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Ein belgischer Vergewaltigungsfall und was er uns über patriarchale Verhältnisse erzählt.
Ein wesentliches Erkennungszeichen patriarchaler Verhältnisse ist die Straffreiheit männlicher Gewalt an Frauen, insbesondere in ihrer sexuellen und sexualisierten Form.
- Für dich interessant: Eine Diskussion ohne Denkverbote – ohne an Frauen zu denken
In einigen Ländern der Welt beispielsweise wird Vergewaltigung nicht bestraft, wenn die Täter ihre Opfer heiraten. In anderen Ländern gibt es zwar keine Gesetze, die sexuelle und sexualisierte Gewalt offiziell straffrei stellen würden, in der Praxis ist sie es aber dennoch meist.
Kein Zweifel an der Tat
Ein Fall, der weltweit für Aufsehen sorgt, zeigt dies aktuell erneut:
Ein 24-jähriger Medizinstudent aus dem belgischen Löwen vergewaltigte im November 2023 bei einer Halloween-Party eine Kommilitonin. Vor Gericht bestand kein Zweifel daran, dass es sich bei der Tat um eine Vergewaltigung handelte – das Opfer nämlich war zu betrunken, um der sexuellen Handlung zuzustimmen.
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Das Urteil wurde schließlich am 1. April gefällt und die Strafe ist beachtlich – allerdings nicht beachtlich hoch: Der junge Mann wurde lediglich dazu verurteilt, 3.500 Euro Geldstrafe zahlen zu müssen. Freiheitsstrafe gibt es keine für ihn, noch nicht einmal gemeinnützige Dienste müssen von ihm geleistet werden. Auch wird seine Tat nicht ins Vorstrafenregister aufgenommen. Seit der Urteilsverkündung wird gegen den Schuldspruch (der eigentlich mehr einen Freispruch trotz Schuld darstellt) protestiert.
Ein Vergewaltiger als Gynäkologe
Der Grund für das geringe Strafausmaß ist ebenso beachtlich wie das Strafausmaß selbst: Die Milde des Urteils wurde nämlich nicht im Schweregrad der Tat begründet, sondern darin, dass der Richter befand, der Vergewaltiger wäre erstens sehr jung, zweitens sehr begabt, und er hätte hohes Ansehen, das ihm eine glänzende Karriere verheißen würde, die man ihm nun nicht versauen wollen würde. Wie begabt sein Opfer – ebenfalls Medizinstudentin – ist, wie jung oder wie angesehen die Frau ist, die er vergewaltigte, oder welche Karriere ihr bevorsteht (oder nun eben nicht, da sie sich aufgrund seiner Tat vermutlich mit einer lebenslangen Traumatisierung herumschlagen muss) spielte für das Gericht hingegen keine Rolle. Außerdem: Der Täter habe keine Vorstrafen, was zum einen als Grund angeführt wurde, ihn nur zu einer Geldstrafe zu verurteilen, und zum anderen, ihm auch jetzt keine Vorstrafe aufbrummen zu wollen. Ein Eintrag ins Vorstrafenregister schließlich würde seine Karriere als Arzt vereiteln.
Besonders perfide wird all das aber durch folgendes Detail: Der wegen Vergewaltigung verurteilte Medizinstudent will Gynäkologe werden.
Verurteilungsraten
Dass sexuelle und sexualisierte Gewalt an Frauen weitgehend straffrei bleibt, ist allerdings keine belgische Ausnahmeerscheinung. In Österreich etwa, so berichtete das Profil vor Kurzem, führen nur 8,6 Prozent aller Vergewaltigungen überhaupt zu einer Verurteilung. Die Zahlen für Deutschland sind ähnlich. Die 8,6 Prozent schließen zudem auch nur jene Fälle mit ein, die tatsächlich zur Anzeige gebracht wurden. Gerade bei Sexualstraftaten muss aber von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, da sich viele Opfer aufgrund von Scham, aufgrund eines Naheverhältnisses zum Täter, aufgrund von Traumatisierung oder aufgrund einer Kombination an Gründen nicht an die Polizei wenden.
Hilfe bei Gewalt:
Frauenhelpline: 0800 / 222 555
Gewaltschutzzentren: 0800 / 700 217
Männerberatung: 0800 / 400 777
Männernotruf: 0800 / 246 247
Telefonseelsorge: 142
Hilfe per Chat: https://www.haltdergewalt.at/
Und da viele davon ausgehen, dass ihnen ohnehin nicht geholfen wird. Angesichts der Zahlen muss man ernüchtert feststellen: Sie haben recht.
Eine 8,6-prozentige Verurteilungsrate bedeutet auch: Dass ein Täter, wie der junge Belgier, also überhaupt verurteilt wurde, ist schon der absolute Ausnahmefall bei einer Vergewaltigung. Statistisch betrachtet wurde er mit seinen mickrigen 3.500 Euro Bußgeld also sogar ungewöhnlich hart abgestraft, der Regelfall bei Vergewaltigung ist nämlich gar keine Strafe.
Kein Ausnahmefall
Der belgische Vergewaltigungsfall ist also leider kein schockierender Einzelfall, auch wenn er schockierend ist. Und er sollte auch nicht als Ausnahmefall diskutiert werden. Die Ausnahme ist viel eher, dass die Vergewaltigung überhaupt angezeigt wurde und dass es überhaupt eine Verurteilung gab. Auf diese systemische Ungerechtigkeit müssen wir unseren Fokus lenken – auf die Straffreiheit männlicher Gewalt.
Darauf, dass Status, Ruf und Karrieren von Männern wichtigere und schützenswertere Güter sind als das Leben, die Gesundheit und die Sicherheit von Frauen.
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.
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Infos und Quellen
Zur Autorin
Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.
Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.
Quellen
- Profil: Lässt Österreich Opfer von sexueller Gewalt im Stich?
- Statista: Europäische Union: Verurteilungen wegen Vergewaltigung in den EU-Mitgliedstaaten
Das Thema in anderen Medien
- Frankfurter Allgemeine: Vergewaltigung ohne Folgen?
- Der Standard: Belgien: Richter:innen sehen von Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung ab, weil der Mann "begabt" sei