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Palästina erhebt sich aus Israels Mitte

Von Andreas Hackl

Politik

Gaza-Konflikt politisiert arabische Minderheit in Israel.


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Tel Aviv. Der 31-jähriger Waseem Husary und sein Bruder waren gerade am Weg zu einer Anti-Kriegsdemo, als sie in der gemischt arabisch-jüdischen Stadt Haifa niedergeschlagen wurden. "Wir haben Arabisch gesprochen, sie sind auf uns zu gerannt und riefen: ‚Geht ihr zur Demo? Tod den Arabern!‘ Dann gingen sie auf uns los."

Mit einer gebrochenen Nase rannte er zu ein paar Polizisten, die ihn zu den anderen Demonstranten schleppten. Dort warteten die beiden auf den Rettungswagen. Kaum saßen sie drinnen, riss der Mob die Tür des Rettungswagens wieder auf, wollte weitermachen. Glücklicherweise verschloss der Rettungshelfer rasch die Tür. "Sie haben Schreckliches gerufen. Die wollten uns töten", sagt Husary, ein Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Trotz Anzeige ist er sich sicher, dass die Polizei nichts tun wird. "Wäre ich ein Jude, der von einem Araber zusammengeschlagen wurde, wären die Angreifer seit Samstag im Knast."

In Solidarität mit Palästina, und gleichzeitig im Besitz der israelischen Staatsbürgerschaft, geraten die palästinensischen Israelis immer mehr zwischen die verhärteten Fronten des Konflikts. Sie leben in Israel, doch ihr Herz schlägt für Palästina. Und das in einer Zeit, in der sich in Israel Belagerungsmentalität breitmacht: das kollektive Gefühl von allen Seiten angegriffen, missverstanden, und isoliert zu werden, sowie die Überzeugung, dass die Nation wie die Mauern einer Burg mit allen Mitteln zu verteidigen ist. Der Zusammenhalt ihrer Bewohner wird fester, der Feind absolut. Das Leben inmitten dieser "Burg" wird für die palästinensischen Staatsbürger zunehmend kritisch.

Palästinenser werden als Trojanisches Pferd gesehen

Die palästinensischen Staatsbürger Israels werden mehr und mehr als Trojanisches Pferd im Herzen Israels behandelt, dabei wird ein ausschlaggebender Unterschied zum Mythos von Troja vergessen: Sie sind nicht nach Israel eingedrungen, sondern wurden 1948 unfreiwillig Teil des Staates, dessen Gründungskrieg rund 750.000 Palästinenser zu Flüchtlingen machte. Unter jenen 160.000 Palästinensern, die 1949 innerhalb der Grenzen des zionistischen Staates zurückgeblieben sind, waren die Großeltern der heutigen palästinensischen Staatsbürger, die mit 1,3 Millionen rund 17 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Der Staat ist zu ihnen "eingewandert". Es ist ein historischer Umstand, der heute als Paradoxon weiterlebt: Während Palästinenser in Israel jeden Mai der "Katastrophe" von 1948 gedenken, feiern jüdische Israelis ihren "Unabhängigkeitstag".

Das historisch erwachsene Dilemma verschärft sich, weil "Palästina zunehmend aus Israels Mitte wächst", sagt der politische Aktivist Samih Jabareen. "Die Palästinenser (in Israel) tragen heute alle wichtigen Themen des palästinensischen Volkes." Und der Gaza-Krieg mache das derzeit besonders sichtbar, auch wenn der Ball schon lange im Rollen ist. "Es ist eine Mutation, aus der es keinen Rückweg mehr gibt."

Samih Jabareen ist stolz darauf, dass immer mehr junge Leute ihre palästinensische Identität betonen, nicht zuletzt weil der Staat Israel seit Jahrzehnten versucht habe aus den Palästinensern "einfach nur Araber" zu machen, während die palästinensische Identität unterdrückt wurde.

Jabareen ist bekannt dafür, die Grenzen des Palästina-Aktivismus in Israel auszuloten. An der beliebten Ben-Gurion Straße in Haifa hat er die "Werkstatt" aufgebaut: ein Zentrum für alternative Kultur und politischen Aktivismus. Im Gastgarten der alten Villa trifft sich die alternative palästinensische Szene aus Haifa. Doch nun droht dem Zentrum, wegen eines Diskussionsabends, der dem israelischen Sicherheitsapparat zu weit ging, die Schließung.

Geplant war eine Serie von Gesprächen mit der im Exil lebenden palästinensischen Revolutionärin Leila Khaled, die 1969 mit einer Flugzeugentführung zum Aushängeschild der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) wurde. Kurz vor der ersten Veranstaltung, in der Khaled über das Internet zugeschaltet wurde, erhielt Jabareen ununterbrochen Anrufe vom Inlandsgeheimdienst. "Sie wollten mich einschüchtern. Irgendwann habe ich nicht mehr abgehoben. Aber ich wusste, dass sie am Abend in die Werkstatt kommen würden."

"Jeder Tweet ein Lebenszeichen"

Genau das passierte. Er und seine Frau wurden vor versammelter Runde zum "Gespräch" mitgenommen, jedoch kurz darauf in der Hoffnung wieder freigelassen, dass sie die Veranstaltung abbrechen würden. "Was ich natürlich nicht gemacht habe", sagt Jabareen. Am nächsten Tag wurden sie von der Polizei zum Verhör bestellt. Diese erklärte die Werkstatt mündlich für geschlossen. "Sie konnten es nicht ertragen: ein Ort in Haifa, der die Zugehörigkeit zum palästinensischen Volk betont und radikale Politik macht."

Das Leben von Palästinensern inmitten der jüdischen Gesellschaft lässt Welten aufeinanderprallen. Die Widersprüche zwischen Alltag und Identität werden dabei zur ständigen Belastung. "Ich halte diese Dualität nicht mehr aus", sagt die junge Palästinenserin Aida, die in Tel Aviv Film studiert. Das Gespräch findet in einem Lokal in Tel Aviv statt, doch ihr Kopf ist zur Hälfte in Gaza. "Ich habe gute Freunde in Gaza, die jetzt eingekesselt unter israelischen Angriffen um ihr Leben fürchten." Deshalb verfolgt sie rund um die Uhr über Twitter, wie es ihren Freunden geht, denn "jeder Tweet ist ein Lebenszeichen."

In fließendem Hebräisch bestellt sie ein Bier von der israelischen Kellnerin. Die Straßen von Tel Aviv sind belebt, doch es ist eine Welt scheinbarer Normalität, die sich wie ein Messer in ihr Herz schneidet. Sie hat jüdische Freunde, Kollegen, will aber nicht rassistisch sein. Dennoch sprechen viele jüdische Studienkollegen nicht mehr mit ihr. "Sie verstehen nicht, dass ich mich als eine der Palästinenserinnen sehe, die ihre Armee in Gaza bombardiert", sagt Aida.

Ihr Großvater war Ali Abu Mustafa, ein früherer Generalsekretär der marxistischen PFLP, den ein israelischer Hubschrauber im August 2001 mit Raketen in seinem Arbeitszimmer in Ramallah tötete. Aida verbrachte damals viel Zeit in Ramallah. Heute leben ihre Eltern in einer arabischen Kleinstadt in Israel. Doch für sie wird der Wunsch nach einem Ausweg immer stärker. Vielleicht ein Leben in Europa, sagt sie. "Ich versuche es zu kontrollieren, normal zu sein. Aber wie soll ich im Herbst zurück an die Uni gehen, mit Leuten studieren, die kein Wort über das verlieren, was ihre Armee mit meinen Freunden im Gazastreifen anstellt?", fragt sich Aida.