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Die Angst vor Politik in der Schule

Von Jan Michael Marchart

Politik

Die Politik antwortet auf gesellschaftliche Probleme oft mit dem Ruf nach mehr Politischer Bildung in den Schulen.


Wien.Johannes Brzobohaty muss immer mit Vorwürfen rechnen. Weil er sagt, was er wählt. Brzobohaty will aber kein Geheimnis daraus machen. Das fände er komisch. Wenn er es argumentieren kann, sei das doch okay. Er möchte auch niemandem seine Meinung aufdrängen. Seine Gegenüber sollen sich ihren eigenen Kopf machen. Dennoch kann es für ihn wie für viele andere seiner Kollegen eine Gratwanderung werden, 50 Minuten lang über Politik zu sprechen. Genau genommen über Parteipolitik. Brzobohaty ist Geschichtslehrer und unterrichtet Politische Bildung in einer Neuen Mittelschule (NMS) in Wien.

"Wenn man klassischen Geschichtsunterricht in der Schule macht, wirkt das nach außen hin so: Der Lehrer schlägt das Buch auf, wir schauen gemeinsam hinein und sehen die große Welt der Vergangenheit", sagt Brzobohaty. "Politik im Unterricht ist etwas anderes, da schwingt mit, dass dir ein Erwachsener erklärt, was du denken sollst oder wie du dir deine Meinung bilden kannst. Das ist ein sehr heikler Prozess." Wie heikel es werden kann, zeigt ein Vortrag des Extremismusexperten und Finanzreferenten der Welser Grünen Thomas Rammerstorfer im März dieses Jahres. Der Vortrag musste auf Druck des FPÖ-Nationalratsabgeordneten Roman Haider abgebrochen werden. In der Klasse saß Haiders Sohn, der den Vortrag unter dem Titel "Die extremistische Herausforderung" zwangsweise hätte besuchen müssen. Rammerstorfer referierte vor 70 Schülern der 8. Klasse eines Gymnasiums in Linz über Salafisten, Staatsverweigerer, Graue Wölfe. Und auch über Burschenschaften und die FPÖ. Noch während der Veranstaltung wurde Haider von seinem Sohn informiert, der empört den Direktor kontaktierte. Die FPÖ Oberösterreich richtete eine anonyme Meldestelle für Parteipolitik in Schulen ein.

Angst, politische Themen zu unterrichten, sei unter Politiklehrern genau so verbreitet wie politisch eingeschätzt zu werden, sagt Philipp Mittnik, Leiter des Zentrums für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule in Wien. Mittnik arbeitet in der Lehrerausbildung und unterrichtete selbst lange Politische Bildung. Der Fall aus Linz hätte die Unsicherheit unter den Lehrern verstärkt. "Die FPÖ hat das erreicht, was sie wollte", sagt Mittnik. "Sehr viele Lehrer und Direktoren holen sich keine Politiker mehr in die Schule, weil sie Angst haben, am nächsten Tag in der Zeitung zu stehen." Die Meldestelle, die die Freiheitlichen eingerichtet haben, bezeichnet er als "Vernaderungsaktion". Das sei eine politische Vereinnahmung der Schule. Nicht der Fall Rammerstorfer.

"Aus guten Gründenkein Neutralitätsgebot"

Die FPÖ wolle zeigen, dass die Lehrerschaft links stehe. "Das ist lachhaft", so Mittnik. "Wenn man sich die Dienststellenvertretungswahlen der Gymnasien ansieht, erkennt man, dass sich die Lehrer dort mehrheitlich zu ÖVP-nahen Listen bekennen." Unter den Lehrern der Neuen Mittelschulen, bekennend rot, wandle sich das vereinzelt Richtung Blau.

Politische Bildung ist in Gymnasien und NMS Teil des Geschichtsunterrichts und soll zusätzlich als Unterrichtsprinzip in allen Fächern vorkommen. Ob das passiert, hängt mitunter vom Willen des Lehrers ab. Oft fehle die Zeit, Politik im Unterricht unterzubringen, entgegnen diese. Dass Politik zu kurz kommt, scheint aber durchaus damit zusammenzuhängen, dass Geschichte ein Teilfach ist. Eine Studie des Zentrums für Politische Bildung aus dem Jahr 2014, bei der alle Matura-Aufgaben in Wiens Schulen untersucht wurden, zeigt: Nur 0,9 Prozent der Fragen fokussierten sich auf das Wissen in der Politischen Bildung. Im vergangenen Jahr wurden deshalb Pflichtmodule ab der 6. Schulstufe in den Geschichtsunterricht in AHS und NMS integriert, um mehr Politik in die Klassenzimmer zu bringen. Berufsschulen sind die einzige Schulform, an der Politische Bildung ein eigenes Fach ist.

Wer sagt, Parteipolitik habe in der Schule nichts verloren, liege in Bezug auf die Politische Bildung falsch, sagt Stefan Schmid-Heher. Er ist für Aus- und Weiterbildung der Berufsschullehrer im Zentrum für Politische Bildung zuständig und ein Kollege Mittniks. "Wenn man sich in Politischer Bildung nicht mit Parteien beschäftigen würde, wäre das wie Deutsch ohne Satzzeichen", sagt er. Was er von Lehrerkollegen oft hört, ist, dass sie das selbst gesteckte Ziel vertreten, "objektiv und neutral" zu sein. Es gebe aber aus guten Gründen kein Neutralitätsgebot in der Politischen Bildung, sagt Schmid-Heher. "Weil es nicht möglich ist."

Österreich fehltmitunter die Entwicklung

"Der Lehrplan sieht vor, dass Lehrer ihre Schüler dabei unterstützen sollen, eine kritische Persönlichkeit und ein eigenes Urteil zu entwickeln", sagt er. "Da kann ich mich im Gegenzug nicht immer enthalten". Eine Lehrerin hätte ihm einmal gesagt, die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo könne sie im Unterricht nicht aufgreifen, weil Schüler aus jenen Ländern in der Klasse sitzen. "Man kann nicht davon ausgehen, dass Schüler immer unbehelligt von politischen Konflikten leben, nur weil sie im Unterricht nicht eingebracht werden", sagt Schmid-Heher. Lehrer können und sollen Meinungen einbringen, um Perspektiven zu schaffen, nicht aber um sie den Schülern aufdrängen. Dafür gebe es aber ohnehin klare Gesetze. Der Ausbildner konstatiert manchen Kollegen schlicht Scheu vor Kontroversen.

Es fehle generell an Wissen über Grundlagen der Politischen Bildung bei einem größeren Teil der Lehrerschaft, so Schmid-Heher. Mitunter hat das auch damit zu tun, dass der Politischen Bildung in Österreich im Gegensatz zu Deutschland etwa die Entwicklung fehlt. Erst in den 1970ern wurde es zu einem Unterrichtsprinzip, "was aber nicht die gewünschte Wirkung brachte, weil es zu wenig war, nur zu sagen, Politische Bildung soll überall mitberücksichtigt werden", so Schmid-Heher. "Erst mit der Lehrplanänderung 2016 bekam die Politische Bildung ein gewisses Maß an Eigenständigkeit durch die Pflichtmodule im Rahmen des Geschichtsunterrichts." In Deutschland wurde bereits 1952 eine Bundeszentrale für politische Bildung aufgebaut, es gibt ein eigenes Fach an den Schulen und ein Lehramtsstudium. Danach sucht man hierzulande vergeblich. In Österreich gab es erst in den 1980ern erste Versuche, Politische Bildung in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer einfließen zu lassen.

"Oft schwerer alsdie ‚Lösung‘ am Wahlplakat"

"Uns wurde in den 1980er Jahren an der Uni geraten, auch im Sinne des Überwältigungsverbots, dass wir uns mit einer persönlichen politischen Meinung zurückhalten sollen", sagt eine Lehrerin eines Wiener Gymnasiums, die anonym bleiben möchte. "Auch auf Schülerfragen, was wir Lehrer wählen, sollten wir nicht als Privatperson antworten." Generell sei Politik im Geschichtsstudium unterrepräsentiert, weshalb die Qualität der Politischen Bildung stark vom Politikinteresse des Lehrers abhängt. Ziel des politischen Lernens ist für sie, Schüler anzuleiten, Aussagen und Informationen zu hinterfragen. Und ihre eigene Meinung in der Klasse nicht offensiv zu vertreten "Ich stelle lieber Fragen nach den Erwartungen und Forderungen der Jugendlichen an die Politik", sagt sie. "Ich unterrichte auch 16-Jährige, für viele von ihnen wird die Uni bald ein Thema sein. Deshalb arbeiten wir gerade durch, was die Parteien hier zu bieten haben. Die Schüler vergleichen und wägen ab." Mit ihrer Meinung hält sie sich auch zurück, um Schüler zu ermutigen, sich einzubringen, die sich im Unterricht sonst zurückhalten. Manche Jugendlichen mit Migrationshintergrund würden sich aufgrund der politischen Entwicklungen in ihren Herkunftsländern bei gewissen Themen derzeit eher zurückhalten. "Ich will sie abholen und nicht noch stiller machen."

Für Pascal Günsberg hat die Lehrerlaufbahn im September erst begonnen. Er unterrichtet Politische Bildung in einer Wiener Handelsschule. "Es ist schon schwierig", sagt er. "Auf der einen Seite sollen sich die Schüler eine kritische Meinung bilden können. Andererseits soll ich mich als Lehrer enthalten und möglichst sachlich sein." Darunter leide der Unterricht, wenn man krampfhaft versucht, objektiv zu bleiben, weil man Themen dann nicht ordentlich ansprechen könne. "Der Diskussion kann man sich ja nicht immer entziehen, irgendwann muss man seinen eigenen Standpunkt vertreten, auch weil die Schüler danach fragen", sagt er. Günsberg bringt seine Meinung ein. "Man muss sie aber als solche kennzeichnen und das ganze Themenspektrum bieten", sagt er. Der Junglehrer sucht die Debatte im Unterricht und schreckt vor unpopulären Meinungen nicht zurück. "Ich will nicht, dass sie meine Meinung übernehmen, sondern Perspektiven schaffen und schauen, dass sie ihre wie meine Positionen hinterfragen", so Günsberg. "Ich mache sie auf Alltagsprobleme aufmerksam und frage sie, wie man das politisch lösen kann, um ihnen zu zeigen, dass das oft schwerer ist als die einfache ,Lösung‘ auf einem Wahlplakat." Trotz allem ist er sich bewusst, dass er aufpassen muss, da Politische Bildung ein sensibles Fach ist, sagt er. "Das ist von Elternseite aber vielleicht problematischer als von Schülerseite", sagt er. "Die Schüler sagen, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht. Zu den Eltern kommen vielleicht nur Halbwahrheiten durch, das ist gefährlich."

Politische Bildung wurde in Österreich vernachlässigt. Das sagen Lehrer wie Ausbildner. Sie wird von der Politik nur eingefordert, wenn es um die Aufarbeitung gesellschaftlicher Problemlagen wie Radikalisierung geht - aber oft erst, wenn diese schon akut sind. Zu anderen Zeiten stößt Politische Bildung auf wenig Interesse im Nationalrat. Es gibt viele Lehrer, die Energie, Arbeit und Freizeit investieren, um den Unterricht zu verbessern. Wie Johannes Brzobohaty, mit dem dieser Artikel begonnen hat, der mit Schülern stundenlang Parteiprogramme bespricht. Der sagt, was er wählt, um eine Debatte anzustoßen, ohne eine Blaupause sein zu wollen. Aber es mangelt an Zeit und Ausbildung. Hinzu kommt Unsicherheit, zumindest im Hinterkopf, trotz klarer Gesetze. Das ist kein fruchtbarer Boden für eine politisch reflektierte Gesellschaft. Wenn man sie denn will.