"Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass ich ein Außenseiter bin."

© Georg Hochmuth

Alexander Van der Bellen

Biographie

Der einstige Grünen-Chef wird 1944 in Wien geboren und verbringt seine Kindheit im Tiroler Kaunertal. Sein Vater ist Russe mit niederländischen Wurzeln, seine Mutter Estin. Er studiert Volkswirtschaft in Innsbruck, forscht einige Jahre in Berlin und wird zum ordentlichen Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre.

Mitte der 1970er Jahre tritt er der SPÖ bei, findet später aber zu den Grünen. An der Universität Wien lässt er sich 1999 karenzieren, um sich voll der Politik zu widmen. Er ist seit 2009 im Ruhestand und hat zwei Söhne aus geschiedener Ehe. Seit kurzem ist er wieder verheiratet – und zwar mit Doris Schmidauer, Geschäftsführerin im Grünen Club.

Werdegang

2012 – 2015 Wiener Landtagsabgeordneter und Gemeinderatsmitglied

1994 – 2012 Nationalratsabgeordneter für die Grünen

1999 – 2008 Obmann des Grünen Klubs im Parlament

1997 – 2008 Bundessprecher der Grünen

1980 – 2009 Ordentlicher Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre

1990 – 1994 Dekan bzw. Stellvertretender Dekan, Universität Wien

1977 – 1980 Verwaltungsakademie des Bundes Wien

1976 – 1980 Außerordentlicher Universitätsprofessor, Universität Innsbruck

1972 – 1974 Research Fellow, Wissenschaftszentrum Berlin

Themen

Flüchtlingspolitik

Van der Bellen ist gegen die beschlossene Flüchtlingsobergrenze: Sie verstoße gegen Grundrechtecharta und Menschenrechtskonvention; außerdem gebe es in Österreich noch Kapazitäten. Es müsse aber sehr wohl eine „gesamteuropäische Lösung“ gefunden werden. Er ist optimistisch, dass die Integration der Flüchtlinge mittelfristig gelingt und befürwortet Multikulturalität, solange sich keine Ghettos bilden.

Europäische Union

„Wenn es die EU nicht gäbe, müsste man sie erfinden“, beschreibt seinen Standpunkt wohl am besten – auch wenn er das Entscheidungssystem der EU regelmäßig kritisiert. Der EU komme eine Schlüsselfunktion bei der Lösung aktueller Probleme zu. Strache als Kanzler würde er deswegen nicht angeloben, weil der FPÖ-Chef „keinen Hehl daraus macht, Europa weiter ruinieren zu wollen“.

Pensionen

Van der Bellen spricht sich für eine langfristige Reform des Pensionssystems aus. Durch das Steigen der Lebenserwartung wäre das derzeitige System nicht zu halten. Grundsätzlich tritt er für ein flexibles, liberales und der eigenen Entscheidung jedes einzelnen folgenden Pensionssystems ein, mit Zu- und Abschlägen je nach Pensionsantrittsalter.

Interview

"Mehr Vielfalt ist bewältigbar"

Wiener Zeitung:Die Grünen wollten doch immer schon den schwachbrüstigen Parlamentarismus in Österreich stärken...

Alexander Van der Bellen:...schon, ja...


Das ginge doch am einfachsten, wenn der Bundespräsident auf seine wesentlichen Befugnisse im Zusammenhang mit der Regierungsbildung zugunsten des Nationalrats verzichten würde.

Van der Bellen: Das könnte man schon diskutieren, aber ich meine doch, dass sich die Verfassungsjuristen bei der Konstruktion dieser zugegeben komplizierten Machtbalance zwischen dem Bundespräsidenten, dem Nationalrat und der Regierung etwas gedacht haben. Und das Parlament hat ja immer die Möglichkeit eines Misstrauensvotums per Mehrheitsentscheid gegen eine Regierung, die der Bundespräsident ernannt und angelobt hat.


Wenn allerdings alle Seiten auf ihrem jeweiligen Standpunkt beharren, würde das Land in eine Verfassungskrise schlittern.

Van der Bellen: Ich ahne schon, worauf Sie hinauswollen: Sie zielen auf meine Aussage ab, eine Regierung mit einem FPÖ-Kanzler nicht angeloben zu wollen.


Ja.

Van der Bellen: Ich will jetzt nicht ausweichen, aber das will ich zuvor schon noch festhalten: Strache (FPÖ-Obmann Heinz-Christian, Anm.) hat uns vor der Wiener Gemeinderatswahl mindestens ein Jahr lang mit der Ansage behelligt, er werde und wolle Bürgermeister der Bundeshauptstadt werden. Fast alle Medien sind bereitwillig darauf angesprungen - und was ist am Ende daraus geworden: Bezirksvorsteher von Simmering, und auch das hat er nicht angenommen. Jetzt will er uns zwei Jahre lang einreden, unbedingt Bundeskanzler von Österreich zu werden. Aufgrund der Wiener Erfahrungen schaue ich mir das an. Aber es kann natürlich sein, dass die FPÖ bei den nächsten Wahlen zur stärkste Fraktion wird, und dann wird dem Bundespräsidenten eine wichtige Rolle zufallen.


Wie würden Sie in diesem hypothetischen Fall vorgehen?

Van der Bellen: Einer der größten Krisenherde Europas ist der Zustand der Europäischen Union selbst. Die Mitgliedstaaten haben mehr und mehr Befugnisse übernommen und Kommission und EU-Parlament an den Rand gedrängt. Jetzt sehen wir, wohin das führt. Ich bin nicht bereit, dem tatenlos zuzusehen und in der größten Krise seit Gründung der Union den Chef einer Partei zum Kanzler zu machen, die kein Hehl daraus macht, Europa weiter ruinieren zu wollen. Und das sollte sich jeder gut überlegen, der im Jahr 2018 das Amt des Bundespräsidenten bekleidet.


Gilt das auch für den Fall, dass hinter einem FPÖ-Kanzlerkandidaten eine zum Regieren entschlossene Mehrheit des Nationalrats steht?

Van der Bellen: Es bringt wenig, alle Eventualitäten im Vorhinein bis zum Ende durchzudeklinieren.


Ich frage, weil die Grünen ja eigentlich immer skeptisch waren gegenüber einem direktdemokratisch legitimierten "starken Mann", der die repräsentative Demokratie im Parlament aushebeln könnte.

Van der Bellen: Da haben Sie recht. Es geht aber keineswegs um ein Aushebeln: Thomas Klestil stand damals, bei der Regierungsbildung durch ÖVP und FPÖ Anfang des Jahres 2000, vor einer ähnlichen Situation. Er hat sich für einen Kompromiss entschlossen, indem er auf einer pro-europäischen Präambel des Koalitionsvertrags bestand und zwei freiheitliche Ministerkandidaten ablehnte. Und er hat sich sicher auch überlegt, was er sonst noch tun könnte. In einer solchen entscheidenden Situation muss sich ein Bundespräsident mit seiner hohen demokratischen Legitimation sehr gut überlegen, ob er es sich bei der Regierungsbildung leicht oder schwer macht.


Was macht einen guten Österreicher, eine gute Österreicherin aus?

Van der Bellen: Schwierige Frage. Ich bin hier kein Experte, aber innerhalb der deutschsprachigen Literatur gibt es doch Unterscheidungsmerkmale, ob ein Autor aus Deutschland, der Schweiz oder eben Österreich kommt. Ich finde das interessant. Schriftsteller wie Musil, Bernhard, Jelinek zeichnen sich offensichtlich durch mehr Doppelbödigkeit, Ironie, auch sprachlichen Exzess aus.


Welche Eigenschaften müssen Menschen, die zu uns kommen und hier bleiben wollen, mitbringen?

Van der Bellen: Wenn sie es nicht schon können, dann müssen diese Menschen lernen, sich hier zu verständigen. Um Deutsch kommt man also nicht wirklich herum. Sie müssen die rechtsstaatlichen Prinzipien akzeptieren und dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt und sonst nirgendwo - solche grundlegenden Dinge eben. Wenn man sich hier wohlfühlen will, hilft es wohl auch, die Landschaft, das Spezifische der Region zu lieben.


Wie viel ethnische und kulturelle Vielfalt verträgt das Land angesichts des Flüchtlingsstromes nach Europa?

Van der Bellen: Langfristig bin ich optimistisch. Früher habe ich manchmal gespottet, dass wir in den 1990ern einen Bundeskanzler Vranitzky und einen Vize namens Busek hatten; der eine Name dürfte aus Polen stammen, der andere aus Tschechien. Und auf slowakischer Seite hatten wir damals einen Premier, der Schuster hieß. Zumindest für die jüngere Generation sind binationale Beziehungen und Ehen fast schon normal. Aber sicher müssen wir jetzt bei den Kriegsflüchtlingen, die aus dem islamischen Kulturkreis kommen, aufpassen: Verstehen sie schnell genug, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau bei uns anders ist? Was ist mit Antisemitismus? Das sind die zwei Hauptpunkte, wo durchaus mit Erziehungsproblemen zu rechnen ist, aber auf mittlere Sicht ist das lösbar. Kein Problem habe ich mit dem Kopftuch, das ist für mich keine Grundsatzfrage. Ein bisschen mehr Vielfalt ist also durchaus bewältigbar. Ottakring mit seiner Mischung aus türkisch-, kroatisch- und serbischstämmigen Menschen und den nun neu hinzuziehenden Bobos ist für mich ein gelungenes Beispiel.


Diese Gruppen leben allerdings oft nebeneinander, nicht miteinander.

Van der Bellen: Damit habe ich kein Problem, solange es keine Ghettos gibt.


Ist es politisch legitim, dass die Regierung Obergrenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen als Ziel angibt?

Van der Bellen: Kommt darauf an: Wenn es darum geht, den Leuten Sand in die Augen zu streuen, ist es für mich grenzwertig. Es ist eine politische Zielvorstellung, von der man schlicht noch nicht weiß, ob und wie man sie umsetzen kann.


Was kann, was soll Europa tun, um der Flüchtlingskrise Herr zu werden?

Van der Bellen: Das Schwierigste ist sicher, die Kriege in der gesamten Region zu beenden; das Leichtere, die Lage der Flüchtlinge in den daran angrenzenden Staaten zu erleichtern, vor allem in der Türkei, Jordanien und im Libanon.


Und die Menschen, die zu uns nach Europa kommen wollen, sollen auch kommen können?

Van der Bellen: Jetzt ziehe ich mich einmal auf den imaginären Stuhl des Bundespräsidenten zurück: Der ist weder Ersatzkanzler, noch Ersatzinnenminister oder Ersatzdiktator, aber er hat eine Stimme, wenn es darum geht, die verfassungsrechtlichen Grundlagen einzuhalten. Dazu gehören die Verfassung, die Europäische Grundrechtecharta und die Menschenrechtskonvention. Und darauf beharre ich.


Zum Interview auf www.wienerzeitung.at