Die Aufhebung der Stichwahl zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer 2016 war die wohl spektakulärste Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Weniger bekannt ist, dass dort jährlich mehrere tausend Fälle entschieden werden.
7.993 neue Fälle sind im Vorjahr vor dem VfGH gelandet, 1.242 Verfahren aus dem Jahr 2022 waren noch offen, 8.246 Verfahren hat das Richtergremium im Vorjahr entschieden. Klingt nach ganz schön viel Arbeit - und wirft die Frage auf, wie es um die Qualität der Gesetzgebung in Österreich bestellt ist. Schließlich ist die Kontrolle, ob die vom Parlament beschlossenen Gesetze im Einklang mit der Bundesverfassung sind, eine der Hauptaufgaben des VfGH.
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Doch es ist nicht so schlimm, wie die Zahlen vermuten lassen, da viel komplexer: Alle Regeln und Handlungen im Staat müssen der Verfassung mitsamt ihren Grundprinzipien entsprechen, also dem republikanischen, rechtsstaatlichen, demokratischen und bundesstaatlichen Prinzip – dies sind die rahmengebenden Spielregeln für das Funktionieren unseres Landes. Gleichzeitig schreibt die Verfassung auch die Wahrung der Grundrechte vor – vom Recht auf Gleichheit bis hin zum Recht auf Zivildienst ist die Liste lang – und da sind oft die reinen Buchstaben des Gesetzes das eine, Auslegung und Anwendung das andere. Hier kommt die Prüffunktion ins Spiel. Neben der Kontrollaufgabe bei Gesetzen behandelt der VfGH auch Beschwerden gegen Urteile von Zivil-, Straf-, und Verwaltungsgerichten.
Ein paar Beispiele, womit sich die 14 Richter:innen befassen und befassten: Bei der Stichwahl zwischen Hofer und Van der Bellen 2016 sahen sie durch Unregelmäßigkeiten bei der Briefwahl und vorzeitige Herausgabe von Teilergebnissen das geheime Wahlrecht verletzt.
Erst vor wenigen Wochen wurde in öffentlicher Verhandlung über einen hochsensiblen Bereich, die Sterbehilfe, verhandelt. Hier hatte der VfGH schon vor einiger Zeit eine Gesetzesreparatur verlangt, die Kläger fühlen sich aber auch nach der Änderung in ihrem Recht auf ein unterstütztes, selbstbestimmtes Lebensende von den Gesetzen eingeschränkt. Die Entscheidung ist noch ausständig.
Einen recht großen Anteil machen Beschwerden gegen Asylrechtssachen aus, im Vorjahr fast die Hälfte aller Fälle.
Der Weg an den VfGH
Die Vielfalt ist groß. So gut wie jede: r könnte irgendwann von einem juristischen Problem betroffen sein für das der VfGH zuständig ist. -etwa, wenn man sich in Zivil- oder Strafsachen in seinen verfassungsmäßig garantierten Rechten beschränkt fühlt. Allerdings muss erst , ein erstinstanzliches Urteil vorliegen - analog in Verwaltungsverfahren eine Entscheidung der Verwaltungsgerichte. Und in der Regel braucht man einen Anwalt, es gibt aber die Möglichkeit, Verfahrenshilfe zu beantragen.
Damit die 14 Richter: innen ihrer Aufgabe als „Hüter:innen der Verfassung“ gerecht werden können, müssen sie in allen Rechtsbereichen firm sein. Garantiert wird das unter anderem dadurch, dass Grundvoraussetzung für den Job nicht nur ein juristisches Studium ist, sondern auch eine mindestens zehnjährige Berufspraxis. Zudem müssen zumindest drei Mitglieder Richter:innen, in der Verwaltung Tätige oder Uni-Professor:innen sein.
In der Praxis ergibt das „eine breite Basis juristischer Kompetenzen“, sagt Sieglinde Gahleitner. Sie ist seit 2010 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs und nebenbei Anwältin für Arbeits- und Sozialrecht. „Durch die Anwaltsbrille sieht vieles anders aus als durch die Richterbrille oder in der rein rechtswissenschaftlichen Betrachtung. Man sieht andere Problemfelder, wenn man das Recht in der Anwaltsrolle für jemanden durchsetzen will oder zum Beispiel als Verwaltungsbeamter oder Richter dafür sorgen muss, dass Verwaltungs- und Gerichtsverfahren effizient, rasch und kostengünstig durchgeführt werden“.
Der Ablauf eines Prüfverfahrens
Und wie läuft es nun ab, wenn ein behaupteter Verfassungsverstoß von ihr und ihren Kolleg:innen geprüft werden soll? Alle Fälle landen bei Präsident Christoph Grabenwarter, der sie an die sogenannten ständigen Referent:innen verteilt. Sie sind entsprechend ihres juristischen Hintergrunds meist für unterschiedliche Fachbereiche zuständig, „Asyl- und Fremdenwesen machen wir alle“, so Gahleitner.
Ihre Aufgabe als Referent: in ist dann, mit ihrem Team – jede:r Referent:in hat drei juristische Mitarbeiter:innen und ein:e Verwaltungsassistent: in – ein Vorverfahren zu führen und so einen Entscheidungsentwurf vorzubereiten. „Am Beispiel Asylrecht prüfen wir etwa, ob das Verwaltungsgericht das beanstandete Verfahren nach den geltenden Vorschriften abgewickelt hat, ob – falls erforderlich – eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat und die Grundrechte beachtet wurden.“
Entscheidungsreife Entwürfe werden im Gremium beraten, einfachere Fälle in kleiner Runde von Präsident:in, Vizepräsident:in und vier Richter:innen, der Rest in Vollbesetzung. Viermal im Jahr finden dafür die Sessionen statt – jeweils drei Wochen lang berät der VfGH darin eine Vielzahl von Fällen – wie eben die Wahlanfechtung oder die Sterbehilfe öffentlich. Für ein Erkenntnis braucht es in der nicht-öffentlichen Abstimmung eine einfache Mehrheit, im Fall der Ablehnung einer Beschwerde Einstimmigkeit.
Auch wenn die Entscheidungsentwürfe gut vorbereitet sind, gefolgt wird „ihnen nach intensiver Diskussion im Gremium nicht immer“, sagt Gahleitner. Es ist auch nicht immer mit einer Beratung getan. „Viele Entscheidungen haben weitreichende Konsequenzen, etwa wenn ein Gesetz aufgehoben wird, und es müssen unterschiedliche Interessen oder Grundrechte abgewogen werden. Wir müssen auch immer mitbedenken, was unsere Entscheidung für weitere Fälle bedeutet“, erklärt sie die Herausforderungen. Manchmal spielen auch Wertungsfragen eine Rolle. Bei der Frage, ob es gleichheitswidrig ist, dass gleichgeschlechtliche Paare für eine eingetragene Partnerschaft zur Bezirksverwaltungsbehörde mussten, Mann und Frau dagegen die Ehe auf dem Standesamt schlossen, „hat der VfGH festgestellt, dass der Gesetzgeber einen Spielraum hat, welche Behörde er dafür zuständig macht“, sagt Gahleitner. Nach weiteren VfGH-Entscheidungen gibt es mittlerweile die Ehe für alle.
Durch ihre Entscheidungen sorgen die Richter:innen also auch für Weiterentwicklungen der Gesetze. So gab es nach der Pannenserie bei der Präsidentschaftswahl 2016 eine Wahlrechtsreform. Mit Wahlanfechtungen hatte der VfGH übrigens heuer wieder zu tun: Die Bürgermeister-Wahl in Innsbruck und die EU-Wahl waren beanstandet worden – in beiden Fällen wies der VfGH die Anfechtungen zurück.
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Infos und Quellen
Gesprächspartnerinnen
Cornelia Mayrbäurl, Mediensprecherin des Verfassungsgerichtshofs
Sieglinde Gahleitner, Verfassungsrichterin
Daten und Fakten
Der Verfassungsgerichtshof ist so alt wie die österreichische Bundesverfassung, seine Gründung wurde am 1. Oktober 1920 von der Nationalversammlung beschlossen. Er war damals der weltweit erste Gerichtshof, dem die Prüfung von Gesetzen oblag.
Diese Aufgabe erfüllt er in seiner heutigen aktuellen Zusammensetzung mit 14 Richter:innen und sechs Ersatzmitgliedern bis heute. Bestellt werden die Richter:innen vom Bundespräsidenten, ein Nominierungsrecht haben Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat, wobei die beiden letzteren Personen aus allen juristischen Berufen nominieren dürfen, die Regierung muss Richter:innen, Uni-Professor:innen oder in der Verwaltung Tätige vorschlagen. Verfassungsrichter:innen, die aus der Verwaltung kommen, müssen ihre bisherige Tätigkeit ruhend stellen, für alle anderen gilt kein Berufsverbot.
In die Zuständigkeit der Verfassungsrichter:innen fällt alles, was in der Verfassung geregelt ist. In Paragraf 1 heißt es: „Österreich ist eine demokratische Republik, ihr Recht geht vom Volk aus.“ Vereinfacht gesagt, regelt die Verfassung in weiterer Folge alle Spielregeln dieses demokratischen Zusammenlebens, also welche Organe es dazu braucht und was diese dürfen und was nicht. Ebenfalls verfassungsrechtlich garantiert sind zahlreiche Grundrechte, auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist im Verfassungsrang.
Wann immer jemand Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regeln hat, kann er oder sie den VfGH anrufen, in der Regel braucht es dazu aber die Einbringung durch einen Anwalt.
Je nach Verfahrensart werden beim VfGH Beschwerden etwa gegen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten eingebracht (Art. 144 B-VG), Anträge, etwa auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (Art. 140 B-VG), oder Wahlanfechtungen (Art. 141 B-VG).
Verfassungsrichter:innen dürfen ihren Beruf weiter ausüben, sofern sie nicht in der Verwaltung tätig sind.
Die Regeln über den VfGH finden sich ebenfalls in der Verfassung bzw. im entsprechenden Verfassungsgerichtshofgesetz.
Quellen
Das Thema in der WZ
Präsident Grabenwarter zum 100-jährigen Bestehen
Das Thema in anderen Medien
Kurier: Wahlanfechtung Innsbruck
Die Presse: Sterbehilfe