten zahlreiche Frauen und verschleppten 240 Geiseln in den Gazastreifen. Einige konnten befreit werden, andere wurden getötet und rund 100 sollen sich noch in Gefangenschaft befinden. Israel reagierte mit den Kriegen in Gaza, bei dem bislang 41.000 Menschen getötet wurden, und im Libanon.
Am 1. Oktober 2024 startete Israel die Bodenoffensive im Libanon, um die vom Iran unterstützte Hisbollah-Miliz zu bekämpfen. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah wurde kurz davor ermordet. Die Islamische Republik Iran reagiert auf dessen Tod mit einem direkten Raketenangriff auf Israel.
Israels Siedlerbewegung ist in den vergangenen Jahrzehnten massiv angewachsen. Von 5.000 Siedler:innen in den 70er-Jahren auf knapp 700.000 heute. Sie gelten als radikal und extremistisch, annektieren Land, das Palästinenser:innen gehört und verüben Angriffe auf sie. Mit den beiden Ministern Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich sitzen zwei ihrer Vertreter in der israelischen Regierung.
Gesprächspartner
Moshe Zimmermann, Sohn von Hamburger Holocaustüberlebenden, ist Historiker, Antisemitismusforscher und emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er hatte auch zahlreiche Gastprofessuren in Deutschland. Er lebt in Tel-Aviv und gilt als scharfer Kritiker der Benjamin Netanjahu-Regierung. Sein jüngstes Buch „Niemals Frieden? Israel am Scheideweg“ (Propyläen Verlag) wurde 2024 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
Quellen
Ganzoffengesagt: Podcast mit Moshe Zimmermann
Arte-Doku: Israel im Griff der Rechten
Arte-Doku: Extremisten an der Macht
Reuters: Umfrage Israel Democracy Institute
npr.org: Bilanz ein Jahr 7. Oktober
New York Times: Ärzte berichten aus Gaza
ardmediathek.de: Diskussion im dt Presseclub „Pulverfass Nahost“