Er hatte das Verlangen, "hinter der Gegenwart der Vergangenheit wieder zu begegnen": Vor zehn Jahren verstarb der französischen Star-Ethnologe
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"Ich hätte mich gern einmal richtig mit einem Tier verständigt. Das ist ein unerreichtes Ziel. (...) Das hätte es für mich bedeutet, mit einem Vogel sprechen zu können. Aber da ist die Grenze, die nicht überschritten werden kann. Diese Grenze zu überschreiten, würde für mich das größte Glück bedeuten."
Dieser Ausschnitt eines Interviews mit dem Journalisten Fritz Raddatz vermittelt einen ersten Eindruck der ungewöhnlichen Persönlichkeit von Claude Lévi-Strauss. Er war einer der bedeutendsten Ethnologen des 20. Jahrhunderts, der sich für die "Rechte des Lebenden" einsetzte, die auch Tiere miteinschlossen. Gleichzeitig war er ein engagierter Kritiker der westlichen Zivilisation und leidenschaftlicher Vorkämpfer für die sogenannten "primitiven" Völker.
Kaum ein anderer Gelehrter des 20. Jahrhunderts trug so viel dazu bei, Verständnis für das "wilde Denken" zu entwickeln. Er empfand Hochachtung für schriftlose Kulturen, die er keineswegs als Vorformen logisch-rationaler Kulturen ansah. Vielmehr schätzte Lévi-Strauss die kunstvoll gewobenen Gebilde, die eine umfassende Sicht des Kosmos und des Alltags anbieten. Sein wissenschaftliches Projekt bestand darin, unterschiedliche Kulturen ohne ein Bewertungsraster zu analysieren.
Assoziationstechnik
In seinen Büchern befasste sich der Wissenschafter vornehmlich mit der Suche nach universellen Gesetzen, die menschliche Handlungen in verschiedenen Gesellschaften bestimmen. Er war davon überzeugt, dass nicht das autonome Bewusstsein, sondern gesellschaftliche und soziale Regeln, Codes und Strukturen die menschliche Existenz leiten.
Geboren wurde Claude Lévi-Strauss am 28. November 1908 in Brüssel als Sohn einer französisch-jüdischen Familie. Nach der Übersiedlung der Eltern nach Paris studierte er Rechtswissenschaften und Philosophie an der Sorbonne. Bereits als 16-Jähriger begann er mit der Lektüre der Schriften von Karl Marx, den er zeit seines Lebens als wichtigen Anstoß für sein Denken betrachtete.
Bei soziologischen oder ökonomischen Problemen schlage er oft bei Marx nach, bekannte Lévi-Strauss. 1932 bestand er erfolgreich das Staatsexamen in Philosophie und unterrichtete an verschiedenen Gymnasien. Bald begann ihn diese Tätigkeit zu langweilen, und er fühlte sich von der Ethnologie angezogen, in der die Frage nach dem "Anderen" der westlichen Zivilisation eine wichtige Rolle spielte. Obwohl Lévi-Strauss kein ethnologisches Fachstudium aufweisen konnte, erhielt er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Sao Paulo. Er nützte diese Zeit für mehrere Reisen ins Innere Brasiliens, wo er ethnographische Studien betrieb.
Er kehrte nach Frankreich zurück, musste das Land nach der Besetzung durch die Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen. In New York erhielt er eine Stelle an der New School for Social Research und begeisterte sich für das Leben in der pulsierenden Großstadt. Er habe dort die schönste und reichhaltigste Zeit seines Lebens verbracht und einen Großteil seiner ethnologischen Kenntnisse erworben, bekannte er in einem Interview. In New York lernte Lévi-Strauss neben führenden US-Ethnologen wie Franz Boas, Ruth Benedict oder Margret Mead auch surrealistische Schriftsteller und Maler wie André Breton oder Max Ernst kennen.
Die Surrealisten wandten sich gegen die Vorherrschaft des Rationalismus, der die europäische Kultur entscheidend geprägt hatte. Durch die Bekanntschaft mit den surrealistischen Künstlern kam Lévi-Strauss mit deren Assoziationstechnik in Kontakt. Sie war für den Ethnologen, wie er später bemerkte, eine wichtige Propädeutik, um die ebenfalls surrealen Konfigurationen der Mythen lesen zu können.
Die weitaus folgenreichste Auswirkung hatte die Bekanntschaft mit dem Sprachwissenschafter Roman Jakobson, die eine vierzig Jahre lang andauernde "Freundschaft ohne Brüche" begründete. Jakobson, der von 1896 bis 1982 lebte, vermittelte Lévi-Strauss die Ergebnisse der damals neuen strukturalen Linguistik: Die Erforschung der phonologischen Bestandteile der Sprache sollte zur Entdeckung allgemeiner Gesetze führen, die die Lautsysteme strukturieren.
Die Begegnung mit Jakobson veranlasste den Franzosen, das Konzept der Struktur auf die Verwandtschaft anzuwenden. Die Umsetzung dieser Programmatik erfolgte in dem 1949 publizierten Werk "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft", in dem er aufzeigte, dass Verwandtschaftsverhältnisse - unabhängig von einer geographisch begrenzten Kultur - gleiche Strukturen aufweisen. Diese Strukturen untersuchte Lévi-Strauss mit Hilfe von Diagrammen und mathematischen Schemata; diese Vorgangsweise trug ihm den Ruf ein, den Strukturalismus - zumindest in Frankreich - begründet zu haben. Ausgehend von diesen Analysen der Heiratsregeln, betonte Lévi-Strauss die Bedeutung des Frauentausches für den Zusammenhalt von Stammesgesellschaften.
"Das wilde Denken"
Die These des Wissenschafters, dass der Frauentausch ein wesentliches Element des gesellschaftlichen Lebens sei, stieß vielfach auf heftige Kritik von Feministinnen. Der Ethnologe verteidigte sich mit dem Argument, dass der Frauentausch in nahezu allen sogenannten primitiven Gesellschaften anzutreffen war; er wollte nur eine Tatsache beschreiben und keine Wertung vornehmen. Das war ein Argument, dem auch Simone de Beauvoir - die Feministin der ersten Stunde - beipflichtete.
Nach einem Zwischenspiel als französischer Kulturattaché in den Vereinigten Staaten erhielt Lévi-Strauss 1950 einen Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaften der schriftlosen Völker an der École pratique des hautes études in Paris und 1959 einen Lehrstuhl für Anthropologie am renommierten Collège de France.
1955 wurde das mittlerweile zum Kultbuch avancierte Werk "Traurige Tropen" publiziert, das neben ethnographischen Berichten und philosophischen Reflexionen auch persönliche Notizen enthält. Darin beschrieb Lévi-Strauss Herrschaftsstrukturen, Verwandtschaftsbeziehungen, Handwerkstechniken, Kommunikationsweisen und Handelsstrategien der unterschiedlichen indigenen Gruppen. Das Fazit der Forschungsreisen des Wissenschafters zu verschiedenen brasilianischen Gesellschaften lautete: "Das sind Völker, die das Wunder geschafft haben, im Einklang mit ihrem natürlichen Umfeld zu leben, und die Natur respektieren, die Tiere und die Pflanzen. Ich glaube, unsere Gesellschaften können viel von ihnen lernen."
In diesen Jahren veröffentlichte Lévi-Strauss Bücher wie "Das Ende des Totemismus" und "Das wilde Denken" und arbeitete an der vierbändigen, rund 2000 Seiten umfassenden Monumentalstudie "Mythologica", in der er 813 Mythen analysierte. In diesen Werken ließ er sich auf jene geheimnisvolle Welt des Mythischen ein, die dem westlich-rationalen Denken völlig konträr ist. In der mythischen Weltsicht sah der Ethnologe den Versuch, den Gesamtzusammenhang des Universums - vom Ursprung der Götter über die Menschen bis hin zu Pflanzen und Steinen - in einer ars combinatoria zu präsentieren. In den indianischen Kulturen wird der Mythos als Geschichte von Ereignissen bestimmt, die in einer Zeit stattfanden, in der die Menschen und die Tiere sich noch nicht voneinander unterschieden.
Sie sind "jene große anonyme Stimme, die eine aus uralten Zeiten gekommene, aus den Tiefen des Geistes entsprungene Rede verkörpert". In der rund tausend Seiten umfassenden Lévi-Strauss- Biographie der französischen Historikerin Emmanuelle Loyer finden sich einige Beispiele dieser Mischformen von Mensch und Tier: Affen-Frauen und Männer, die die Gestalt des Jaguars angenommen haben, zusammenleben; Geier, die ihr Federgewand ablegen, um in ein menschliches Äußeres zu schlüpfen; Frauen, die sich mit dem Mond paaren, oder Dame Grizzly und Dame Bär, die sich in junge Mädchen verwandeln.
Lévi-Strauss betonte, dass die Mythen nichts über die Ordnung der Welt oder den Ursprung des Menschen aussagen. Sie geben auch keine Hinweise auf eine in sich geschlossene Metaphysik oder enthalten Rezepte für Gesellschaftstheorien. Der Mythos kennt keine diskursive Logik des Erzählens; es existiert kein Urtext, auf den man sich beziehen kann. Die Mythen haben Systemcharakter, das heißt, nicht die einzelnen Gestalten, die einzelnen Termini, Figuren, Tiere, Phänomene sind von Bedeutung, sondern die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen.
"Neolithischer Verstand"
Mythen sind Gedankengebäude, die das Verständnis der Welt erleichtern. "Die Mythen lehren uns viel über die Gesellschaften, denen sie entstammen, sie helfen uns, die inneren Triebfedern ihres Funktionierens aufzudecken, und ermöglichen es, einige Operationsweisen des menschlichen Geistes zu erhellen."
"Die Mythen durchtränkten mich geradezu", notierte der Wissenschafter, "ich lebte mit all den Mythen wie in einem Feenmärchen." Etwas ironisch konstatierte er, über "einen neolithischen Verstand" zu verfügen, der so funktioniere wie bei den Amazonas-Indianern. Sein Einfühlungsvermögen in die surrealistisch anmutende mythische Welt machte ihn besonders sensibel für das Verschwinden "primitiver", schriftloser Völker. Er empfand Trauer angesichts der Gewissheit, dass die hemmungslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen dazu führen würde, dass diese Völker dem Untergang geweiht seien.
Sich selbst sah Lévi-Strauss als Don Quichotte - mit dem quälenden Verlangen, "hinter der Gegenwart der Vergangenheit wieder zu begegnen"; einer Vergangenheit, die dem mythischen Weltbild des "wilden Denkens" entspricht und das elegisch in der Schlusspassage der "Traurigen Tropen" beschworen wird: "Die Poesie des Augenblicks" entsteht "bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, die weiser ist als unsere Bücher oder in dem Blick, den ein unwillkürliches Einverständnis mit einer Katze zuweilen auszutauschen gestattet".
Am 30. Oktober 2009 verstarb Claude Lévi-Strauss im Alter von 100 Jahren in seinem Haus in der Normandie.
Literaturhinweise:
Die wichtigsten Bücher von Claude Lévi-Strauss wie "Traurige Tropen" oder "Das wilde Denken" wurden als suhrkamp taschenbuch wissenschaft publiziert. Besonders empfehlenswert: Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biographie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2017, 1088 Seiten, 59,70 Euro.
Nikolaus Halmer, geboren 1958, Studium der Philosophie, Romanistik, Theaterwissenschaft, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.