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080 - Warum junge Bulgar:innen ihr Land verlassen

Die Gehälter sind schlecht, die Korruption ist groß, und bei der Schattenwirtschaft belegt Bulgarien den ersten Platz in der EU: Die Jungen ziehen daher weg. Das könnte sich jetzt ändern, sagt der österreichische Wirtschaftsdelegierte Philippe Kupfer in Sofia zu uns, wo wir ihn besucht haben.

20 Min

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Vor allem in ländlichen Regionen bleiben nur die alten Menschen zurück.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Midjourney

Der Bevölkerungsverlust sei „eklatant“, sagt Philippe Kupfer, Leiter des AußenwirtschaftsCenters der österreichischen Wirtschaftskammer in Sofia, über Bulgarien. Viele Junge gehen ins Ausland studieren, ergänzt die 24-Stunden-Betreuerin Nikol – von dem Geld ihrer Eltern, die dafür im Ausland gearbeitet haben. Die WZ-Redakteur:innen Simon Plank und Petra Tempfer sind für diese Folge des WZ-Podcasts „Weiter gedacht“ nach Bulgarien gefahren, um Philippe Kupfer und Nikol zu besuchen und mit ihnen zu sprechen

Bulgarien ist das ärmste Land der Europäischen Union. Die Korruption liegt hier, verglichen mit anderen Ländern, im mittleren Drittel: Laut Transparency International lag Bulgarien im Jahr 2024 auf Platz 76 von 180. Was die Schattenwirtschaft betrifft, unter die zum Beispiel die Schwarzarbeit fällt, so entspricht deren Umfang laut einer von Visa Bulgaria in Auftrag gegebenen Studie insgesamt 34,6 Prozent des BIP: Das ist die höchste Rate in der EU.

Aktuell scheint Bulgarien jedoch an einem Wendepunkt zu stehen: Nach sieben erfolglosen Parlamentswahlen und Interimsregierungen innerhalb von dreieinhalb Jahren hat Bulgariens Parlament nun eine neue Regierung, die das Land aus der Krise führen soll. Die jungen Menschen blicken daher positiv in die Zukunft. Simon Plank und Petra Tempfer haben auch mit ihnen gesprochen. Nach ihrer Ausbildung im Ausland wollen die Jungen, die die WZ-Redakteur:innen auf der Straße gefragt haben, nun zurück in ihr Land. „Weil ich nicht will, dass es alle seine jungen Menschen verliert“, sagt etwa eine von ihnen. „Weil ich es liebe“, eine andere.

Produziert von „hört hört!“.

Philipp Kupfer
Philippe Kupfer, Leiter des AußenwirtschaftsCenters der österreichischen Wirtschaftskammer, bei unserem Besuch in seinem Büro in Sofia.
© Simon Plank

Willst du noch mehr über Nikol und die Reise der WZ-Redakteur:innen erfahren? Es gibt bereits die Podcast-Folge 1 „Warum junge Bulgar:innen keine Österreicher:innen mehr betreuen“ und die Reportage „Mit 24-Stunden-Betreuerinnen im Bus nach Bulgarien" sowie Videos auf den Social-Media-Kanälen der WZ dazu.

Zur Podcast-Folge 1:


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Infos und Quellen

Genese

Die WZ-Redakteur:innen Simon Plank und Petra Tempfer sind gemeinsam mit pendelnden 24-Stunden-Betreuer:innen 16 Stunden lang im Bus von Wien nach Sofia gefahren. Sie wollten sich ein Bild der Lage im Heimatland der Bulgar:innen machen. Diese Reise haben sie mit Texten, Podcasts und Videos begleitet.

Gesprächspartner:innen

  • Nikol (der Name wurde von der Redaktion geändert) kommt aus Mesdra, einer Stadt rund 100 Kilometer nordwestlich von Sofia. In Österreich arbeitet sie über eine Vermittlungsagentur als 24-Stunden-Personenbetreuerin. Nikol absolvierte den Ausbildungskurs zur Krankenpflegerin an der Universität Gabrovo in Bulgarien. Seit rund 30 Jahren pendelt sie zwischen Bulgarien und dem Ausland: Zuerst arbeitete sie viele Jahre in Griechenland in einer Bäckerei, startete 2016 als 24-Stunden-Betreuerin in Deutschland und betreut heute einen Patienten in Niederösterreich.
  • Philippe Kupfer leitet das AußenwirtschaftsCenter Sofia, Bulgarien, der Wirtschaftskammer Österreich. Er berät unter anderem österreichische Unternehmen beim Markteintritt, bei der Marktbearbeitung und allen Anliegen zu deren Internationalisierung, organisiert Veranstaltungen und Messen oder vernetzt österreichische Unternehmen vor Ort.

Daten und Fakten

  • In Österreich gibt es rund 600 Vermittlungsagenturen, die Personenbetreuer:innen mit Gewerbeschein vermitteln. Das Honorar beträgt je nach Qualifikation zwischen 78 und 107 Euro pro Tag. Die Betreuer:innen dieser Agenturen kommen etwa aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen oder der Ukraine.
  • Personenbetreuer:innen in Österreich sind in den meisten Fällen selbstständige Unternehmer:innen und zur Gewerbeanmeldung verpflichtet (Wirtschaftskammer Österreich).
  • Betreuer:innen sind keine Pfleger:innen. Im Unterschied zu Pfleger:innen dürfen sie zum Beispiel keine Spritzen verabreichen und ihre Patient:innen nur bei alltäglichen Tätigkeiten unterstützen (Wirtschaftskammer Niederösterreich).
  • Im Jahr 2007 wurden die Rahmenbedingungen für eine qualitätsgesicherte 24-Stunden-Betreuung auf legaler Basis geschaffen. Gleichzeitig wurde auf Initiative des Sozialministeriums ein entsprechendes Fördermodell entwickelt (Sozialministerium).
  • Personen, die zuhause gepflegt werden, können unabhängig von ihrem Vermögen eine finanzielle Unterstützung in Form eines Zuschusses zur 24-Stunden-Betreuung erhalten. Die Betreuung muss gemäß den Bestimmungen des Hausbetreuungsgesetzes erfolgen (Sozialministeriumservice).
  • Für die Betreuung betreuungsbedürftiger Personen in privaten Haushalten gilt das Hausbetreuungsgesetz, das vorsieht, dass eine Betreuung im Rahmen einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit erfolgen kann. Damit sind die rechtliche Absicherung der Betreuer:innen und der von ihnen betreuten Personen sowie eine praxisnahe Durchführung der 24-Stunden-Betreuung gewährleistet. Betreuung im Sinne des Hausbetreuungsgesetzes umfasst unter anderem die Hilfestellung bei der Haushalts- und Lebensführung (oesterreich.gv.at).
  • Das Sozialministerium erfasst nur jene Personenbetreuer:innen, die jemanden betreuen, der unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Förderung hat (einkommensabhängig). Die meisten kommen laut Aufstellung aus Rumänien (19.806), gefolgt von der Slowakei (6.995), Kroatien (2.699), Ungarn (2.422) und Bulgarien (939).
  • Die Wirtschaftskammer Österreich hat insgesamt 57.556 selbstständige Personenbetreuer:innen erfasst.
  • Die Anzahl der anspruchsberechtigten Personen, die im Jahr 2022 Pflegegeld erhielten, liegt bei 467.157 Menschen.
  • Bulgarien ist seit dem Ende des Kommunismus 1989 eine parlamentarische Demokratie. Die seit 2020 zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft hat die Regierungsbildung erschwert. Es kam mehrfach zu vorgezogenen Parlamentswahlen. Aus den letzten Wahlen am 27. Oktober 2024 ist eine Mehrparteienregierung unter Ministerpräsident Rosen Zhelyazkov hervorgegangen (Auswärtiges Amt).
  • Seit 2007 ist Bulgarien Mitglied der Europäischen Union. Das Land hat 6,5 Millionen Einwohner:innen. Der durchschnittliche Nettojahresverdienst eines Bulgaren oder einer Bulgarin beträgt 9.355 Euro (2023, Statista). Das sind monatlich 779 Euro.
  • Auf dem ersten Platz der ärmsten Länder der Europäischen Union befindet sich Bulgarien. Mit einem BIP pro Kopf von 59 Kaufkraftstandards liegt das Land deutlich hinter den anderen EU-Mitgliedstaaten (Handelsblatt).
  • In der EU sind 94,6 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Mehr als jede:r fünfte in einem Haushalt mit unterhaltsberechtigten Kindern lebende Europäer:in ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Außerdem sind 31 Prozent der in Privathaushalten lebenden Europäer:innen nicht in der Lage, unerwartete Finanzausgaben zu bestreiten. Das Armutsrisiko ist in Rumänien und Bulgarien am höchsten, in Tschechien und Slowenien am geringsten (Europäische Union).
  • Rund 31,6 Prozent der Frauen sind von Armut bedroht.
  • Bulgarien ist eine stark alternde Gesellschaft. Das Land verliert aufgrund von Auswanderung, einer niedrigen Geburtenrate und einer relativ niedrigen Lebenserwartung jedes Jahr an Einwohner:innen. Waren es vor rund 30 Jahren noch 9 Millionen Einwohner:innen, so sind es heute laut Statista nur noch 6,5 Millionen.
  • Die Währung Bulgariens ist der Lew. Am 1. Jänner 2026 soll der Euro eingeführt werden.
  • Die Korruption in Bulgarien liegt, verglichen mit anderen Ländern, im mittleren Drittel: Laut Transparency International lag Bulgarien im Jahr 2024 auf Platz 76 von 180. Zum Vergleich: Österreich belegte Platz 25. Das Schlusslicht bildete der Südsudan.
  • Was die Schattenwirtschaft betrifft, so fallen sowohl legale als auch illegale Tätigkeiten darunter. In jedem Fall sind es Tätigkeiten, für die weder Steuern noch Sozialabgaben gezahlt werden. Zum legalen Bereich zählen zum Beispiel Flohmärkte oder Nachbarschaftshilfe. Illegal ist es, wenn Arbeitgeber:innen ihre Arbeitnehmer:innen nicht anmelden und keine Lohnsteuer und Sozialabgaben für sie entrichten. Bulgarien erlebte diesbezüglich laut einer von Visa Bulgaria in Auftrag gegebenen und von der Unternehmensberatung Kearney durchgeführten Studie bis 2017 einen moderaten, aber stetigen Rückgang: Die Schattenwirtschaft ging demnach von fast 32 Prozent auf 30 Prozent des BIP zurück. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie kehrte diesen Trend jedoch um und trieb den informellen Sektor bis 2023 auf 34,6 Prozent des BIP – das entspricht 60 Milliarden Lew (30 Milliarden Euro) und der höchsten Rate in der EU, so die Studie. In sechs Sektoren, darunter Gastgewerbe, Landwirtschaft und Bauwesen, liegt die Schattenwirtschaft demnach bei mehr als 50 Prozent, wobei der Groß- und Einzelhandel sowie das verarbeitende Gewerbe die höchsten absoluten Werte aufweisen.
  • Mesdra liegt nordwestlich von Sofia im Verwaltungsgebiet Wraza, das zu den ärmsten Regionen des Landes zählt.

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Mesdra ist Teil der Oblast Wraza im Nordwesten Bulgariens.
© Illustration: WZ

Quellen

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