Regierung: "Kein Friedensprozess, bevor Gewalttaten nicht gestoppt sind."
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Islamabad/Wien. Im Schatten des allgemeinen Blutvergießens in der im Grenzgebiet zu Afghanistan gelegenen Provinz Khyber Pakhtunkhwa eskaliert ein weiterer Konflikt: der zwischen Schiiten und Sunniten in Pakistan.
Zu Beginn dieses Jahres konnte nur knapp ein verheerender Anschlag verhindert werden. Am Montag, dem 6. Jänner, versuchte ein Selbstmordattentäter in der Ortschaft Ibrahimzai eine Schule in die Luft zu sprengen. Kurz vor dem Eingang zum Schulgebäude fragte er den 17-jährigen Schüler Aitzaz Hasan nach dem Weg. Dieser schöpfte Verdacht und wollte den Fremden, der ebenfalls eine Schuluniform trug, festhalten. Der Attentäter aktivierte daraufhin den Sprengsatz. Beide kamen bei dem Zwischenfall ums Leben. Durch seinen Einsatz rettete der Schüler vermutlich hunderten Kindern und Jugendlichen das Leben. Die sunnitische Terrorgruppe Lashkar-e-Jhangv bekannte sich als Urheber des versuchten Attentats.
Die Region, in der sich der Vorfall ereignete, ist mehrheitlich von Schiiten bewohnt, die in den letzten Jahrzehnten immer häufiger Opfer von Anschlägen sunnitisch inspirierter Terrorgruppen werden. Laut einer Untersuchung des in Islamabad ansässigen "Instituts für Friedensstudien" nahmen die Attentate im vergangenen Jahr um 19 Prozent zu.
Von den 180 Millionen Einwohnern Pakistans sind etwa 96 Prozent Muslime, von denen die Schiiten laut Schätzungen mit 10 bis 15 Prozent die Minderheit und die Sunniten die überwältigende Mehrheit stellen. Die Hindus sind die größte nichtmuslimische Minderheit, gefolgt von den Christen mit circa zwei Prozent.
Die enorme Gewalttätigkeit zwischen Sunniten und Schiiten, die von Ersteren als Häretiker angesehen werden, geht vor allem auf die Regierungszeit von Zia-ul-Haq zurück, dem Armeechef Pakistans, der sich 1978 an die Macht putschte. Für die USA war der Militärherrscher ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Kommunismus. In der Diskussion zwischen dem schiitischen und dem sunnitischen Lager zu Religion und Recht bevorzugte der Präsident die sunnitische Interpretation. Die Unterstützung sunnitischer Extremisten durch Saudi-Arabien und die Golfstaaten trug das Ihre zur Radikalisierung des innermuslimischen Konflikts bei.
Die gewalttätigen schiitisch-sunnitischen Auseinandersetzungen nahmen zu. Das Erstarken der pakistanischen Taliban und der mit ihnen verbündeten Al-Kaida, die beide auf sunnitischer Seite in den Religionskrieg eingriffen, verschlimmerte die Situation weiter, besonders für die schiitische Minderheit im Grenzgebiet zu Afghanistan.
Politischer Wille zum Kampf gegen Taliban fehlt
Etwa neun Zehntel der Muslime weltweit sind Sunniten. Die Trennung der beiden islamischen Hauptrichtungen geht auf einen Nachfolgestreit um das religiöse Erbe Mohammeds zurück. Die "Partei" (arabisch: Schia) von Ali, dem Schwiegersohn und Nachfolger des Propheten, trat in Gegnerschaft zu einer Mehrheit, die den religiösen Führer des Islam durch Wahl bestimmen wollte (Sunna = Brauch). Iran ist weltweit der einzige Staat, in dem die Schiiten an der Macht sind, im Irak gehören etwa zwei Drittel der Bevölkerung zu den Schiiten.
Afghanistan und Pakistan kommen seit Jahrzehnten nicht mehr zur Ruhe. Nach dem Sturz der afghanischen Taliban 2001 flüchteten viele Führer nach Pakistan und bauten dort Netzwerke auf. Seit damals sind sie zusammen mit Al-Kaida dort politisch und terroristisch sehr aktiv. Die mächtige pakistanische Armee mit ihren 18 Millionen Angehörigen wäre wohl fähig, die islamistischen Terrorgruppen unschädlich zu machen, doch fehlt es sowohl dem Militär als auch der Regierung am politischen Willen dazu.
Eine Taliban-Fraktion, das Haqqani-Netzwerk, hat in Nord-Wasiristan in der Grenzregion zu Afghanistan de facto die Macht übernommen. Nach Ansicht der USA werden diese Gruppierungen vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt. Entsprechender Druck aus Washington dürfte wohl auch dahinterstehen, dass die Regierung in Islamabad heuer in den ersten Jännerwochen Luftwaffenangriffe gegen die Taliban und ihre Partnerorganisationen richteten. Was unverzüglich zu einem Ansteigen terroristischer Angriffe gegen pakistanische Armee-Einrichtungen und gegen die schiitische Bevölkerung führte, zu denen sich die Taliban auch öffentlich bekannten.
Anschläge führen zu Dialog, der schon bald scheitert
Dazu gehörten Selbstmordanschläge in der dritten Jännerwoche auf einen Militärkonvoi und in der Nähe des Armeehauptquartiers in Rawalpindi. Am 21. Jänner bombardierten die Taliban einen schiitischen Pilgerbus, wobei 24 Menschen ums Leben kamen. Ministerpräsident Nawaz Sharif sagte daraufhin seine Reise zum Weltwirtschaftsforum in Davos ab.
Der Premierminister hatte schon nach seinem Wahlsieg im vergangenen Mai angekündigt, mit den militanten Islamistengruppen im Lande Friedensgespräche aufzunehmen, doch stagnierten die entsprechenden Anläufe. Ende Jänner kündigte Nawaz Sharif schließlich die Aufnahme eines "Dialogprozesses" mit dem Taliban-Netzwerk TTP an. Doch nach der Ankündigung der Gespräche nahmen die Terroraktionen zu, sodass die Regierung in der zweiten Februarwoche wieder mit dem Abbruch der Kontakte drohte.
Seit Ende Jänner waren bei Attentaten 120 Menschen getötet worden. Die meisten Opfer waren Schiiten oder Angehörige anderer religiöser Minderheiten, wie der muslimischen Ismailiten, Soldaten, Helfer bei Impfaktionen, Kinobesucher. Den Ismailiten - die von den Taliban nicht als Muslime betrachtet werden - wurde in Videos mit weiteren Anschlägen gedroht, falls sie nicht zur sunnitischen Richtung des Islam übertreten. In einem 15-Punkte-Plan forderte die TTP unter anderem die Einführung der Scharia als Grundlage der Gesetzgebung sowie die Einführung eines islamischen Regierungs- und Erziehungssystems.
Angesichts dieser gewalttätigen und polarisierten Ausgangssituation ist es mehr als fraglich, ob dem eben erst angelaufenen Friedensprozess ein längeres Leben beschieden sein wird. Die Ermordung von 23 bereits 2010 entführten Soldaten in der dritten Februarwoche durch ein Taliban-Kommando führte zu einem vorläufigen Aussetzen der Gespräche. "Dieses Komitee kann den Friedensprozess nicht voranbringen, bevor die Taliban nicht alle Gewalttaten stoppen", teilte die Verhandlungsdelegation der Regierung in Islamabad am Dienstag mit.