Barrierefreies Reisen mit den ÖBB ist schwierig. Menschen mit Behinderung brauchen einen langen Atem – und spezielles Knowhow. Niederschwellig ist das nicht.
Am Bahnhof in St. Pölten steht ein Zug. Roland Übelbacher möchte mit ihm zurück nach Wien fahren. Doch das ist gar nicht so einfach, denn Übelbacher ist Rollstuhlfahrer. „Das geht nicht“, sagt eine gestresste ÖBB-Mitarbeiterin. Das ist an diesem Tag schon der zweite Zug, der Übelbacher nicht mitnimmt. Die Begründung ist immer die gleiche: Es sei keine Zeit, ihm mit dem sogenannten Hebelifter beim Einsteigen zu helfen. „Mir ist die Situation peinlich“, sagt Übelbacher.
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Geschichten wie diese sind kein Einzelfall. Markus Ladstätter ist Rollstuhlfahrer und Vorstandsmitglied beim „Verein Bizeps – Zentrum für ein selbstbestimmtes Leben“. Er ist regelmäßig mit dem Zug unterwegs – und kritisiert die ÖBB. Barrierefreies Reisen sei aufwendig und nur mit speziellem Wissen möglich. Um zu sehen, in welchem Wagon Rollstuhlplätze sind, muss auf der ÖBB-Website ein Filter aktiviert werden. Niederschwellig ist das nicht. „Die Züge halten oft nur ein bis zwei Minuten, da ist es wichtig, gleich zur richtigen Tür zu fahren“, sagt er.
Komplizierte Kommunikation
Um mit einem Hebelifter Unterstützung beim Einsteigen zu bekommen, wird eine telefonische oder schriftliche Anmeldung empfohlen, die 24 Stunden vor Reiseantritt erfolgen soll.
Die Daten müssen in einem Formular unabhängig von der Ticketbuchung nochmals eingegeben werden. Das erschwert für Menschen mit Behinderung spontanes Reisen. Für Ladstätter ist das „kompliziert und mühsam“.
„Ein weiteres Problem ist, dass nicht jeder Bahnhof barrierefrei ist“, sagt Ladstätter. Informationen dazu bekommen Reisende auf der Website bahnhof.oebb.at, die alle österreichischen Bahnhöfe auflistet. Neben dem Feld Barrierefreiheit stehen Zahlen: 1, 2 oder 3. Diese Zahlen ergeben sich anhand von Kategorien, die bestimmen, inwieweit ein Bahnhof barrierefrei zugänglich ist. Für Reisende sei es nicht möglich, online nachzulesen, was die Einstufungen genau bedeuten.
Die ÖBB bestätigen auf Nachfrage, dass das Abrufen von Daten bezüglich Barrierefreiheit nicht immer einfach ist. „Wir arbeiten gerade an einer Verbesserung der Benutzer:innenoberfläche und an einer Erweiterung der Merkmale“, sagt die Pressesprecherin der ÖBB, Maria Magdalena Pavitsich, zur WZ.
Fehlende Information
Auch Markus Ladstätter kennt den Zeitdruck, der bei einer Verspätung entsteht: „Alle anderen Menschen haben die Möglichkeit, schnell einzusteigen, Rollstuhlfahrer:innen nicht. Nur weil wir auf Hilfe angewiesen sind. Und dann sagt das Personal ‚Nehmen Sie doch den nächsten Zug, wir sind schon zu spät dran‘.“
Umso wichtiger sei es, dass die Hilfestellungen funktionieren. In der Kommunikation mit den ÖBB gehen Informationen zwischen den unterschiedlichen Stellen oft verloren, berichtet Ladstätter. Als er für eine Reise schriftlich eine Reiseanmeldung buchte, wurde die intern nur telefonisch weitergeleitet und kam nicht an. Ladstätter strandete an einem Bahnhof.
Der Schienenersatzverkehr kam nicht und die Mitarbeiterin der Mobilitätsservicezentrale bot keine Alternativen an. „Die ÖBB müssen in so einem Fall eine Alternative anbieten. Das war der Mitarbeiterin aber nicht bekannt.“ Solche Vorfälle entsprechen „nicht unserem eigenen Anspruch und Qualitätsverständnis“, sagt Pavitsich von den ÖBB und ergänzt: „Es tut uns leid, wenn Kund:innen keine guten Erfahrungen beim Reisen mit unseren Services machen.“
Der Umgang mit behinderten Passagieren gleicht dem mit einem Gepäckstück.Markus Ladstätter, Verein Bizeps
Die Rollstuhlplätze in Railjets sind oft in der ersten Klasse. Rollstuhlfahrer:innen können in diesen Fällen ohne Aufpreis mitfahren. Das gilt auch für Klimaticketbesitzer:innen wie Roland Übelbacher. Wenn ÖBB-Mitarbeiter:innen das nicht wissen, kann das für Passagier:innen finanzielle Folgen haben. „Bei meiner Reiseplanung nach Tirol hat mir eine ÖBB-Mitarbeiterin im Reisezentrum gesagt, dass ich dafür 76 Euro aufzahlen muss. Ich habe mich darüber geärgert, denn ich kann mir den Platz im Zug nicht aussuchen“, sagt er.
Ladstätter kritisiert, dass im Umgang mit ÖBB-Mitarbeitenden oftmals das Bewusstsein fehle. „Der Umgang mit behinderten Passagieren gleicht dem mit einem Gepäckstück. Das wird in der Sprache unter den Mitarbeiter:innen hörbar. ‚Ich habe hier diesen Rollstuhl‘, sagen sie, anstatt ‚Ich habe hier Person X/Y‘“, so Ladstätter.
Den ÖBB zufolge werden alle Bordservice-Mitarbeiter:innen von einer österreichischen Behindertenorganisation im Umgang mit Menschen mit Behinderung geschult. Kund:innenfreundliches Verhalten sei Grundvoraussetzung.
Zu wenig Rollstuhlplätze
Immer mehr Menschen steigen auf den öffentlichen Verkehr um. Auch Rollstuhlfahrer:innen. Doch das Angebot der ÖBB wächst mit der Nachfrage nicht mit. „Zwei oder drei Rollstuhlplätze in einem Zug sind zu wenig“, sagt Ladstätter. In manchen Zügen gibt es keine Rollstuhlplätze. Ein Umbau ist – laut ÖBB – nicht vorgesehen, allerdings beschaffen die ÖBB für die Zukunft nur noch barrierefreie Wagons, die über Niederflureinstiege verfügen, um ein autonomes Reisen für Kund:innen im Rollstuhl zu ermöglichen. Für die Beschaffung neuer Züge beraten sich die ÖBB mit dem österreichischen Behindertenrat.
Zurück zum Bahnsteig in St. Pölten. Nach langer Diskussion darf Übelbacher mitfahren. Der dritte Zug nimmt ihn mit nach Wien.
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Infos und Quellen
Genese
Nadja Riahi ist Klimaticketbesitzerin und regelmäßig in Österreich unterwegs. Als ihr eine Freundin, die in einem inklusiven Team arbeitet, von mangelnder Barrierefreiheit bei den ÖBB erzählte, beschloss sie, sich das genauer anzusehen.
Gesprächspartner:innen
Markus Ladstätter ist Vorstandsmitglied von BIZEPS, dem ersten österreichischen Zentrum für Selbstbestimmtes Leben.
Roland Übelbacher ist Klimaticketbesitzer und arbeitet als Projektmitarbeiter bei der Agentur Sonnenklar und Peer Streitschlichter.
Maria Magdalena Pavitsich, Pressesprecherin ÖBB
Daten und Fakten
Die ÖBB sind in drei großen Teilkonzerne organisiert: die ÖBB-Infrastruktur AG, die ÖBB-Personenverkehr AG und die Rail Cargo Austria AG. An der Spitze steht die ÖBB-Holding AG. Die Anteile am Unternehmen sind zu 100 Prozent im Besitz der Republik Österreich. Im Jahr 2022 gab es an Bahnsteigen in Österreich 215 Rollstuhlhebelifte. Je nach Zugart sind entweder keine, zwei oder drei Rollstuhlplätze vorhanden.
Das Ziel der ÖBB: 2027 sollen mehr als 90 Prozent aller Bahnkund:innen barrierefreie Bahnhöfe und Haltestellen im Netz der ÖBB-Infrastruktur zur Verfügung stehen. Dafür werden die Schienenfahrzeuge sukzessive auf den neuesten Stand gebracht.
Die Barrierefreiheit auf den Bahnhöfen in Österreich wird von den ÖBB mit 1,2 oder 3 bewertet. Wert „1“ bedeutet barrierefrei – also ohne fremde Hilfe bzw. selbstständig nutzbar, Wert „2“ mit fremder Hilfe nutzbar und Wert „3“ nicht barrierefrei, selbst mit Hilfestellung für die jeweilige Kund:innengruppe nicht möglich.