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Mit 120.000 syrischen Flüchtlingen ist das in Jordanien gelegene Lager Zaatari das zweitgrößte Camp der Welt.
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Zaatari. Der immerwährende Wind wirbelt den weißen Sandboden auf und treibt feinen Staub in die Augen. Um sich davor zu schützen, binden die Bewohner von Zaatari Tücher vor Mund und Nase. In den Zelten, die sich auf mittlerweile zwölf Quadratkilometern Wüste erstrecken, finden sich Matratzen, Decken und ein Propangaskocher. Das ist alles.
Zaatari ist das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt und die fünftgrößte Stadt Jordaniens. Hier leben knapp 120.000 Syrer und jeden Tag werden es mehr. Erst versuchte Jordanien, Zaatari allein zu managen. Doch dann geriet die Situation außer Kontrolle, und die Regierung rief das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR zu Hilfe. "Es ist furchtbar, im Lager zu leben", sagt Abu Ahmed, der mit seiner Familie aus Homs über die Grenze nach Jordanien geflohen ist. Dort stehen Busse, die die Flüchtlinge dann nach Zaatari transportieren. Die meisten von ihnen kommen aus der Provinz Daraa, die an Jordanien grenzt. Abu Ahmad hat aber auch schon Leute aus Damaskus und sogar Aleppo hier getroffen.
Laut den Vereinten Nationen sind bereits 1,5 Millionen Syrer geflohen, seit der Aufstand gegen Machthaber Bashar al-Assad begonnen hat. Jordanien hat von allen Ländern die meisten Vertriebenen aufgenommen, den offiziellen Angaben zufolge sind es 560.000. Die tatsächliche Zahl dürfte aber weitaus höher sein, denn nicht alle Flüchtlinge lassen sich registrieren - aus Angst, dann nicht mehr zurückkehren zu können, wenn ihr Name auf den Listen steht. Dabei hat "das Land jenseits des Jordan", wie die Region in der Bibel genannt wird, selbst nur knapp mehr als sechs Millionen Einwohner. Wenn die Schätzungen der UNO sich bewahrheiten, werden am Jahresende doppelt so viele Syrer in Jordanien sein wie jetzt. Eine schier unlösbare Aufgabe für die Regierung in Amman.
"Das schwierigste Lager"
Abu Ahmad steht mit seiner gelben Weste vor dem Familienzelt. Er will herausfinden, wie er sein Zelt gegen einen Caravan tauschen kann. Die aufziehende Sommerhitze sei unter den PVC-Planen unerträglich. Der Leiter des Lagers habe versprochen, bis Ende Juli alle Zelte durch Wohnwagen ersetzt zu haben. Bis jetzt sind aber nur wenige zu sehen. "Außerdem ist das Wasser stark gechlort", beklagt sich sein Sohn und zeigt seinen Hautausschlag, für den er das behandelte Trinkwasser verantwortlich macht. Viele im Lager litten darunter.
Die Männer des deutschen Technischen Hilfswerks (THW), die täglich vier Millionen Liter Frischwasser herankarren, versprechen bald Abhilfe. Man sei dabei, Brunnen zu bohren, um die Wasserversorgung autonom sicherzustellen. Bislang käme das Wasser mit Tankwagen aus unterschiedlichen Teilen Jordaniens, erklärt einer der sieben deutschen Wasser-Spezialisten. Manchmal wäre es dreckig und voller Bakterien. Um Seuchen zu vermeiden, müsse es eben mit Chlor versetzt werden.
Doch nicht nur die Wasserversorgung liegt in deutscher Hand, sondern auch die Lagerleitung. Das Wort "Lagerleiter" höre er aber nicht gerne, sagt Kilian Kleinschmidt und bezeichnet sich eher als "Bürgermeister von Zaatari". Seit drei Monaten versucht der Berliner, "den Laden wieder auf die Reihe zu bringen".
Mit seinen 50 Jahren hat der Sohn eines Lehrers schon reichlich Erfahrung in Sachen Flüchtlingsproblematik gesammelt: im Kongo, im Sudan und in Sri Lanka. Er half mit, das größte Flüchtlingslager der Welt, Dadaab in Kenia, aufzubauen und initiierte eine Schule in Mali. "Doch dieses Lager ist das schwierigste", bekennt Kleinschmidt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Gewalt, Kriminalität, Schmuggel, Drogen- und Menschenhandel sind die Probleme, mit denen er sich täglich auseinandersetzen muss.
Traurige Bilanz der letzten Monate: Zwölf Polizisten und sechs Mitarbeiter wurden verletzt, Zelte und Wohnwagen gestohlen und weiterverkauft, minderjährige Mädchen auf dem Heiratsmarkt verscherbelt. "Es ist ein Puzzle mit 10.000 Teilen", umreißt Kleinschmidt die unendliche Herausforderung. In den kommenden Monaten will er Verwaltungsstrukturen und Anlaufstellen für die Flüchtlinge schaffen, zugleich sollen die Lagerbewohner eine gewisse Selbstverantwortung übertragen bekommen. Und trotzdem werden viele Probleme bleiben. "Die Menschen hier können keinen Abstand zu dem Konflikt gewinnen", umreißt der Bürgermeister von Zaatari einige der Beweggründe für die Missstände im Lager. "Der Krieg ist gleich nebenan, jede Familie hat einen direkten Bezug dazu." In Sichtweite verläuft die Grenze zu Syrien.
Dramatische Szenen spielen sich dann am Abend ab. Junge Männer prügeln sich am Ausgang des Lagers um einen Platz in den zwei bereitstehenden Bussen. Jeder will mit. "Sie fahren zurück in den Krieg", kommentiert ein Älterer. "Haltet sie fest", schreit eine Frau mit gegerbtem Gesicht und braunem Kopftuch. "Bashar wird sie abschlachten!"
Die Flüchtlingszahl ist 2012 auf den höchsten Stand seit 19 Jahren geklettert. Weltweit waren im vergangenen Jahr 45,2 Millionen Menschen auf der Flucht - so viel wie seit dem von Bosnien-Krieg und dem von dem Völkermord in Ruanda gekennzeichnetem Jahr 1994 nicht mehr. Laut aktuellen UNHCR-Report, der im Vorfeld des heutigen Weltflüchtlingstags veröffentlicht wurde, ist vor allem der Bürgerkrieg in Syrien für diese Entwicklung verantwortlich. Neue Massenfluchtbewegungen wurden 2012 in Mali, dem Sudan und Äthiopien verzeichnet.