Europa

Ein sicherer Hafen?

Eine Reportage aus Sizilien

Europa: Ein sicherer Hafen

Text und Fotos: Eva Zelechowski | Produktion: Cornelia Hasil

September 2014: Beinahe täglich legt ein Boot mit Hunderten Geflüchteten am Südzipfel Siziliens an. Sie gehen von Bord, hinein in eine ungewisse Zukunft. Was geschieht mit den Neuankömmlingen, mit den "Aliens" – wie Fremde auf Englisch bezeichnet werden – nach ihrer Ankunft? Wie sind sie in Italien untergebracht? Wie aussichtsreich ist ihr Asylgesuch? Ein Lokalaugenschein in Sizilien.

"Dort sind wir mit dem Boot angekommen!", rufen die Kinder und zeigen zum Hafen. Am Handgelenk tragen sie ein Plastikband mit einer Nummer. Es sind junge Ägypter, die in der menschenleeren Bucht von Pozzallo am Südzipfel Siziliens toben und unbeschwert lachen. Vor zwei Wochen hat sie die italienische Küstenwache im Rahmen der Rettungsmission "Mare Nostrum" unweit der libyschen Küste von einem Flüchtlingsboot geholt. Die italiensche Insel Sizilien ist vorläufig ihre Heimat.

Sie kamen ohne Eltern und Familie. Nicht als Kinder, sondern als "unbegleitete Minderjährige" werden sie jetzt wahrgenommen. Sie werden in Einrichtungen auf der ganzen Insel verteilt – hier geht es zur Reportage Reportage über 100 Teenager, die in einem ehemaligen Schulgebäude im 200 Kilometer entfernten Augusta zusammengepfercht sind.

Schiffsfriedhof am Hafen

Pozzallo gilt als das neue Lampedusa, seit vor einem Jahr das umstrittene Flüchtlingslager auf der 240 Kilometer entfernten Nachbarinsel geschlossen wurde. An die Öffentlichkeit gelangte Videos zeigten dort den schockierenden Umgang mit Asylwerbern und sorgten für Aufregung. Nun betreten Menschen, die mithilfe von Schleppern auf abgewrackten Holzschiffen oder kaum seetauglichen Schlauchbooten Europa ansteuern, in Pozzallo erstmals europäischen Boden.

Täglich müssen die Jugendlichen an dem Schiffsfriedhof vorbei, wenn sie das Stadtzentrum anpeilen.



Am Hafen, etwa 200 Meter von der Anlagestelle entfernt, leben die ägyptischen Buben gemeinsam mit 150 anderen unbegleiteten Minderjährigen in einem provisorischen Lager.

Unmittelbar daneben hat man einige Flüchtlingsboote abgeladen: Ihre zerfetzten Decks wirken wie grässliche Fratzen und erzählen stumm die Horror-Storys von Flucht und Verzweiflung. Die Boote liegen da wie ein abschreckendes Mahnmal, als Symbol für das Massengrab Mittelmeer.

Einer von ihnen ist Ahmed. Der 17-jährige kommt aus al-Mansoura im ägyptischen Nildelta. Er erzähltmir, dass sein Vater 3.000 Dollar (umgerechnet 2.300 Euro) von Bekannten ausgeliehen hat, um ihm die Flucht nach Europa und in eine vermeintlich bessere Zukunft zu ermöglichen.



"Nach ein paar Tagen ist der Motor explodiert."

Ahmed aus Ägypten, 17 Jahre



Mit 300 Anderen war er 14 Tage auf See unterwegs. Wieso so lange? "Nach ein paar Tagen ist mitten am Meer der Motor explodiert. Sie haben dann eine Kontaktperson in Ägypten angerufen, aber wir mussten einige Tage warten, bis jemand kam, um den Schaden zu reparieren", erzählt Ahmed.

Sein Bruder sei auch in Italien, in einem Heim in Rom, zu ihm möchte er jetzt. Gemeinsam lasse sich die Zukunft vielleicht leichter planen, sagt Ahmed. Für seine Fluchtgründe interessierten sich die Behörden nicht: "In einem Gespräch sollten wir nur sagen, woher wir kommen und ob wir Papiere haben."

Migration in Zahlen

23.000 Tote

130.000 Schutz Suchende

€ 90.000.000

Im laufenden Jahr sind 130.000 Schutz Suchende über das Meer nach Europa gekommen, fast doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2013. Die Behörden legen sich Argumente für verstärkte Grenzsicherung zurecht, warnen vor einem "Flüchtlingsansturm" und einem "dramatischen Anstieg" der Flüchtlingszahlen.

Kaum überraschend angesichts der Bürgerkriegssituation in Syrien und Libyen. Seit Beginn des Syrien-Krieges sind 6,5 Millionen Menschen innerhalb Syriens auf der Flucht, 3,2 Millionen Syrer sind im Ausland als Flüchtlinge registriert. Allein der Libanon nahm 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge auf und verdreifachte damit seine Bevölkerung auf 3,6 Millionen Einwohner.

Die Gefechte rivalisierender Milizen in Libyen haben nach UNO-Angaben 287.000 in die Flucht getrieben. Die explodierenden Nahrungsmittelpreise, Gesetzlosigkeit und anhaltenden Kämpfe, die korrupte Politik der Behörden, die willkürliche Verhaftung von Flüchtlingen bringt viele Menschen dazu, sich auf die gefährliche Fahrt durch die Wüste und über das Mittelmeer zu machen. Ohne zu wissen, ob sie das Ufer lebendig erreichen.

Mehr als 23.000 Menschen sind seit 2000 auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen, 2.000 weitere werden vermisst, wie eine Gruppe europäischer Journalisten im Rahmen des Datenprojekts „The Migrant Files“ ermittelte. Alleine seit Oktober 2013 sind 4.000 Tote zu beklagen. Es ist an der Zeit, mehr zu tun, als nur die Opfer zu zählen", sagte IOM-Generaldirektor William Swing im September.

Mediale Aufmerksamkeit haben die gefährlichen Überfahrten der Flüchtlinge vor allem seit dem 3. Oktober 2013. Das war der Tag, an dem beim sogenannten "Bootsunglück" vor Lampedusa fast 400 Menschen ertranken. Die Reaktion aus Österreich: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) sprach sich für eine bessere Flüchtlingsaufteilung in der EU aus.

Auch das Treffen der EU-Innenminister zur europäischen Flüchtlingspolitik im Oktober 2013 ging ergebnislos zu Ende. Auf ein Vorhaben einigte man sich allerdings in Reaktion auf das "Flüchtlingsdrama": Mehr Geld soll fließen, um den EU-Grenzschutz zu stemmen. Seit 2005 hat sich das Budget für die EU-Grenzschutzagentur Frontex von sechs auf 90 Millionen mehr als verzehnfacht.

Nach Lampedusa reagierte Italien und schickte die Rettungsmission "Mare Nostrum" für monatlich neun Millionen Euro aufs Meer. "Wir können damit nicht alleine fertig werden", appellierte der italienische Innenminister Angelino Alfano. In Brüssel blitzte man jedoch ab. Unter anderem mit dem Argument, dass "Mare Nostrum" durch die Rettungseinsätze mehr Menschen zur Flucht motiviere, und damit auch Schlepper-Netzwerke begünstige.

Seit Oktober 2013 wurden etwa 130.000 Menschen auf See aufgegriffen bzw., wie es immer heißt, gerettet. Relativierend zum Begriff "Rettung" wirkt der Umstand, dass die Geflüchteten in Aufnahmelager gesteckt werden, in denen sie oft monatelang auf ein Erstgespräch warten, um in vielen Fällen wieder abgeschoben zu werden.

Die Behörden verzögern die Prozedur auch, um die unwillkommenen Asylbewerber in andere EU-Staaten ziehen zu lassen. Ende Oktober wurde "Mare Nostrum" eingestellt. Die humanitäre Aktion bekommt einen Nachfolger mit ganz anderer Mission.

Am 1. November startete die von Frontex koordinierte Operation "Triton", womit der Fokus wieder auf die Absicherung der Festung Europa vor unerwünschten Eindringlingen gelegt wurde. Die Schiffe und Flugzeuge sind in einem Gebiet im Umkreis von gerade mal 30 Seemeilen vor der italienischen Küste im Einsatz.

Diese Migrationspolitik wird vielen Menschen das Leben kosten, sind sich Menschenrechtsorganisationen einig. Sie wollten eine Einstellung von "Mare Nostrum" verhindern. Denn fest steht: "Triton" hat "nicht die Priorität, Menschenleben zu retten", wie Frontex-Chef Gil Arias-Fernandez betonte. – Hier geht es zum "Frontex"-Interview über die Rolle Österreichs an "Triton".

Asylanträge nach Herkunftsländern (Jänner - Juli 2014)

Laut der Statistikbehörde Eurostat haben EU-weit haben im ersten Halbjahr 2014 in 28 Staaten insgesamt 230.300 Menschen um Asyl gebeten. Aussagekräftig sind die Zahlen vor allem im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung:

Österreich

Italien

Bewerber pro Million Einwohner

Dass Pozzallo erst seit einem Jahr von Flüchtlingen angesteuert wird, ist falsch, sagt Lucia Borghi von "Borderline Sicilia", einer Organisation, die Flüchtlinge berät und unterstützt.

"Das passiert schon seit 20 Jahren, nur hat niemand so genau hingeschaut." Behörden diene die momentane 'Notsituation' als Vorwand, um die Menschen unter unzumutbaren Zuständen in heillos überfüllten Unterkünften im Süden Italiens unterzubringen. Eine Forderung von NGOs, Schutz Suchende und vor allem Minderjährige in den Norden zu verlagern, stoße auf massiven Widerstand.



"Flüchtlingsbetreuung ist zu einer scheußlichen Geldmaschine verkommen!"

Lucia Borghi, Aktivistin



"Ein riesiges Dilemma sind die fehlenden Kompetenzen und intransparenten Vergabemechanismen für die Verwalter der Flüchtlingslager. Die Mitarbeiter dieser Betreuungseinrichtungen sprechen oft kein Englisch, natürlich auch kein Arabisch", sagt Borghi.

NGOs und Vereine, die über genug Kompetenzen und Erfahrung mit Asyl Suchenden verfügen, beziehe man nicht in die Koordination mit ein. Öffentliche Ausschreibungen gebe es de facto nicht. "Leider werden Flüchtlinge von Firmen betreut, die weder über ausreichend Personal noch über qualifizierte Betreuer verfügen."

Lager „Pian del Lago“

Am Stadtrand von Caltanissetta, im Herzen Siziliens, befindet sich das staatliche Flüchtlingslager "Pian del Lago". Mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Bus oder Zug ist es nicht zu erreichen. Mein Taxifahrer ist ratlos, wir kurven seit 15 Minuten durch staubige Straßen.

Eine offizielle Adresse hat die staatliche Flüchtlingseinrichtung nicht. Wir lassen die mediterranen Häuschen samt schattenspendenden Olivenbäumen hinter uns und hoffen auf einen Anhaltspunkt, ein Schild. Irgendwo hier muss es sein...





Ich ziehe mein Smartphone aus der Tasche und wische solange über die GoogleMaps- Satellitenbilder, bis ich – unweit unseres Standorts – eine Fläche mit Dutzenden weißen Containern entdecke.

Trotz 30 Grad Spätsommerhitze überkommt mich ein Frösteln, als wir das Lager betreten, das von einem zehn Meter hohen Zaun umschlossen wird. Der Polizist am Eingang grüßt freundlich und streckt mir ein Besucherkärtchen entgegen. Ich bin mit einer Delegation aus Politikern, Aktivisten, Journalisten, Juristen sowie einem Pfarrer angemeldet. Danach geht es ins Innere des Geländes, vorbei an ärztlichen Behandlungsräumen und an einer weiteren Absperrung, zwei Sicherheitsbeamtinnen winken uns durch.



„Ich möchte nur glücklich sein!“

Shahzad Faisal, Bewohner des „Pian del Lago"



117 Männer hauptsächlich aus Pakistan, Gambia, Syrien, Eritrea und Afghanistan sind in fensterlosen Containern und einfachen Ziegelbauten untergebracht. Betten gibt es in den Ziegelgemäuern keine, die Geflüchteten schlafen auf Betonblöcken, die Matratzen werden erst bei Ankunft eines neuen Asylwerbers gebracht. Schuhschachteln sind zu Nachtkästchen umfunktioniert.

In den Containern leben bis zu fünfzehn Männer, ein Doppelbett reiht sich an das andere, daneben sind spärliche Habseligkeiten aufgeschlichtet. Beginnt man ein Gespräch mit einem der Lagerbewohner, steht man binnen Sekunden in einer Menschentraube. Jeder versucht seine Probleme zu deponieren.

Hauptsächlich beklagen die 20- bis 50-jährigen Männer die sanitären Anlagen, die menschenunwürdige Unterbringung in Blechcontainern, Mängel in der medizinischen Versorgung und vor allem die unerträglich langen Wartezeiten auf einen Termin mit der Kommission, der erst den Asylprozess in Gang bringt. Ob sie Rechtsberatung oder Unterstützung bei der Asylantragsstellung bekommen, möchte ich wissen. Die Antwort ist immer die gleiche: Nein. Wer sich nicht aktiv um Informationen bemüht, weiß nichts über Formalitäten und seine Rechte.

"Im Jahr 2014 möchte ich ohne Stress und Sorgen leben, Ich muss nicht reich und berühmt sein, ich möchte nur glücklich sein! – by Shahzad Faisal." Auf den Wänden der Kantine haben die Lagerinsassen Zetteln mit ihren größten Wünschen geklebt. Zwar kann man sich abmelden und in der Stadt frei bewegen, doch in der Einrichtung geht es wie in einem Gefängnis zu.

Das bedrückende Gefühl fällt erst nach dem dreistündigen Aufenthalt ab, als das Tor hinter mir zufällt. Besonders negativ sehen die pakistanischen Flüchtlinge ihre Asylchancen. 99 Prozent der Gesuche würden in Europa abgelehnt, zitieren sie offizielle Statistiken.

Die meisten kommen aus dem Punjab-Tal, wo die Taliban wüten. "Aufgrund der weiterhin bestehenden hohen Terrorgefahr wird von nicht unbedingt notwendigen Reisen abgeraten", warnt das österreichische Innenministerium. Asyl- und schutzberechtigt seien pakistanische Flüchtlinge trotzdem nicht, weil für sie in ihrem Herkunftsstaat keine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder einer Verletzung ihres Rechts auf Leben besteht.

Unter der Brücke

Gegenüber der staatlichen Einrichtung "Pian del Lago" leben in provisorischen Behausungen etwa 100 Männer unter freiem Himmel. Drei Lager, getrennt nach Nationalitäten: Pakistan, Afghanistan und Gambia. In den aus Holzstämmen und Stofftüchern fabrizierten Zelten liegen auf der staubigen Erde bis zu 15 Matratzen nebeneinander, die sie im Müll gefunden haben.

Als sanitäre Anlagen dienen herangekarrte Wasserkanister, Toiletten gibt es keine. Gekocht wird über einer Feuerstelle zwischen zwei Betonblöcken. Ein Pakistani wirft gerade Teig durch die Luft und bereitet landestypische Fladenbrote vor. Es sind auch Verletzte und Kranke unter ihnen, die medizinische Versorgung benötigen, doch von NGOs oder Behörden kommt keine Unterstützung.

Auf der Brücke über ihren Köpfen donnern Tag und Nacht Züge vorbei. Hier harren sie aus, haben sich beim Amt für Migration im Polizeipräsidium gemeldet und warten auf die Registrierung, um einen Asylantrag zu stellen.

"Bei der Ankunft sollten die meisten von uns nur den Vor- und Nachnamen auf einer informellen Liste hinterlassen. Weder wurden Fotos gemacht noch haben wir einen offiziellen Asylantrag zu Gesicht bekommen", erzählt ein junger Afghane.





Bis zur Aufnahme in die offizielle Einrichtung auf der anderen Seite der Straße können Wochen oder Monate vergehen. Während die Männer aus Pakistan und Afghanistan noch hoffen, steht es um die jungen Gambier schlechter. Ihr Antrag auf internationalen Schutz wurde bereits vor Monaten negativ entschieden. Was aus ihnen werden soll, wissen sie nicht.