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Die pazifische Epoche

Von Thomas Seifert

Reflexionen

China hat im Jahr 2014 die USA als größte Wirtschaftsmacht abgelöst. Auf dem Globus findet die größte Verschiebung der geopolitischen Plattentektonik seit dem Ersten Weltkrieg statt.


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Als die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds im Oktober 2014 die neuen Daten des World Economic Outlook präsentierten, steckte darin eine Sensation: China hat die USA 2014 als größte Wirtschaftsmacht abgelöst. Das Bruttoinlandsprodukt Chinas betrug im Jahr 2014 17,6 Billionen Dollar verglichen mit 17,4 Billionen Dollar für die USA. Und China zieht auch 2015 und in den darauf folgenden Jahren weiter davon - es handelt sich um die größte Verschiebung globaler Macht seit dem Ersten Weltkrieg.

1815, nach den Napoleonischen Kriegen und dem Ende des Wiener Kongresses am 9. Juni, war Großbritannien zur Führungsmacht der Welt aufgestiegen, das britische Imperium reichte von Australien über Teile des heutigen Malaysia, Indien, dem Kap der Guten Hoffnung und Sierra Leone an der Westküste Afrikas bis nach Kanada. Das britische Pfund war die globale Leitwährung, London der wichtigste Finanzplatz der Welt. In den 1870er Jahren überholten die Vereinigten Staaten Großbritannien wirtschaftlich, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die USA die Führungsrolle in der westlichen Welt. Nachdem der Zweite Weltkrieg den europäischen Kontinent, Japan und weite Teile von China und Asien verwüstet hatte, war Japan geschlagen, Deutschland am Boden, Frankreich und Großbritannien erschöpft, und Osteuropa in den Orbit der Sowjetunion geraten.

Die USA waren der Haupt-Architekt der neuen Weltordnung. In Bretton Woods wurde die Weltwirtschaft neu geordnet, die Vereinten Nationen sollten das zen-trale Forum der Weltpolitik werden. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte damals die Vision einer Weltwährung "Bancor", doch die USA setzten sich durch, und der Dollar wurde Welt-Reservewährung, der Sturz des britischen Pfunds vom Thron der Weltwährung hatte schon zuvor begonnen. Nach Bretton Woods war er irreversibel. Der französische Präsident Charles de Gaulle machte die Dollar-Dominanz in den Sechzigern in Pressekonferenzen zu seiner cause célèbre, die USA würden ein "exorbitantes Privileg" genießen, meinte sein Finanzminister Valéry Giscard d’Estaing.

Denn wenn alle Welt Dollars halten muss, dann ist das wie ein zinsenfreier Kredit für die USA. Die USA konnten stets Geld zu einem niedrigeren Zinssatz borgen als der Rest der Welt. Der Finanzminister John Connally meinte Anfang der siebziger Jahre auf die Frage eines ausländischen Journalisten zum Dollar: "Er ist unsere Währung, aber euer Problem."

Zuletzt argumentierten Ökonomen, dass der Dollar zu einer "exorbitanten Bürde" für die USA geworden sei, weil Länder wie China - und die meisten anderen Überschussländer, also auch Deutschland - massiv in Dollar-Anleihen investiert sind und dadurch den Dollar-Kurs hochdrücken, womit das Leistungsbilanzdefizit, Arbeitslosigkeit und Schulden in die Höhe schnellen.

Die Jahre von 1945 bis 1989 waren dominiert vom Block-Konflikt zwischen den USA und der UdSSR. In den westlichen Nationen gab es einen unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag, nach dem die Arbeitnehmer entsprechend den Profiten der Unternehmen Lohnsteigerungen erhalten. Großzügige Sozialstaaten waren Symbole der Überlegenheit des westlichen Systems.

Das Weltfinanzsystem war fragmentiert, Länder wie Indien und China, aber auch die Staaten Südostasiens, Lateinamerikas und Afrikas waren nicht voll in das globale Finanzsystem integriert. Es war eine ruhige Zeit an den Weltmärkten.

1979 kam das Jahr der liberalen Wende: Nach dem Tod von Mao Zedong in China wurde der Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping neuer Machthaber, er beendete 1979 die selbst gewählte Isolation des Landes und legte den Grundstein für die heutige wirtschaftliche Macht Chinas. Mit dem neuen Machthaber und der konservativen Wende von Margaret Thatcher (sie wurde 1979 Premierministerin Großbritanniens) und Ronald Reagan (er wurde 1980 zum US-Präsidenten gewählt) dämmerte das Zeitalter des "Ich" herauf. Darauf folgte 1989 ein Jahr der Revolutionen und Umbrüche, in Berlin fiel die Mauer, die Zäune zwischen Ost und West wurden durchtrennt, der Osten konnte sich aus dem Orbit der Sowjetunion lösen. Es war die Zeit der Freiheit. Die USA hatten nach dem siegreich geschlagenen Zweiten Weltkrieg den nächsten Erfolg errungen, die Unterstützung der Solidarnosc-Bewegung in Polen und der gegen die Sowjets kämpfenden Mudschaheddin durch die USA trug genauso zum Untergang der Sowjetunion bei wie eine konzertierte Aktion der USA und Saudi-Arabiens, die den Ölpreis 1986 von 26,8 auf unter zehn Dollar drückte. Letzeres eine Politik, die auch heute wieder mit großem Erfolg gegen den Nachfolgestaat der Sowjetunion, Russland, eingesetzt wird.

Auch in China gingen die Menschen auf die Straße, ein Besuch des sowjetischen Perestroika- und Glasnost-Präsidenten Michail Gorbatschow motivierte die Studentenbewegung, am Tian’anmen-Platz für Freiheitsrechte zu demonstrieren. Der liberale Ex-Premier und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas Zhao Ziyang hatte Verständnis für die Forderungen der Studenten, doch Chinas starker Mann Deng Xiaoping ließ die Proteste niederwalzen.

Nach dem Mauerfall 1989 oder spätestens mit dem Ende des ersten Irakkrieges begann das unbeschwerte Zeitalter des Optimismus und für die USA die Jahre der unumschränkten Hypermacht. Die Sowjetunion - der Erzfeind des Westens - war 1991 kollabiert, im selben Jahr gliederte sich Indien in den globalen Markt ein. Das Zauberwort jener Jahre lautete Globalisierung. Und selbst das Schlachten am Balkan konnte den europäischen Integrationsprozess, der in diesen Jahren mit Volldampf lief, nicht bremsen.

Erste Risse im Wirtschaftssystem waren aber schon spürbar: Der Börsencrash vom 19. Oktober 1987 - Black Monday - war der erste Börsenkrach nach dem Zweiten Weltkrieg, der Dow Jones fiel um 22,6 Prozent. Finanzkrisen kamen mit immer rascherer Regelmäßigkeit: Zuerst platzte 1992 die japanische Immobilienblase, dann schlitterte 1994 Mexiko in eine schwere Wirtschaftskrise, dann Asien 1997/98, und schließlich erklärte Russland 1998 den Staatsbankrott. Der Kollaps des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) 1998 hätte beinahe die Weltwirtschaft mit in den Abgrund gerissen. Im selben Jahr dann die große Depression in Argentinien. 2001 platzte die Internetblase, und am 15. September 2008 kollabierte mit der Investment-Bank Lehman Brothers beinahe das Weltfinanzsystem. Das Zeitalter des Optimismus war definitiv ebenso vorbei wie der unipolare Moment für die USA oder die EU-Phorie für die Europäische Union.

Was die Welt seither erlebt, ist eine Welle der Deglobalisierung, der Rückkehr des Nationalismus und der egoistischen Kleinstaaterei in Europa samt von Großbritannien angefachter Zerfallserscheinungen der EU. Völlig paralysierte und polarisierte Vereinigte Staaten. Eine vom Irak-Debakel und den Misserfolgen in Afghanistan demoralisierte US-Militärstreitmacht. Auf den Arabischen Frühling folgten die Reaktion und Restauration des Militärregimes in Ägypten, Libyen versinkt im Chaos, und der Bürgerkrieg im Irak und Syrien metastasierte zu einem schrecklichen regionalen Krieg im Nahen Osten, der irgendwann zu einem katastrophalen direkten Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien ausarten könnte.

Rückkehr der Führer

Die Rückkehr mächtiger Führungsfiguren mit autokratischen Zügen auf die Weltbühne wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan oder Xi Jinping ist ein weiteres beunruhigendes Signal. Ebenso wie die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in Österreich, Ungarn, in einigen skandinavischen Ländern, Frankreich und nun auch in Deutschland. Der dahinköchelnde Bürgerkrieg in der Ukraine und die schleichende Auferstehung des Kalten Krieges zwischen Russland und dem Westen. All das sind beunruhigende Alarmsignale für diese Ära der neuen Weltunordnung.

Der Westen steckt in einer Dreifach-Krise: einer Krise des westlichen Finanzkapitalismus, der Krise der westlichen Parteiendemokratie und der Krise des globalen Steuerungssystems.

Finanzkapitalismus, Parteiendemokratie und das globale Steuerungssystem mit den Bretton-Woods-Institutionen IWF, Weltbank und WTO sowie den Vereinten Nationen sind ebenfalls vom Westen ersonnen worden. Ist es Zufall, dass sich die Triple-Krise gerade jetzt entfaltet? Oder hat sich der Übergang von der atlantischen zur pazifischen Epoche nicht schon länger abgezeichnet? Diese Transitionsphase von der atlantischen zur pazifischen Epoche ist die große Story unserer Zeit.

Während der Großen Depres- sion ab dem Jahr 1929 haben die Menschen das Vertrauen in die Märkte verloren und begonnen, den Staat nach Empfehlungen von John Maynard Keynes als Retter in der höchsten Not zu sehen. Als dann die Kombination aus Stagnation und Inflation in den siebziger Jahren die Wirtschaft lähmte, schwand das Vertrauen in den Staat, die Regierungen setzten in den achtziger und neunziger Jahren auf ungezügelte Märkte. 2008 schlug die große Rezession zu. Nun war der Glaube an den Markt erneut schwer erschüttert, doch das Vertrauen, dass der Staat die Probleme lösen kann, war ebenfalls dahin. Die Krise des Kapitalismus hat also direkt in die Krise der Demokratie geführt.

Das Wort von der "Vetokratie" macht die Runde und beschreibt eine USA, deren politisches System durch ein Gewaltenteilungsgewirr kaum mehr zu kollektivem Handeln fähig ist.

Die westlichen Demokratien verkommen zu "Postdemokratien", wie der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch das nennt: In Postdemokratien werden zwar nach wie vor Wahlen abgehalten, die Wahlkämpfe werden aber von den konkurrierenden Teams der Spin-Doktoren so stark kontrolliert, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommen, bei dem nur über jene Themen diskutiert wird, die die PR-Profis in ihrem Agenda-Setting ausgewählt haben.

Die Mehrheit der Bürger spielt nur mehr eine passive Zuschauerrolle, die Wählerschaft reagiert nur mehr reflexartig auf die hingeworfenen Wort-Brocken. Im Schatten einer solchen Wahlkampf-Inszenierung wird dann Politik hinter verschlossenen Türen gemacht.

Das globale Steuerungssystem ist seit langer Zeit dysfunktional: Wie kann etwa der UN-Sicherheitsrat Legitimität genießen, wenn Indien oder Indonesien, Südafrika oder Nigeria, Brasilien und Argentinien keinen Sitz in diesem wichtigsten Gremium der Welt haben? Wie kann China dem Internationalen Währungsfonds vertrauen, wenn Europa den Posten des IWF-Direktors als europäische Erbpacht versteht und die USA ein faktisches Vetorecht genießen? Wie können andere Entwicklungsländer der Weltbank vertrauen, wenn der Weltbank-Präsident vom jeweiligen US-Präsidenten eingesetzt wird? China setzt seit einiger Zeit auf Parallelstrukturen zu Weltbank und IWF, und die G20 der wichtigsten zwanzig Wirtschaftsmächte übernehmen immer mehr Aufgaben.

Wie geht es also weiter? Die Konturen der pazifischen Epoche lassen sich bereits erahnen, das Schwergewicht der Weltwirtschaft wandert Richtung Osten. Das hat auch für Europa und die USA Auswirkungen: Denn die Vereinigten Staaten sind nicht nur eine atlantische, sondern auch eine pazifische Macht. Die Westküste - bereits heute der Motor wirtschaftlicher Dynamik und Innovation in den USA - wird noch weiter an Bedeutung gewinnen. Ebenso könnten der Südosten und Osten Europas eines Tages von einer Landverbindung nach China profitieren, auch logistische Knotenpunkte könnten dort entstehen. Diese Infrastruktur-Herausforderung muss Europa annehmen.

Die EU muss eine eigenständigere Außenpolitik (vor allem auch Asien-Politik) betreiben, denn die Vereinigten Staaten und Europa haben in dieser Region jeweils ihre eigenen Interessen. Deutschland, die Niederlande, Spanien und Italien können etwa gegenüber China eine positive Leistungsbilanz vorweisen, während die USA ein Leistungsbilanzdefizit von fast hundert Milliarden Dollar mit China aufweisen. Der Beginn der pazifischen Epoche heißt für den Westen aber auch, den wild gewordenen Finanzkapitalismus wieder zu zähmen und die Demokratie mit neuem Leben zu erfüllen.

Das Ende der Hegemonie

Das dräuende Ende der westlichen Hegemonie legt dem Westen zudem nahe, sich bereits heute auf die Welt von morgen einzustellen und die Reformen an einem multilateralen System mit Hochdruck voranzutreiben, solange Europa und die USA überhaupt noch Gehör finden. Die Blockadehaltung der USA, dem aufsteigenden China seinen Platz in den Bretton-Woods-Organisationen zu verweigern, ist ein Kardinalfehler. Das Reich der Mitte und die anderen aufstrebenden Länder Asiens werden sich auf Dauer schlicht nicht mit einer ihnen vom Westen zugedachten minderen Rolle in der sogenannten "internationalen Staatengemeinschaft" zufriedengeben.

Aber das pazifische Zeitalter (das gilt für die Länder des be-nachbarten Indischen Ozeans genauso) ist nicht nur eine Ära wirtschaftlicher Veränderungen und gewaltiger Verschiebungen in der geopolitischen Plattentektonik: Eine lebendige Jugendkultur ist am Entstehen, und die Länder Asiens geben sich längst nicht mehr mit der Rolle einer verlängerten Werkbank zufrieden. Einige reportagehafte Episoden aus dem jungen, innovativen und kreativen Asien mit allen Problemen und Herausforderungen, aber auch mit aller Energie und allem Elan, bilden schließlich den dritten Teil des Buches.

Das Faktum, dass China nun die Nummer eins in puncto Bruttoinlandsprodukt in Kaufkraftparitäten ist, bedeutet nicht, dass dieser Erfolg Chinas zulasten Europas oder der USA gehen muss. Die Weltwirtschaft ist kein Nullsummenspiel, wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz gerne sagt. Europa hat bewiesen, dass es Exportchancen nach Asien zu nutzen versteht. Europa hat den Ländern Asiens Lösungen für die Umweltprobleme, Verkehrsprobleme und die Schaffung sozialer Sicherungssysteme anzubieten, die kein anderer Wirtschaftspartner - mit der Ausnahme Japans - anzubieten hat. Der Westen muss die Welt wieder von der Überlegenheit von Demokratie und Marktwirtschaft überzeugen. Das kann aber nur funktionieren, wenn die real im Westen gelebte Demokratie und Marktwirtschaft auch glaubwürdig sind und nicht zu Postdemokratien verkommen und der Markt nicht zu einer Arena der Gier pervertiert. Es kommt nicht von ungefähr, dass Stiglitz daran erinnert, dass China 500 Millionen Menschen aus der Armut geholt hat, während die Mittelschicht Amerikas stagniert oder von Abstiegsängsten geplagt ist. Es bedarf einer westlichen Renaissance. Die Krise von 2008 hätte dazu eine Chance geboten: Das chinesische Wort für Krise besteht schließlich aus zwei Schriftzeichen: Wei steht für Gefahr oder Risiko, Ji für Chance oder Gelegenheit. Rahm Emanuel, damals Stabschef im Weißen Haus, hatte folgenden Ratschlag parat: "Never let a serious crisis go to waste" (Vergeude nie eine schwere Krise.) Leider wurde sie vertan.

Thomas Seifert, Jahrgang 1968, ist stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung". Am 19. März 2015 um 19:00 Uhr wird sein Buch "Die Pazifische Epoche" im Rahmen eines Alpbach-Talks in der Hauptbücherei Wien (Urban Loritz-Platz 2a, 1070 Wien) vorgestellt.