Der Traum vom Fliegen

Seit über 100 Jahren stürzen sich Menschen mit Latten an den Füßen in abenteuerliche Tiefen. Wir haben es auch getan.
Ein Versuch, die Faszination des Skisprungs zu begreifen.

Text: Christa Hager & Matthias Winterer
Gestaltung & Entwicklung: Cornelia Hasil

Ein drahtiger Mann sitzt auf einem Betonturm. Den Kopf zu Boden gesenkt, fokussiert auf das, was gleich passieren wird. Hunderte Meter unter ihm toben Tausende. Er kann ihren Jubel als diffuses Rauschen wahrnehmen. Ansonsten herrscht völlige Stille. Die Latten an seinen Schuhsohlen liegen in Rillen. Sie führen einen nahezu senkrechten Abhang entlang und münden im Nichts.

Mit leerem Blick starrt er in den Abgrund. Entgegen jeglicher Vernunft klopft er sich auf die Oberschenkel und fährt los. In tiefer Hocke gleitet er hinab, bevor er seinen Körper waagrecht in die Luft hebelt. Wie ein Blatt Papier segelt er in die Tiefe. Mit einem lauten Knall setzt er am pickelharten Schnee auf.

Das ist sein Tun. Das ist seine Berufung – der skurrile Akt des Skisprungs. Weltweit beherrschen ihn nur eine Handvoll Menschen. Millionen andere begeistert er. Sie wollen ihn sehen. Auf Fernsehgeräten, auf Leinwänden, in Sprungstadien. Aber warum eigentlich? Was fasziniert die Menschen an der Randsportart Skispringen? Was bringt sie dazu, sie zu erlernen? Der Versuch einer Antwort.

Der spielerische Beginn einer Karriere

Auch die größten Skisprungkarrieren beginnen klein. Meist auf aufgeschütteten Schneehügeln am Hang hinterm Elternhaus. Es gibt Kinder, die – sobald sie halbwegs Skifahren können – nichts lieber tun, als über Buckeln und Mugeln zu hüpfen. Andreas Goldberger war so ein Kind. „Das hat mir immer schon getaugt, sich eine Piste zu bretteln und irgendwo drüber zu springen“, sagt Goldberger.

Als ihn sein älterer Bruder Ende der 1970er-Jahre auf die 30-Meter-Schanze mitnimmt, zündete in dem Buben ein Funke. „Ich bin immer wieder auf die Schanze rauf und hab mich angestellt. Dem mulmigen Gefühl am Anlaufturm zum Trotz.“

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Andreas Goldberger, die sympathische Glanzfigur der Sprungszene der 1990er-Jahre. © Georges Schneider

Aus dem kindlichen Bewegungsdrang entwickelt sich der Trieb, die Sportart zu erlernen. „Ich wollte wie der Innauer im Fernsehen springen.“ Dieser Drang sollte ihn schlussendlich zu drei Gesamtweltcup-Titeln führen. „Goldi“ wurde zur sympathischen Glanzfigur der Sprungszene der 1990er-Jahre.

Ich fühle mich wie ein Profi. Grüner Sprunganzug, Helm und natürlich Sprungski – handbreite Latten aus Fiberglas und Carbon. Ihr Druck auf der Schulter fühlt sich gut an. Sie sehen aus, wie im Fernsehen. Sogar die obligatorische OMV-Werbung prangt von der gelben Lackschicht.

Mit bedächtigen Schritten geht es die Metalltreppe neben der Schanze hinauf. Je höher ich aufsteige, desto stärker wird die Vorfreude von einer diffusen Angst überlagert.

Spätestens beim Anlegen der Skier, hat sie die Vorherrschaft im Kopf erobert. Zweifel kommen auf. Kann ich das? Ist es nicht völliger Wahnsinn, als Erwachsener mit dem Skispringen zu beginnen? Immerhin ist das hier die kleinste Schanze in der Sprungarena. Von oben sieht sie trotzdem ungeheuerlich aus.

Doch es sind weniger Ruhm und Ehre, die Skispringer zu Skispringern werden lassen, als vielmehr eine bestimmte Emotion, ein spezielles Gefühl der Leichtigkeit. „Es hat mich getragen“, sagen sie dann. „Mir ist der Knopf mit 14 Jahren aufgegangen“, sagt Sprungästhet und Olympiasieger Anton Innauer.

„Es war im Frühjahr 1973 auf der 70-Meter-Schanze, als ich diesen überwältigenden Moment das erste Mal erlebte. Plötzlich sprang ich 15 Meter weiter als zuvor. Ich war auf einer Welle aus Luft. Es war ein irrsinnig schönes Gefühl.“ Aber was war geschehen? Was hatte Innauer diesmal anders gemacht?

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Sprungästhet und Olympiasieger Toni Innauer 1980 in Lake Placid. © Schlage Ullstein

Beginnt ein Kind Ski zu springen, versucht es erstmal, sicher zu springen. Es will ein System finden, mit dem es möglichst stabil und gefahrlos die Schanze hinunter kommt. „Damit es sich nicht jedes Mal zu Tode fürchten muss, wenn es da runterschaut“, sagt Innauer. Junge Springer sind in der Luft zu senkrecht – also zu vertikal. Sie erreichen nach dem Absprung zwar einen hohen Luftstand, verlieren aber im Laufe des Sprungs an Geschwindigkeit.

Auf der Welle aus Luft

„Es gibt in der Flugkurve den Moment, kurz bevor man ins Fallen kommt, in dem der Springer denkt, er kippt nach vorne. Diesen Moment des Kippens muss er nur wenige Zehntelsekunden hinauszögern. Plötzlich drückt eine unsichtbare Kraft von unten gegen den Ski. Der Springer ist hoch und schnell gleichzeitig. Er macht nicht viel anders als zuvor, hat aber eine völlig andere Sensation“, erklärt Innauer.

„Und dann wird man süchtig.“ Der Funke wird zum Flächenbrand.

Der Keil unter der Ferse bewirkt, dass man ständig das Gefühl hat nach vorne zu kippen. Ich stehe neben der Anlaufspur und warte. Gleich ist es soweit. Todesmutig werfen sich vor meinen Augen Sprunglaien von der Schanze.

Es ist der Traum vom Fliegen. Skispringer kommen ihm erstaunlich nahe. Der Zustand, auf einem Polster aus Luft über den Boden zu segeln, wird von den Spitzenspringern aller Generationen durch die Bank als der Grund genannt, den Sport auszuüben. „Wenn es dich einmal weglupft, kannst du eigentlich nicht mehr aufhören“, sagte Gregor Schlierenzauer – aktiver Springer und Rekordsieger von 53 Weltcupspringen – vor Jahren in einem Interview.

Die göttliche Hand

„Wie eine göttliche Hand, die dich hinten nimmt, runter führt und alles von selber geschehen lässt“, beschrieb ihn der ehemalige Schweizer Weltrekordhalter Walter Steiner in Werner Herzogs Dokumentarfilm „Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ in den 1970er-Jahren. „Das sind phantastische Erlebnisse.“

Im Rausch, die Schwerkraft zu überlisten, empfindet der Springer Überlegenheit. „Mir wurde plötzlich klar, dass ich diese faszinierende und gefährliche Sportart endlich beherrsche“, sagt Innauer. „Ich hatte sie virtuos unter Kontrolle. Mit dem Wissen, wieviel Angst man hatte, als man sie erlernte, ist das ein außergewöhnliches Identitätsgefühl.“

Das Hochgefühl steht also in direkter Verbindung mit einer anderen, negativen Emotion – der Angst. Sie spielt im Skisprung eine zentrale Rolle. Die Athleten werden von den Zusehern dafür bewundert, sie scheinbar zu überwinden. Mutig springen sie von monströsen Betontürmen in Schluchten.

Die Angst wird immer bleiben

Die Faszination des Sports lebt von diesem spektakulären Charakter. Für den Laien ist es unvorstellbar, selbst über eine Schanze zu springen. Er erschaudert bei dem Gedanken. Dem Springer geht es zunächst einmal genauso.

Vom sogenannten Zitterbalken ist der Aufsprung nicht zu sehen. Die zwei Keramikstreifen der Anlaufspur enden im Nichts. Der Sprung wird ins Leere gehen. Ein unangenehmes Gefühl. Ich spüre den Herzschlag im Genick. Kalter Schweiß befeuchtet das Innenfutter der Handschuhe. Die Atmung wird schnell, Schwindel setzt ein. Das Blut ist jetzt voller Adrenalin. Das Hormon soll reflexartig Schutzmechanismen auslösen.

Evolutionsgeschichtlich waren sie überlebenswichtig. Die Flucht vor dem Bären. Das panische Einschlagen auf den Kopf der Schlange. Doch hier ist weder Bär noch Schlange. Nur eine Schanze.

Denn am Anfang ist die Furcht. Jede Sprungkarriere beginnt mit ihr. Niemand steht zum ersten Mal auf einer Skisprungschanze und denkt nicht über die Konsequenzen nach. Der angehende Springer setzt sich dieser Furcht aus. Er nimmt sie in Kauf, versucht mit ihr umzugehen. Doch das ist gar nicht so einfach – schließlich ist sie die menschliche Reaktion auf Risiko.

In mühevollen Schritten trainiert der Springer also die Alarmglocken seines Körpers zu ignorieren. Er steigert die Größe der Schanze kontinuierlich, versucht den komplexen Bewegungsablauf des Absprungs zu automatisieren. Er stellt sich den Sprung immer wieder im Kopf vor, imaginiert ihn tausende Male. Doch die Angst bleibt. Im Idealfall wird sie kleiner. Aber verschwinden wird sie nie.

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Das Glücksgefühl, auf einem Polster aus Luft über den Boden zu schweben, wird von den Spitzenspringern als der Grund genannt, den Sport auszuüben. © Grega Valancic

„Aktive Skispringer würde niemals sagen, dass sie Angst haben. Sie umschreiben das Gefühl, sprechen von Respekt“, sagt Innauer. „Aus psychologischer Sicht haben aber alle Springer Angst, nur der Mut ist stärker. Mut heißt nicht frei von Angst zu sein.

„Dieses äußerst unangenehme Gefühl“

Mut heißt, sich von der Angst nicht diktieren zu lassen. Wie hoch die Anspannung beim Skispringen ist, merkt man erst, wenn man damit aufhört. Ich dachte immer, ich sei wahnsinnig locker, dabei waren alle Funktionen des Körpers und Denkens auf einem unwahrscheinlich hohen Erregungsniveau. Ich war hellwach. Als Springer hält man das für normal.“

Die vorgefertigte Keramikspur kostet am meisten Überwindung. Sie gibt den Weg vor. Lässt man den Balken einmal los, muss man ausbaden was kommt. Es ist nicht möglich, die Schanze kontemplativ im Pflug zu erfahren.

Diese Anspannung potenziert sich bei einer besonderen Variante des Skisprungs – dem Skiflug. Schneller, höher und vor allem weiter lautet hier die Devise. In einer Sportart, die sich über die gesprungene Weite definiert, gilt Skifliegen naturgemäß als Königsklasse. Flugschanzen sind Giganten. Wie überdimensionierte Kunstwerke stehen sie in der Landschaft herum.

Weltweit gibt es nur fünf dieser wahnwitzigen Bauten. Auf zwei davon – der Letalnica bratov Gorišek (Skiflugschanze der Gebrüder Gorišek) im slowenischen Planica und dem norwegischen Vikersundbakken – ist es derzeit theoretisch möglich, Weltrekord zu springen. Die Jagd nach dem weitesten jemals gestandenen Skisprung fesselt die Zuseher seit Sepp Bradl 1936 als erster Mensch die 100-Meter-Marke knackte.

Damals beschrieb der Norweger Sigmund Ruud die Schanze in Planica als „den größten Abgrund, in den je ein Mensch sich vorsätzlich gestürzt hat.“ 70 Jahre später hält der Norweger Anders Fannemel den Weltrekord mit unglaublichen 251,5 Metern.

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Die Heini-Klopfer-Skiflugschanze ragt über die Wipfeln des bayrischen Fichtenwaldes. © Tourismus Oberstdorf

Solche Distanzen ringen selbst abgebrühten Springern bange Worte ab. Der finnische Routinier und Seriensieger Janne Ahonen schilderte das Gefühl vor einem Skiflug in der Fernsehdokumentation „Die Überflieger“ folgendermaßen: „Dieses äußerst unangenehme Gefühl macht es zu einer Herausforderung. Der Grund, warum ich Skispringer geworden bin, ist hier am deutlichsten spürbar. Die Anspannung, die Unsicherheit, die Selbstüberwindung. All das verdichtet sich genau an diesem Ort. Im Anlaufturm in Planica blickt man anderen Springern nicht nach. Es sieht von oben viel zu extrem aus. Wenn man anfangen würde den anderen nachzublicken, könnte man vor lauter Angst nicht mehr springen.“

Freizeichen. Der Trainer schwingt den Arm nach unten. Ich soll also springen. Doch ich zögere. Irgendetwas sträubt sich dagegen, das jetzt zu tun. Ich schließe für eine Sekunde die Augen, atme durch – und stoße mich ab.

Auch Goldberger kennt die Angst. Am Bakken von Vikersund bewies er einmal den Mut, seine Skier vor laufenden Kameras zusammenzupacken und nicht zu springen. „Es war windig und ich fühlte mich nicht gut. Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl. In solchen Momenten sollte man nichts erzwingen“, sagt er.

Kein Wunder, die Angst ist berechtigt. Denn es liegt keinesfalls in der Natur des Menschen, seinen Körper mit 110 Stundenkilometern am Schanzentisch horizontal nach vorne zu werfen, um in acht Metern Höhe acht Sekunden lang über eine Distanz von zwei Fußballfelder zu schweben.

Extreme psychische Strapazen

Dabei gewinnt der Springer kontinuierlich an Geschwindigkeit. Mit 130 Stundenkilometer setzt er unter einem Landedruck von vier g auf – der vierfachen Erdbeschleunigung also. Wiegt ein Springer 60 Kilo, so wirken im Radius einer Flugschanze 240 Kilogramm auf seine Schultern.

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Mit 130 Stundenkilometer setzen Skiflieger unter einem Landedruck von vier g auf. © Vid Ponikvar

Beim Skifliegen ist der Körper extremen psychischen Strapazen ausgesetzt. Neurologen vergleichen sie mit Todesangst. Vor allem die enorme Geschwindigkeit setzt die Springer unter Druck.

Immerhin beschleunigen sie in der Anfahrt – ähnlich einem Formel-1-Auto – von null auf 100 Stundenkilometer in 2,5 Sekunden. Die optischen Reize können das Nervensystem überstrapazieren, wie eine Studie der Universität Innsbruck belegte.

Der Springer gelangt dann in den sogenannten katabolen Zustand – er kann die Belastung nicht mehr ausgleichen.

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Mit 110 Stundenkilometer in den Abgrund. © Joe Klamar

Der deutsche Weltmeister Martin Schmitt erklärte im Jahr 2001 gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass er nach drei Flügen an einem Tag "abends todmüde ins Bett falle".

Hinzu kommt ein zehn bis 20 Mal höherer Adrenalinspiegel sowie vermehrter Harndrang. "Diese Faktoren können bei den Athleten zu einer Gewichtsabnahme von bis zu zwei Kilo pro Tag führen", wie der Teamarzt des ÖSV, Jürgen Barthofer, erklärt.

Die Skier zischen in der Anlaufspur. Das Geräusch wird lauter und heller, je schneller man wird. Die Kante des Schanzentisches kommt unweigerlich näher. Als ich sie unter mir vermute, springe ich ab. Die unzähligen Simulationsübungen des Trockentrainings verpuffen. „Vom ganzen Fuß abspringen, die Arme ruhig halten, die Beine nach dem Absprung durchstrecken.“

Die Worte des Trainers verlieren auf der Schanze jegliche Bedeutung. Mehrere Anweisungen gleichzeitig zu befolgen ist eine koordinative Unmöglichkeit. Meine „Kraxen“ – wie der Trainer später sagen wird – gleicht eher einem zögerlichen Hüpfer als einem voll durchgestreckten ordentlichen Skisprung.

Der Furcht setzen Springer ungeheuerliches Vertrauen entgegen. Sie vertrauen auf ihre Fähigkeit, all die Unannehmlichkeiten, die das Skifliegen mit sich bringt, zu meistern. In seltenen Fällen geraten sie sogar in den „Flow“, dem unerschütterlichen Gefühl, dass alles stimmt, dass alles funktionieren wird. Nur im „Flow“ sind Seriensiege möglich.

Seriensiege im „Flow“

„Ein guter Sprung ist ein Gefühl. Es zu haben unterscheidet wahrscheinlich die allerbesten vom Rest“, sagt Innauer. „Sie sitzen oben und wissen bereits, wie sich der Sprung anfühlen wird. Der Körper ist dann nur Ausführender dieses geilen Gefühls, wenn man optimal wegspringt und mit perfektem Drehmoment in die Flugphase geht.“

Doch so schwer es ist in den „Flow“ zu gelangen, so leicht ist es, ihn wieder zu verlieren. Etwa durch Stürze. Sie sind das „Worst-Case-Szenario“ des Sprungsports. Schon leichte Windböen genügen, um das Flugsystem zu stören, die Skier abschmieren und die Körper wie Steine auf den Vorbau knallen zu lassen.

Genau das passierte am 18. März 1999 Waleri Kobelew in Planica. Der russische Skispringer überschlug sich mehrmals auf dem pickelharten Aufsprunghügel und musste im Auslauf reanimiert werden. Auch große Springer wie der Deutsche Jens Weißflog legten auf Flugschanzen erhebliche Bruchlandungen hin. Er stürzte 1983 im tschechischen Harrachov so schwer, dass er jahrelang auf Großschanzen in Panik geriet.

Das Spiel mit dem Grenzbereich

Solche Traumata können zu Karriereenden führen. Nach seinem schwerwiegenden Sturz vor drei Jahren am Kulm schaffte es Olympiasieger Thomas Morgenstern nicht mehr, angstfrei zu springen. Der Instinkt war stärker, seine Absprünge nicht mehr aggressiv genug, um mit der Weltspitze mithalten zu können. Es folgte der Rücktritt.

„Das ist wie beim Radfahren. Wenn man einmal in der Kurve wegrutscht, wird man sich das nächste Mal weniger weit in die Kurve legen. Man kennt den Grenzbereich, in dem ein Sturz passieren kann und weicht ihm instinktiv aus. Skispringen ist aber ein Spiel mit dem Grenzbereich. Die ersten zehn im Weltcup spielen es alle“, sagt Innauer.

Ich spüre keine Thermik unter mir, habe kein berauschendes Gefühl der Leichtigkeit. Wie ein angeschossenes Suppenhuhn setze ich nach wenigen Metern auf. Der Aufsprung hört sich trotzdem brutal an. Ein harter Schlag auf Eis.

Im Skispringen sind Psyche und Timing bedeutender als Kraft. „Das Wissen, dass ich es kann, ist das Allerwichtigste“, sagt Steiner in „Die Überflieger“. Ein Sturz erschüttert dieses Wissen ungemein. „Wenn es nicht mehr funktioniert, kannst du dir einreden, was du willst, es geht nicht mehr. Das ist das Elend beim Skispringen.“

Steiner wurde in den 1970er-Jahren regelrecht zu Stürzen gezwungen. In der Saison 1973 war er übermächtig. War der Anlauf für den Rest des Feldes am unteren Limit, sprang Steiner immer noch viel zu weit. Bei der Flugwoche im bayrischen Oberstdorf flog er zehn Meter über den damaligen Weltrekord und zerschellte regelrecht im Radius der Schanze. Noch im Auslauf spielte er mit dem Gedanken, nie wieder Ski zu springen, seine Karriere zu beenden.

Der perfekte Sprung

Als Steiner damals in Oberstdorf den Weltrekord befeuerte, beobachtete ihn der 14-jährige Innauer. „Gemeinsam mit einem Freund saß ich in einer Baumkrone neben der Schanze, um das Eintrittsgeld zu sparen“, sagt er. „Nur drei Jahre später sprang ich selbst hier und verbesserte zweimal den Weltrekord auf 174 und 176 Meter.“

Den ersten Weltrekordsprung musste Innauer „zerstören um ihn zu überleben“, wie er Jahre später in seiner Autobiografie schrieb. Hätte er den Sprung nicht abgebrochen, wäre er – den Berechnungen des Schweizer Wissenschaftlers Benno Nigg zufolge – erst bei 222 Meter gelandet und mit Sicherheit tödlich verunglückt.

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1973 befeuerte Walter Steiner in Oberstdorf den Weltrekord und zerschellte im Radius der Schanze. © Keystone

„Ich hob ab wie ein Raumschiff. Ich flog waagrecht vom Tisch ins Leere. Für einen Moment spürte ich die Schwerkraft nicht mehr. Ich fühlte eine Sekunde lang eine unendliche Befriedigung. Dann kriegte ich Angst. Es war ein Flug in eine andere Dimension. Ich kannte diese Dimension nicht.“

Meine Konzentration ist voll und ganz darauf gerichtet, nicht die Kontrolle über diese klobigen Skier zu verlieren. Sie holpern den Auslauf hinunter. Nur nicht überkreuzen. Plötzlich geben sie nach. Die Kompression im Radius drückt mich auf die Stützen der Sprungschuhe. Ich falle nach hinten, und rutsche in den Zielraum. Die Ski sind noch dran, der Kopf ist es auch.

Ich stehe auf, schnalle ab, und strecke die Arme jubilierend in die Höhe. Euphorie stellt sich ein. Jetzt bin ich tatsächlich Ski gesprungen. Der Gedanke bringt mich zum Strahlen. Doch das muss besser gehen. Ich schultere die Latten und stapfe den Hügel hinauf.

Der Sprung in den Radius der Schanze. Der Sprung weit über die Hill Size, am besten Schanzen- oder gar Weltrekord. Der perfekte Skisprung. Nach ihm lechzt das Publikum. Nach ihm lechzt der Springer.

Das Ende des Traums

Er giert nach diesem Gefühl der Leichtigkeit, nach dieser Euphorie, wenn er wie ein Falke über den Aufsprunghügel gleitet. Für diesen Moment stellt er sich der Furcht. Sie liegt wie ein verlockender Schatten über der uralten Sehnsucht der Menschheit – dem Traum vom Fliegen.

Skispringer träumen ihn lange. Nach dem Ende ihrer Karriere springen sie im Kopf weiter. „Es ist verblüffend, aber alle ehemaligen Skispringer haben die gleichen Träume. Wir träumen, dass wir auf Skier durch die Luft segeln. Aber irgendwann – wenn der Abstand zur aktiven Zeit größer wird – ändert sich das. Dann träumen wir, dass wir auf der Schanze sind, aber nicht mehr runter springen. Irgendein Umstand hindert uns immer daran“, sagt Innauer. „Es ist zum Verzweifeln.“

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