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Ein Spiegel über vier Jahrhunderte

Von Andrea Reisner

© Wiener Zeitung

Ein Streifzug durch die Historie der ältesten noch erscheinenden Tageszeitung der Welt, von der Ära Prinz Eugens bis in die Gegenwart.


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Am 8. August 1703 erschien zum ersten Mal das "Wiennerische Diarium". Wie sahen die ersten Ausgaben aus? Winzig (Format ca. 16 mal 20 cm), und – wie damals in ganz Europa üblich – sehr dünn, meist 8 Seiten. Einer heutigen Zeitung entsprach das Blättchen jedenfalls nicht: keine Schlagzeilen, keine Bilder (nur selten Schmuckleisten). Das "Wiennerische Diarium", das später ein "n" im Titel verlor, kam lediglich mittwochs und samstags heraus – Wien besaß miserable Nachrichtenverbindungen, nur an zwei Wochentagen traf Fernpost ein. Vielleicht ein halbes Dutzend Mitarbeiter werkte im Haus zum roten Igel an der Ecke Brandstätte-Wildpretmarkt, ca. 1000 bis 1500 Exemplare passierten die hölzernen Pressen, die im Regensburgerhof am Lugeck standen.

Zeitung war damals reiner Luxus. Ein Großteil der Menschen, darunter viele Analphabeten, lebte in bitterer Armut. Unser Blatt kostete 7 Kreuzer. Für 3 Kreuzer bekam man im Kaffeehaus eine Tasse Kaffee. Und als Draufgabe durfte man in den Gazetten blättern.

Unsere Redaktion versprach schon in der ersten Ausgabe "Alles Denckwürdige" aus Wien und "auß der gantzen Welt", und das ohne "Poetischen Schminck". In den ersten Jahren stand kriegerische Berichterstattung im Vordergrund. Bis 1713/14 war die Monarchie in einen großen europäischen Konflikt verstrickt (Spanischer Erbfolgekrieg). Die Menschen des Landes, die ungeheures Leid erlebten und härtestem Steuerdruck ausgesetzt waren, wollten natürlich wissen, wie die Dinge lagen und wie sie sich entwickeln würden. Das "Diarium" kam wie gerufen.

Noch einmal zur allerersten Nummer: "Mit Ihro Römischen Kayserlichen Majestät allergnädigsten Privilegio" vermerkt das Titelblatt. Im Prinzip hieß das nichts anderes, als dass Kaiser Leopold I. den Druck des Periodikums erlaubte. Es existierte keinerlei Pressefreiheit, ohne Zustimmung des Herrschers durfte kein publizistisches Unternehmen agieren. Doch verlegte nicht der Hof das "Diarium", das in diesem Sinne also keine reine Hofzeitung war. Die Redaktion hatte durchaus Freiräume. Zwar erfolgte die Gründung natürlich im Interesse und Auftrag des Regenten, der ein seriöses und repräsentatives Blatt wünschte, aber die Herausgabe lag gut eineinhalb Jahrhunderte in den Händen Privater. Und die bewiesen immer wieder erstaunliche Eigenständigkeit. Als Erster war Johann Baptist Schönwetter (ca. 1670-1741) am Ruder. 1721 verlor er sein Privileg an Johann Peter van Ghelen (1673-1754), einen findigen Unternehmer mit Wurzeln in Flandern.

Van Ghelen, ganz Geschäftsmann, stellte ein Konkurrenzblatt ein und sicherte neue Einnahmequellen in Form von staatlichen Einschaltungen. Als fixen Redakteur engagierte er Hieronymus Gmainer (ca. 1663-1729). Mit ihm tauchte in Österreich erstmals die Berufsbezeichnung "Zeitung-Schreiber", also Journalist, auf. Damals erlebte das "Diarium" eine Hochblüte. Doch der gesellschaftliche Rahmen war eng, die wirtschaftliche Lage prekär.
Bald dominierte wieder der Krieg die Berichterstattung: Ab 1740 musste Maria Theresia um ihr Erbe, das Habsburgerreich, kämpfen. In derart stürmischen Zeiten war kaum an publizistische Neuerungen zu denken, auch schuf der Tod van Ghelens 1754 dem Unternehmen Probleme. Trotzdem setzte seine Familie auf gewisse Innovationen, etwa Beilagen, die sich wissenschaftlichen und kulturellen Themen widmeten.

Die Alleinherrschaft Josephs II. ab 1780 brachte eine Lockerung der Zensur – aber nicht für unser Blatt, das damals den neuen Titel "Wiener Zeitung" erhielt. Diese erschien dem Reformkaiser als geeignetes Publikationsorgan für seine unmittelbaren Zwecke, nicht zuletzt, weil sie in den Erblanden gut verbreitet war. Die Zahl der amtlichen Einschaltungen wuchs enorm, während sich der redaktionelle Teil kaum weiterentwickelte. Die Auflage dürfte damals schon einige tausend Stück erreicht haben.
Qualitative Verbesserung erfuhr das journalistische Schaffen ab 1782, als die Ghelen‘schen Erben Conrad Dominik Bartsch (1759-1817) engagierten: Der neue Mann, ein Schüler des Aufklärers Joseph von Sonnenfels, vertrat demokratische Ansichten und baute die Zeitung in diesem Sinne aus. Vor allem auf Auslandsberichte legte er den Fokus. Sein größter Wurf: 1789 druckte er als Erster in der Monarchie die in Frankreich verkündete Erklärung der Menschenrechte ab – in vollem Wortlaut!

Mit Kaiser Franz änderte sich das politische Klima. Bartsch, der enge Kontakte zu demokratischen Kreisen pflegte, stand auf der Abschussliste. Er musste 1799 weichen, sollte aber ein Jahrzehnt später wieder aus der Versenkung auftauchen.

In der Zeit der Napoleonischen Kriege mischte sich der Hof verstärkt in redaktionelle Belange ein. In den Jahren 1805/06 und 1809 okkupierte Napoleon Wien – und die Zeitung gleich mit. Aus Paris brachte er nicht nur einen eigenen Redakteur, sondern auch technischen Fortschritt: Erstmals kam das Blatt täglich heraus.

1811 kehrte Conrad Dominik Bartsch zurück und bereitete das reguläre tägliche Erscheinen vor. Metternich ließ den Redakteur später wegen kritischer Berichterstattung wiederum seines Postens entheben. Der die kaiserliche Politik beherrschende Staatsmann wollte die "Wiener Zeitung" als Ganzes eliminieren, um seinem Privatblatt, dem "Oesterreichischen Beobachter", ein Monopol zu verschaffen.

Die Herausgeber stellten den musisch begabten, mit Beethoven befreundeten Joseph Carl Bernard (ca. 1781-1850) an, der innenpolitische Themen in den Hintergrund rückte und den Blick stärker auf das Ausland und Kulturelles richtete – auf diese Weise konnte das Blatt mit Mühe und Not überleben.

Dramatisch ging es für Verleger und Redakteure im Jahr 1848 her. Die Redaktion unter neuer Leitung zeigte sich weltoffen, liberal und ihrer Zeit voraus. Sie stand für Pressefreiheit und Rechte des Volkes. Auch am riesigen Druckformat (dem größten der bisherigen "WZ"-Geschichte) mochte man das ablesen. Im Mai geschah dann der Affront gegen das Herrscherhaus: Es erschien eine Ausgabe ohne kaiserlichen Adler (der seit 1708 auf dem Zeitungskopf prangte) – unverzeihlich für den Hof. Während die Revolution in Wien erst im Oktober niedergeschlagen wurde, endete sie für die "WZ" schon am 1. Juli. Danach waren die Ghelen‘schen Erben bei der Obrigkeit nicht mehr gut angeschrieben. Letztendlich mussten sie 1857 aufgeben. Am 17. Dezember dieses Jahres übernahm der Staat das Blatt.

Mit dem "Ausgleich" 1867, der die Doppelmonarchie begründete, entstand in der cisleithanischen (d.h. österreichischen) Reichshälfte ein Verfassungsstaat mit bescheidenen demokratischen Ansätzen. Für die "WZ" brachte diese Entwicklung wieder etwas mehr journalistischen Freiraum.
Ab 1872 leitete der bekannte Journalist Friedrich Uhl (1825-1906), der spätere Schwiegervater August Strindbergs, die Redaktion. Uhl setzte auf Kultur und konnte auf diesem Gebiet eigenständige Berichterstattung sichern, vor allem in der Abendausgabe "Wiener Abendpost" (die 1848 Gestalt angenommen hatte). Auch nach seinem Abgang anno 1900 wirkte das Konzept des großen Zeitungsmannes weiter.

Bei Kriegsausbruch 1914 vertrat die "Wiener Zeitung" den offiziellen Standpunkt der Monarchie, sie verfiel allerdings nicht, wie fast alle anderen Medien, in Kriegshysterie.

Am Gründungstag der Republik, dem 12. November 1918, zierte der kaiserliche Adler zum letzten Mal das Titelblatt.

Das bis 1921 noch relativ umfangreiche Blatt erlebte 1922 eine schmerzliche Zäsur. Auf eine einzige tägliche Ausgabe reduziert, konnte es seinen Stellenwert als Kulturorgan kaum aufrechterhalten. Doch sogar nach 1934, als die "Wiener Zeitung" nach der Ausschaltung der Demokratie ein eher trauriges Dasein fristete, pflegte man das vornehmlich österreichischen Themen gewidmete Feuilleton.

Als Österreich 1938 von der Landkarte gelöscht wurde, verschwand auch die "Wiener Zeitung" – vorläufig. Es sollten die einzigen Jahre bleiben, in denen das seit 1703 eng mit den Geschicken unseres Landes verwobene Blatt verstummte. Vor allem wegen handelsrechtlicher Veröffentlichungsvorschriften konnte es nicht sofort ganz liquidiert werden. Erst im Februar 1939 strich man den redaktionellen Teil, im Februar 1940 das verbliebene Amtsblatt.

Am 21. September 1945 erschien die "Wiener Zeitung" wieder. Den Umständen entsprechend dürftig sah das Blatt aus: vier Seiten ohne Bilder, gedruckt auf einer ungeeigneten Maschine. Ein bescheidener Ausbau gelang in den 1950ern. Doch der Umfang blieb gering, was sich auf den Stil der Berichte niederschlug: kurz und bündig.
In den 1960ern und 1970ern gab es Verbesserungen im Erscheinungsbild. Das Blatt konnte sich behaupten, selbst in Jahren intensiven Zeitungssterbens. Nach einer schwierigen Phase in den 1980ern – als unter anderem die technische Ausstattung zu wünschen übrig ließ – wurde es 1998 von der Staatsdruckerei abgenabelt. Als GmbH steht die "Wiener Zeitung" bis heute im alleinigen Eigentum des Bundes.

Etwa um die Jahrtausendwende verzeichneten Redaktion und Produktion einen bedeutenden Innovationsschub. Es erfolgte die Umstellung auf ein hochmodernes elektronisches Redaktionssystem, in Zusammenhang damit eröffneten sich völlig neue Perspektiven – so konnte nicht zuletzt die "WZ"-Online-Ausgabe reüssieren.

Wo steht die "Wiener Zeitung" heute? Auch außerhalb des Bereichs der Tagesberichterstattung gelingt es, besondere Akzente zu setzen: Die seit dem 19. Jahrhundert intensiv gepflegte Feuilleton-Tradition ist nach wie vor lebendig, nicht nur im Tagblatt, sondern auch in einer Reihe von speziellen Projekten: In der Wochenendbeilage "Extra", im "Wiener Journal", in den "ProgrammPunkten" sowie im Geschichtsfeuilleton "Zeitreisen", das gemeinsam mit der Leserschaft der Historie unseres Blattes nachspürt.

Die Redaktion verfügt mit 67 Personen über ein so großes Team wie nie zuvor. Auch der Umfang des redaktionellen Teils sprengt alle bisherigen Ausmaße. Seit kurzem eröffnet eine innovative, übergreifende Blattstruktur neue Zugänge, egal ob als E-Paper, online oder auf Papier. Geblieben ist die älteste noch bestehende Tageszeitung der Welt auch anno 2013 das, was sie schon 1703 war: ein lesenswertes Stück Österreich.

Mag. Andrea Reisner ist Redakteurin der "Zeitreisen", der Geschichtsbeilage der "Wiener Zeitung".