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Kafkaesker Prozess gegen bekannten Oppositionsführer.
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Moskau/Kirow. Dutzende Oppositionelle und Freunde sind eigens aus dem 900 Kilometer entfernten Moskau angereist, um ihre Solidarität zu bekunden. Seit Mittwoch steht Russlands bekanntestem Regimekritiker und Anti-Korruptionsjäger Alexej Nawalny in Kirow vor Gericht - und beim Prozessauftakt wären sie gerne dabei gewesen, doch die meisten durften das Lenin-Bezirksgericht erst gar nicht betreten. Der Gerichtssaal sei zu klein, hieß es wie immer, wenn Öffentlichkeit unerwünscht ist. Dem Blogger drohen zehn Jahre Haft.
Es ist ein politisch motiviertes Verfahren, mit dem ein wichtiger Kritiker des autoritären Systems Marke Wladimir Putin mundtot gemacht werden soll, sagen Nawalnys Gesinnungsgenossen. Schon jetzt wird der aufmüpfige Blogger als "Michail Chodorkowski 2.0" bezeichnet - eine Anspielung auf den ehemaligen Jukos-Chef, der dem Kremlführer politisch auf die Zehen trat - bis er 2003 verhaftet und zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde. Auch Nawalny hatte große Pläne: Er brachte sich als Kandidaten bei der kommenden Präsidentenwahl ins Gespräch.
Im Internet waren zornige und besorgte Kommentare seiner Sympathisanten zu lesen. "Mit Pussy Riot hat es begonnen, jetzt ist Nawalny an der Reihe - und er wird nicht der letzte sein, der im Gulag landet", twitterte ein Student aus Wolgograd.
Hoffnung auf einen Freispruch hat auch Nawalny, der gestern früh in seinem typischen Outfit - Jeans und leicht offenes Hemd - vor den Richter trat, nicht. "Ich werde verurteilt werden. Sonst wäre ein Fall, der so offensichtlich getürkt ist, nie vor Gericht gelandet", hatte der 36-jährige Jurist kürzlich auf seiner Internetplattform Rospil geschrieben. Die Vorwürfe gegen ihn seien geradezu kafkaesk. Die regionale Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren denn auch zunächst ad acta gelegt. Doch der Vorsitzende des Bundes-Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, ein Gefolgsmann Präsident Putins, hat den Fall im Sommer des Vorjahres wieder aufgerollt.
Rachefeldzug
Zwei Wochen davor hatte Nawalny den Bastrykin beschuldigt, heimlich an ominösen Immobilien- und anderen Firmen in Tschechien beteiligt zu sein, und den Kreml aufgefordert, ihn zu entlassen. Der Chef-Ermittler ist für emotional ausartende Rachefeldzüge bekannt: Einem Journalisten der regierungskritischen Zeitung "Nowaja Gaseta", für die die ermordete Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja gearbeitet hatte, hatte er wegen unliebsamer Fragen gedroht, ihn umzubringen.
Nawalny beschuldigt er der Unterschlagung. Dieser habe seine Stellung als Berater des damaligen Gouverneurs von Kirow, Nikita Belych, 2009 ausgenutzt, um sich zu bereichern, heißt es in der Anklageschrift. Konkret: Nawalny habe mit einem Kompagnon das Unternehmen WLK gegründet und dann den staatlichen Forstbetrieb "Kirowles - Kirower Wald" gezwungen, 10.000 Kubikmeter Holz unter Marktpreis an WLK zu verkaufen. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem Schaden für die russischen Steuerzahler in der Höhe von 16 Millionen Rubel, umgerechnet 400.000 Euro - so hoch war allerdings die gesamte vereinbarte Summe für den Verkauf. Weder Geschädigte noch Ort und Datum sind in der Anklageschrift angeführt. "Absurd", postete Nawalny in seinem Blog. Da hätte er ja in fünf Monaten "einen ganzen Wald stehlen müssen". Dass hinter der juristischen Hetzjagd gegen den zweifachen Familienvater politische Überlegungen stecken, dafür lieferte jüngst die Ermittlungsbehörde selbst den Beweis: Der Angeklagte sei "ein Gauner". Er habe "mit aller Kraft Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und die Staatsmacht gereizt", erklärte deren Sprecher Sergej Markin, in einem Interview.
Herausgefordert hat Nawalny mit seinen mutigen Enthüllungen über Korruptionsfälle bis hinauf in Putins engsten Zirkel die Staatsmacht allemal. Und auch mit den mächtigen Staatskonzernen wie Gazprom, dem Pipeline-Monopolisten Transneft oder der zweitgrößten Bank VTB legte er sich gerne an, enthüllte deren krumme Machenschaften und illegalen Milliardentransfers an den Putin-Clan, indem er sich als Kleinaktionär Zugang zu den Bilanzen verschaffte. Seinem Blog folgen mittlerweile Millionen Russen, finanziert wird er von freiwilligen Spendern. An forderster Front hat Nawalny auch im Wahlkampf und bei den anschließenden Massendemonstrationen gegen das Regime und dessen Wahlfälschungen mitgemischt. Von ihm stammt der Begriff "Partei der Gauner und Diebe" - der zum allgemeinen Synonym für die Kremlpartei Einiges Russland wurde. Der Hoffnungsträger der Opposition hat sich weit hinausgelehnt. Der Prozess soll ihn wieder in die russische Realität zurückbringen, fürchten seine GEsinnungsgenossen. Und die sieht für Putins Gegner hart aus.