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Die deutsche Ostpolitik hat mit Russlands Invasion in der Ukraine ausgedient. Das schmerzt vor allem die SPD.
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Immerhin reden sie nicht nur übereinander, sondern auch miteinander. Am Mittwoch trifft der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, die beiden Vorsitzenden der SPD, Saskia Esken und Lars Klingbeil. Er freue sich darauf, twittert Melnyk, und deponiert sogleich seine Erwartungen: Die SPD solle "ENDLICH das grüne Licht für deutsche schwere Waffen an die Ukraine und fürs Embargo von russischem Gas und Öl geben, um den russischen Vernichtungskrieg zu stoppen".
Um klare Worte ist der 46-Jährige nie verlegen. Auch Kritik äußert Melnyk unverblümt - und irritiert damit. Noch immer gilt Diplomatie weitläufig als kleiner, wohlerzogener Bruder der Politik. Melnyk aber zeigt offen, dass er Politik macht.
Sein Lieblingsgegner ist derzeit die deutsche Sozialdemokratie. Über Jahrzehnte hätschelten rote Spitzenpolitiker Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Ex-Kanzler Gerhard Schröder ist das Extrembeispiel, er verdingt sich auch nach dem Angriff auf die Ukraine in russischen Staatskonzernen und rückt nicht von Putin ab. Damit ist Schröder mittlerweile sogar in seiner Partei isoliert. Viele weitere Genossen tun sich schwer, ihre alte Russland-Liebe aufzugeben. Und wenn sie es tun, treffen sie mitunter nicht den richtigen Ton.
So wie Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. In ihr Bundesland sollte die russische Gas-Pipeline Nord Stream 2 führen. Schwesig wollte das Projekt durchdrücken, unterstützt von Kanzler Olaf Scholz. Als Nord Stream 2 nicht mehr haltbar war und der Krieg ausbrach, ließ Schwesig das Parlament Mecklenburg-Vorpommerns in den ukrainischen Landesfarben beleuchten. "Die Heuchelei ist zum Kotzen", twitterte Melnyk.
Demokratische Strukturen zerschlagen
Seine Kritik macht auch vor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nicht halt. Der hat seine SPD-Mitgliedschaft ruhend gestellt, war aber zuvor als Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder und Außenminister für den Russland-freundlichen Kurs mitverantwortlich. Von einem "Spinnennetz der Kontakte mit Russland" sprach Melnyk. Das wiederum wollte Ex-Außenminister Sigmar Gabriel so nicht stehen lassen und attestierte dem Botschafter "Verschwörungstheorien über Deutschland". Bereits zuvor lud die Ukraine Steinmeier aus, der mit anderen Staatspräsidenten in die Ukraine reisen wollte.
Steinmeier übte Selbstkritik, dass er an Nord Stream 2 festgehalten habe, und zog eine "bittere Bilanz" der deutschen Russlandpolitik. Die Linke muss sich nämlich eingestehen, dass ihr Konzept "Wandel durch Handel" ausgedient hat. Im Kalten Krieg von Willy Brandts engstem Berater, Egon Bahr, ersonnen, ging es darum, wirtschaftliche Öffnung mit politischer und gesellschaftlicher zu verknüpfen. Diese Bemühungen gipfelten in der Schlussakte von Helsinki, von 35 Staaten aus West und Ost 1975 unterzeichnet. Damit wurde nicht nur die Unverletzlichkeit der Grenzen festgelegt - mit Füßen getreten durch Russland, als es 2014 die ukrainische Krim annektierte. In der damaligen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wurde auch die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten festgeschrieben. Dissidenten in Osteuropa konnten sich darauf berufen, was zu Protesten und dem Zusammenbruch der autoritären Regime beitrug.
Russland aber hat unter Putin alles unternommen, um eine kritische Masse gar nicht erst aufkommen zu lassen. NGOs wurden als ausländische Agenten gebrandmarkt oder zerschlagen; so auch die Stiftung von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. Ihn holte die damalige Kanzlerin Angela Merkel zur Behandlung nach Berlin, nachdem Nawalny einen mutmaßlich von höchster staatlicher Stelle befohlenen Gift-Anschlag überlebt hatte. Für seine Stiftung konnte Merkel aber nichts tun. Nahezu folgenlos blieb auch der staatliche russische Auftragsmord in Berlin 2019 an dem tschetschenischen Georgier Selimchan Changoschwili.
Ohne Chance auf Besserung aus dem Inneren ist "Wandel durch Handel" zum "Handel ohne Wandel" verkommen. Das gilt für Sozialdemokraten ebenso wie die CDU-Politikerin Merkel. Zudem muss jeder Regierungschef die "Ostalgie" in der ehemaligen DDR im Blick haben. Dort fühlen viele nicht gewürdigt, wie hart der Bruch in die neue BRD war. Hier stoßen die "Russland-Versteher" von Linkspartei und AfD auf offenere Ohren als im Westen.
Manch deutscher Linke lernt nun auch schmerzhaft, dass Putin ein imperialistisches Regime anführt. Dieses Bild verträgt sich nicht mit der Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion, den rechtlichen Vorgänger Russlands im UN-Sicherheitsrat. Zweifellos leistete die UdSSR einen entscheidenden Beitrag bei der Besiegung des NS-Regimes und musste Millionen Tote beklagen. Dass in der Roten Armee beispielsweise auch Ukrainer gegen Hitler gekämpft haben, ging jedoch in Deutschland weitestgehend unter.
Wenig Wissen über ukrainisches Leiden
In den Hintergrund rückten auch die Massenmorde unter Stalin. Zu diesen zählt die bewusst herbeigeführte Hungerkrise Anfang der 1930er, bei der in der Ukraine mehr als 3,5 Millionen Menschen zu Tode kamen. Im Bundestag liege seit 2019 eine Petition, dieses Verbrechen als Völkermord anzuerkennen. "Ohne Antwort", merkt Botschafter Melnyk an.
Seine Kritik stellt auch das liebste Selbstbild der Deutschen infrage: die Verlässlichkeit. Darauf könne man bei der deutschen Politik gegenüber Russland nicht setzen, erklärte Melnyk gegenüber seinen Botschafter-Kollegen aus den USA und Frankreich, wie der "Spiegel" notierte. Schlecht kam auch Kanzler Olaf Scholz weg: Putin wollte nicht über Frieden verhandeln. "Als seine Kumpels von der SPD in der Regierung waren und sich Scholz versteckte, war der Zeitpunkt (für Krieg, Anm.) da", sagte Melnyk. Der bis kurz vor Kriegsausbruch weitgehend abgetauchte Kanzler vollzog eine Kehrtwende: Nicht nur 5.000 Helme liefert Deutschland an die Ukraine, sondern auch Luftabwehrraketen, Panzerfäuste und Maschinengewehre. Nun aber bremst die SPD bei schweren Waffen wie Panzern, führende Vertreter der Koalitionspartner Grüne und FDP sind unzufrieden. Deutschland gebe mehr als eine Milliarde Euro für Waffenkäufe für die Ukraine aus, weist SPD-Chefin Esken auf einen Beschluss aus der Vorwoche hin. Eigene Waffen könnten nicht geliefert werden: "Die Bundeswehr verfügt über keine weiterhin frei verfügbaren Waffen." Die konservative Opposition zweifelt, ob diese militärische Bankrotterklärung des wichtigsten EU-Landes stimmt.
Umgeschwenkt sind auch die Bürger: Vor Kriegsbeginn waren sieben von zehn gegen jegliche Waffenlieferungen in die Ukraine. Nun wollen 55 Prozent, dass Deutschland schwere Waffen exportiert. Diesen Umstand kann Andrij Melnyk auch als seinen Erfolg verbuchen.