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Ultraorthodoxe zum Wehrdienst

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Höchstgericht hatte bisherige Ausnahmeregelungen gekippt.


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Tel Aviv. In der ultraorthodoxen Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv war am Mittwoch eigentlich alles wie immer: Frauen mit Kinderwagen spazierten durch die Gassen, traditionell gekleidet in zugeknöpften Blusen und knöchellangen Röcken. Daneben Männer in schwarzen Anzügen, Strümpfen und Lackschuhen, viele am Weg in die Religionsschule, die Jeschiwa. Dabei hätten sie durchaus Grund zum Unmut gehabt, denn zum ersten Mal seit Israels Staatsgründung im Jahr 1948 sollen sie jetzt zum Militärdienst gebeten werden. Verteidigungsminister Ehud Barak forderte am Mittwoch die israelische Armee auf, innerhalb eines Monats konkrete Schritte zur Einberufung junger Ultraorthodoxer vorzulegen. 7500 sollen es pro Jahr sein, die in die Armee einberufen werden.

"Das Verteidigungsministerium hat uns damit beauftragt, die Einberufung von Haredim (Ultraorthodoxen) vorzubereiten, und wir arbeiten dazu schon einen Aktionsplan aus", erklärte Generalstabschef Benny Gantz am Dienstag. Doch die Entscheidung sei letztlich eine politische und liege daher bei der Regierung.

Laut Berichten der israelischen Zeitung "Haaretz" könne deren Ausarbeitung eines neuen Gesetzes allerdings noch Monate dauern. Für eine Mehrheit braucht es Kompromisse, und in ihnen liegt viel Sprengkraft.

Die Frage der Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden löste in Israel jüngst eine politische Krise aus. Das mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragte Komitee wurde von Premierminister Benjamin Netanyahu nach jahrelanger Arbeit aufgelöst. Bald danach scheiterte das Regierungsbündnis am Gesetzesentwurf. Der Streit über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht konnte nicht überwunden werden, die Kadima-Partei verabschiedete sich Mitte Juli von der Koalition.

Bricht nun erneut Streit aus, könnte Netanyahus Regierung abermals in die Krise schlittern. Besonders die Forderungen der rechtskonservativen Regierungspartei Yisrael Beitenu könnten Netanyahu Probleme bereiten. Diese setzt sich für eine ausnahmslose Wehrpflicht für alle 18-jährigen Ultraorthodoxen und israelische Araber ein.

Höchstgericht kippte bisherige Regelung

Hingegen hat Netanyahus Likud-Partei bisher den Kompromiss mit den Ultraorthodoxen gesucht und sich für einen Vorschlag eingesetzt, der es den Religiösen erlaubt, den Dienst bis zum 26. Lebensjahr aufzuschieben. Das nehmen ihm viele in Israel übel, die eine fairere Verteilung nationaler Pflichten fordern. Das wurde auch Anfang Juli klar, als rund 12.000 Israelis, darunter Reservisten und Veteranen der Armee, bei einer Demonstration in Tel Aviv "eine Regel, ein Volk" forderten.

Mit dem Auftrag Baraks an die Armee rückt eine erste Lösung zwar einen Schritt näher, doch gleichzeitig ist es ein Zeichen politischen Versagens. Denn das israelische Höchstgericht hatte schon im Februar die Ausnahmeregelungen für Haredim für illegal erklärt, weil es darin eine Verletzung der Grundrechte sah. Der Auftrag an die Politik war, noch vor Ablaufen des "illegalen" Gesetzes am 1. August ein neues zu schaffen. Doch die Regierung Netanyahu schaffte es nicht, eine mehrheitsfähige Alternative zu präsentieren. Deshalb liegt der Ball jetzt beim Verteidigungsminister. Doch das auch nur so lange, bis das Kabinett in der Knesset einen neuen Gesetzesentwurf durchbringt.

Eigene Einheiten für Ultraorthodoxe?

"Niemand in der ultraorthodoxen Gemeinschaft macht sich wirklich Sorgen wegen den bevorstehenden Änderungen", erklärt Naftali Rothenberg, Professor für jüdische Kultur am Jerusalemer Van-Leer-Institut. "Es ist klar, dass die Armee nicht wirklich bereit ist, eine große Zahl an Ultraorthodoxen aufzunehmen." Und das, so der Rabbiner, liege vor allem an der Lebensweise der Gottesfürchtigen, wie die streng religiösen Juden in Israel genannt werden. Ein besonders großes Hindernis für die Integration in bestehende Einheiten der Armee sei dabei ihre Forderung nach strikter Geschlechtertrennung, denn in Israel leisten auch Frauen zwei Jahre lang Dienst und ihre Gleichstellung wird vom Militär immer wieder unterstrichen. "Die Ultraorthodoxen werden die Kultur des Militärs ändern", sagt Rothenberg. Eine Alternative wäre die Schaffung von eigenen Einheiten, die ausschließlich aus ultraorthodoxen Männern bestehen. "Aber das Militär kann auch nicht eine neue Einheit nach der anderen gründen."

Im Zentrum der Wehrpflicht-Debatte liegt auch ein gesellschaftlicher Konflikt um Pflichten und Werte. Die Zahl der rund Ultraorthodoxen - derzeit 800.000 - wächst rasant, gleichzeitig arbeiten die "Gottesfürchtigen" weniger als alle anderen. Sie widmen sich lieber dem Religionsstudium und werden dafür durch die öffentliche Hand gefördert. Das finden viele Israelis ungerecht, die Geld verdienen müssen und im Militär ihr Leben riskieren.

"Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Jahren eine Revolution der Lebensweise von Ultraorthodoxen erwarten können", meint Rothenberg. "Und sollten mehr zum Militär gehen, dann nicht, weil es das Gesetz verlangt, sondern weil es der einzige Weg aus den vielen Problemen innerhalb der Gemeinschaft ist." Bei durchschnittlich acht Kindern pro Familie sehen sich viele Ultraorthodoxe trotz staatlicher Förderungen starkem wirtschaftlichen Druck ausgesetzt. "Sie bekommen zwar Geld für das Studium in der Jeschiwa, aber die Probleme häufen sich", sagt Rothenberg. "Und dieser Trend wird zunehmen."