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Premier tritt zurück - Tunesien schlittert tiefer in die Krise

Von Michael Schmölzer

Politik

Seit Mord an Oppositionspolitiker spitzt sich die Lage gefährlich zu.


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Tunis. Tunesien gilt als Wiege des Arabischen Frühlings, seit sich der Händler Mohammad Bouazizi im Dezember 2010 aus Protest gegen das korrupte Regime selbst angezündet und eine inter-arabische Protestbewegung losgetreten hat. Tunesien war auch das Vorzeige-Land für erfolgreichen demokratischen Wandel und Stabilität. Bis jetzt. Seit der Ermordung des liberalen Oppositionellen Chokri Belaid am 6. Februar ist das Land in Turbulenzen geraten, die im Rücktritt von Premier Hamadi Jebali ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden haben.

Nach der Ermordung Belaids wollte Jebali ein Experten-Kabinett einsetzen, um die Tausenden wütenden Demonstranten, die gegen die islamistische Ennahda-Regierung protestieren, zu besänftigen und die Lage im Land zu stabilisieren. Der Premier, der selbst Ennahda angehört, konnte seine Partei allerdings nicht davon überzeugen, die Regierungsämter aufzugeben.

Das gibt den liberalen Kräften im Land Auftrieb, die der Meinung sind, die Islamisten wollten nach der absoluten Herrschaft greifen. Die Witwe Belaids hat zudem den Verdacht geäußert, Ennahda würde hinter dem Mord an ihrem Mann stehen. Dieser Ansicht sind auch die Tausenden Demonstranten, die nach dem Attentat auf die Straße gegangen sind.

Tunesien hat, anders als etwa der Nachbar Libyen, eine lange säkular-liberale Tradition. Frauen etwa pochen hier vehement auf ihre Rechte. Seit dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali im Jänner 2011 treten aber zunehmend radikalen Salafisten auf den Plan, die versuchen, Studentinnen zum Tragen von Kopftüchern zu zwingen. Es ist nicht auszuschließen, dass Belaids Mörder aus dieser Ecke kommen. Auch in der eigentlich moderaten Ennahda-Partei, die die Parlamentswahlen 2011 gewonnen und die Mehrheit der Regierungssitze hat, gibt es einen radikalen Flügel.

Nach dem Mord an Belaid haben sich die Spannungen zwischen Religiösen und Säkularen jedenfalls gefährlich zugespitzt, ein Riss geht quer durch die Gesellschaft. Jebalis Versuch, den Konflikt zu kitten, ist jetzt gescheitert.

Beim Fall Belaid handelt sich um den ersten politischen Mord seit dem Sturz der Diktatur Ben Ali. Augenzeugen berichten von zwei Männern, die Belaid vor seinem Haus in Tunis aufgelauert hätten. Die Polizei ist bei der Suche nach den Tätern bisher nicht fündig geworden. Für Gegner der Regierung ist das bezeichnend, ist doch das Innenministerium in Händen der Ennahda.

"Volk ist enttäuscht"

Nach einem Gespräch mit dem liberalen Staatspräsidenten Moncef Marzouki zeigte sich Jebali am Dienstag über seine fehlgeschlagenen Versuche jedenfalls "tief enttäuscht". Er habe versprochen im Falle eines Scheiterns seiner Initiative zur Stabilisierung des Landes zurückzutreten. "Das habe ich nun getan", so Jebali. Die Verhandlungen über das Experten-Kabinett sind schon am Montag gescheitert. "Unser Volk ist von seiner politischen Klasse enttäuscht, das Vertrauen muss wiederhergestellt werden", so der Premier. "Das Scheitern meiner Initiative bedeutet nicht das Scheitern Tunesiens oder das Scheitern der Revolution", so der Premier. Er sei weiterhin davon überzeugt, dass eine Regierung parteiloser Experten "das beste Mittel ist, das Land aus seiner Irrfahrt zu befreien".

Laut dem Ennahda-Parteiführer Rached Ghannouchi haben alle Fraktionen versucht, Jebali von einem Rücktritt abzuhalten. Ghannouchi gilt als Hardliner, er ist strikt dagegen, dass die Ennahda-Minister auf ihr Amt verzichten. Die Islamisten kontrollieren die Schlüssel-Ressorts. Ob Tunesien jetzt politisch paralysiert bleibt oder ins Chaos stürzt, bleibt abzuwarten.