Der Nordwestbahnhof

Von den imposanten Bahnhofsbauten im Wien der Gründerzeit ist nichts geblieben. Reste aus dieser Vergangenheit befinden sich allerdings noch am Nordwestbahnhof im 20. Bezirk. Ein Streifzug durch seine Geschichte mit aktuellen Fotografien.

Text: Christa Hager
Fotos: J. Kerviel
Gestaltung & Produktion: Cornelia Hasil

Der alte Riese in seinen letzten Zuegen

Von allen Bahnhöfen Wiens ist er der Unscheinbarste. Der Vergessene. Und das, obwohl am Nordwestbahnhof auch Skispringer hüpften und Skifahrer kurvten, und obwohl er als Schauplatz scheußlicher Ereignisse in Österreichs Zeitgeschichte einging.

Dabei begann alles sehr vielversprechend. Gerade rechtzeitig zur Weltausstellung 1873 fertig gestellt, war er der letzte der sechs neu errichteten Fernbahnhöfe in Wien: Neben den Nachfolgebauten des Nord-, Süd-, und Ostbahnhofs wurden drei Neue gebaut: Der West-, Franz-Josefs- und der Nordwestbahnhof.

Und wie die vier anderen wurde auch er nach einer Himmelsrichtung benannt. Doch damit der Bahnhof überhaupt gebaut werden konnte, musste wie beim benachbarten Nordbahnhof auch die tiefe Lage im Hochwassergebiet aufgeschüttet werden. An die 1,5 Millionen Kubikmeter Erdreich wurde binnen 30 Monaten aus Heiligenstadt auf einer eigens dafür verlegten Bahn in die Brigittenau transportiert.

Allesamt sollten die neuen Kopfbahnhöfe das Selbstbild Wiens als Zentrum der Monarchie und Mitteleuropas unterstreichen. So wurden im Gegensatz zu den Bahnhöfen anderer Großstädte wie London oder Paris technische Errungenschaften und lichtdurchlässige Stahlkonstruktionen hinter Prunkfassaden verborgen.

Darstellung der Macht war angesagt, ein monumentaler Baustil die Folge: repräsentative Fronten, aufwändig gestaltete und für die Öffentlichkeit nicht zugängliche private Salons für die Elite, große Hallen mit dicken Säulen aus Stein und schmückenden Ornamenten.

Wappen und Mauerkronen

Auch am Nordwestbahnhof verbarg die imposante Aufnahmehalle mit Triumphbogenmotiv die Sicht auf die Bahnhofshalle samt ihrer fabrikähnlichen Atmosphäre, wo es qualmte, stank und dröhnte. Eingestiegen wurde wiederum ums Eck, auf der Seite des Augartens, wo sechs Statuen mit Wappenschildern und Mauerkronen in den Himmel ragten: Sie wiesen auf wichtige Zielorte der Nordwestbahn hin: Hamburg, Bremen, Dresden, Berlin, Leipzig und Breslau.

Vier Statuengruppen hielten die Wappen von Niederösterreich, Böhmen, Wien und Prag. Das vorrangige Ziel des Bahnhofs war, die östlichen und nordöstlichen Gebiete Böhmens rund um Iglau, Deutschbrod oder Kolin vor allem wegen der Rohstoffe zu erschließen und eine Verbindung zu den Ost- und Nordseehäfen in Deutschland herzustellen. Letzteres erklärt auch, warum eine deutsche Bahngesellschaft der Hauptinvestor war.

"Norwegerhosen und Blusen"

Passagierverkehr war zweitrangig und als nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl der zu befördernden Personen rapide sank, fand dieser 1924 sein vorläufiges Ende. Die damit funktionslos gewordene Halle des Nordwestbahnhofs wurde als Depot für Lokomotiven, aber auch zum Skifahren genutzt!

Indoor-Skiing würde man wohl heute dazu sagen, als 1927 in ihm eine überdachte, mit Bürsten- und Kokosmatten unterlegte Skiwiese eröffnet wurde. Der „Schneepalast“ samt Kulissen mit Fichtenhainen war weltweit die erste Skihalle mit Kunstschnee.

Gekurvt wurde auf einer streng geheimen Schneemixtur aus Soda, mittels Holzgerüst erzeugte man das nötige Gefälle, und neben der Piste lockten Sprungschanze und Rodelbahn mit motorbetriebener Beförderungsanlage.

"Wenn das Gesicht nach vorne stürzt, dann schmeckt es nicht nach Wasser"

Sogar eine Empfehlung für die passende Bekleidung gab es: "Norwegerhosen und offene Blusen sind im Interesse des zuschauenden Publikums besonders empfohlen“, betonte ein Sportjournalist, der in seinem Bericht unter anderem auch die Besonderheiten dieses Kunstschnees hervorhob: "Wenn das Gesicht nach vorne stürzt, dann schmeckt es nicht nach Wasser, sondern nach Soda. Dafür wird man aber nicht nass. Aber es juckt ein bisschen."

Die Eröffnung des „Schneepalastes“ am 26. November 1927 hätte ein großes Schauspiel werden können, wäre da nicht ein gewisser Richard Strebinger, Mitglied der monarchistischen Wehrformation Ostara gewesen, der auf Karl Seitz ein Attentat verübte.

Der Wiener Bürgermeister hatte zuvor seine Eröffnungsrede gehalten, auf dem Heimweg wurde auf seinen Dienstwagen geschossen.

Er blieb unverletzt. Mehr als ein Jahrzehnt zuvor hatten Pistolenkugeln jedoch genau getroffen: Der unter den Arbeitern beliebte und rhetorisch gewandte Sozialist Franz Schuhmeier wurde am 11. Februar 1913 in der Halle des Nordwestbahnhofs von Paul Kunschak, Bruder des christlichsozialen Politikers Leopold Kunschak, ermordet. Eine halbe Million Menschen war zeitgenössischen Berichten zufolge beim Begräbnis von Schuhmeier anwesend.

Raubgut aus Wien

Gar keine Geschoße wiederum gab es im Frühjahr 1938, als gleich drei oberste Nationalsozialisten, Goebbels, Göring, Hitler, dort Propagandareden schwangen. Im Sommer, am 2. August 1938, eröffneten ferner Reichsstatthalter Seyß-Inquart und Gauleiter Odilo Globocnik am Nordwestbahnhof die antisemitische Wanderausstellung "Der Ewige Jude".

Die Ausstellung wurde mit einem riesigen Plakat an der Außenfront des Bahnhofs beworben, bis Ende September hatten bereits 350.000 Menschen die Ausstellung besucht.

Während des Zweiten Weltkriegs blieb am Nordwestbahnhof der Güterverkehr aufrecht, in den letzten Kriegsjahren wurde auch der Personentransport wieder aufgenommen. Außerdem wurde der Bahnhof als Lager benutzt, mitunter für zum Weitertransport bestimmtes Raubgut. So legen Quellen nahe, dass die offenbar damals bereits dort ansässige Speditionsfirma "Kosmos International" Raubgut von dort aus Wien wegschaffte.

Aus der Zeit gefallen

Bomben, Artillerie und Brände beschädigten während des Kriegs auch den Nordwestbahnhof. Diese Schäden waren aber nur indirekt dafür verantwortlich, dass die gründerzeitlichen Bahnhöfe Wiens demoliert wurden.

Die meisten hätte man erhalten können. Dass sie dennoch aus dem Stadtbild verschwanden, lag zum einen an mangelndem Interesse, zum anderen waren die Bahnhöfe an ihre Kapazitäten gestoßen.

Bereits vor der definitiven Stilllegung des Personenverkehrs am Nordwestbahnhof im Jahr 1959 war das Hallendach schon demontiert und der Bahnhof Stück für Stück abgetragen worden. Die wenigen Züge, die noch verkehrten, wurden quasi auf offener Strecke abgefertigt.

Geblieben ist auf dem 44 Hektar großen Areal der Güterbahnhof, in den 1970er Jahren modernisiert und heute noch in Betrieb. Doch seine Tage sind gezählt, da er in wenigen Jahren endgültig nach Inzersdorf abgesiedelt sein soll.

Noch holt sich dort auf den teils ungenützten Flächen die Natur zurück was geht: ein Laubwäldchen aus Ahorn, Akazie, Pappel, Nuss oder Holunderstrauch weitet sich am Westrand aus, Gräser, Sträucher, Blumen fressen sich durch die morschen Bahnverstrebungen durch, aber auch seltene Pflanzen sind dort zu finden, wie zum Beispiel die Hillman-Rispenhirse.

Hasen hoppeln über rostige Schienen, Krähen sammeln sich auf den flachen Dächern, Stieglitze schwärmen aus, Rotschwänzchen hüpfen zwischen den Waggons umher und Meisen pfeifen von den Bäumen. Doch das Gezwitscher geht inzwischen unter, übertönt von den lauten Abrissarbeiten am Gelände.

Bis 2025 soll auf dem Areal des alten Bahnhofs ein neuer Stadtteil entstehen, das Leitbild dazu wurde bereits vor zehn Jahren vorgestellt, nicht unbedingt zum Wohlwollen der Anrainer. Im Zuge eines Bürgerbeteiligungsverfahrens wurde 2008 im Endbericht festgehalten, dass zu viele Hochhäuser vorgesehen seien und zu altmodisch geplant werde.

Andere wiederum beklagen die Phantasielosigkeit bei der Planung, vor allem, dass mit dem Abriss des Bahnhofs und seinen zum Teil alten Gebäuden auch die besondere Atmosphäre des Bezirks verloren ginge. Doch bevor es zu einem Verkauf des Areals kommen wird, müssen die ÖBB als Eigentümer des Bahnhofs das Areal noch auf Kontaminierung untersuchen und Verdachtspunkte aus dem Bombenkataster überprüfen lassen.

"Neben der Post soll 'zumindest einer dieser Backsteinbauten erhalten bleiben, als schönes Signal für die Identität des Ortes'"

Montage

Bis heute werden historische Bahnhöfe im stadtgeschichtlichen und denkmalpflegerischen Diskurs kaum thematisiert. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Geschichte der Eisenbahn meist auf die Faszination von Lokomotiven fokussiert ist, mit ein Grund dafür, dass auch am Nordwestbahnhof die letzten architektonischen Reste dieses Gründerzeitbahnhofs fast unbemerkt so lang vor sich hin schlummern konnten.

Hinzu kommt, dass die Zerstörung von Gebäuden und der Mangel an Quellen große Lücken in der Überlieferung überlassen haben.

Das alte Amtspostgebäude ist wohl das bekannteste noch bestehende Relikt der Gründerzeitbahnhöfe, daneben gibt es noch weitere, bis heute erhaltene Bauten von damals: darunter die zwei langgezogenen, zwischen 1870 und 1873 errichteten und unterkellerten Backsteinbauten.

Einer davon, in der Mitte von Gleisen durchzogen, wird als Umladerampe genutzt, ein anderer beherbergt das beeindruckende Filmrequisitenlager des Vereins props.co.

Diese zugleich bedeutende Sammlung von Objekten der österreichischen Zeit- und Alltagsgeschichte muss sich um eine neue Bleibe umsehen, denn in die Baupläne des künftigen Areals wurde sie nicht miteinbezogen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die unzähligen Raritäten und Gebrauchsgegenstände sind auf drei Etagen auf insgesamt rund 3000m2 untergebracht.

Andere Gebäude, etwas später, also Ende des 19. Jahrhundert, errichtet, sind ebenso noch erhalten, auch sie stille Protagonisten einer langen Geschichte.

Bisher steht fest, dass nicht nur das alte Postgebäude vor einem Abriss verschont und in die Neugestaltung des Areals einbezogen wird: Neben der Post soll „zumindest einer dieser Backsteinbauten erhalten bleiben, als schönes Signal für die Identität des Ortes", heißt es seitens der Magistratsabteilung 21, zuständig für Stadtteilplanung und Flächennutzung. Was mit dem anderen langgezogenen Ziegelsteinbau aus der Gründerzeit geschehen wird, wisse man noch nicht. Man sei gerade dabei, sich das nochmal anzusehen.

Vielleicht lasse man drei Viertel oder die Hälfte davon über. Wichtig sei, dass er bei der Neugestaltung des Areals nicht im Weg stehen wird.