Avi sind viele: Sie leben mit einer dissoziativen Identitätsstörung und mehreren Innenpersonen, die nicht immer voneinander wissen. Wie schaut ihr Alltag aus? Wie funktionieren das Arbeitsleben und romantische Beziehungen?
„Im Moment sind wir mehr Corrin und Luna", sagen Avi, als sie in der Redaktion fürs erste Kennenlernen Platz nehmen. Am Vormittag waren sie schon einmal kurz ein Kind, „und dann waren wir Klämmerchen: Das ist eine Innenperson, die sich selbst mit einer Klammer beschreibt." Als welche Person sie in der Früh aufwachen, wissen sie am Vortag nie so genau, denn mehr als 35 Innenpersonen mit unterschiedlichen Namen leben in ihrem Körper. Avi ist nicht nur die Alltagsperson, sondern auch der Körpername: Er benennt das System, das aus besagten Innenpersonen besteht und von sich selbst in der Mehrzahl spricht. Zur besseren Lesbarkeit nennen wir sie Avi und Co.
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Avi und Co haben eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Vor drei Jahren, ihr Körper war damals 18, haben sie die Diagnose bekommen. Für einige Innenpersonen sei diese erleichternd gewesen, erzählen sie heute, „es gibt aber auch mehrere, die es noch immer nicht akzeptiert haben." Manche hätten es schon von klein auf gewusst, dass sie viele seien – andere erst mit der Diagnose erfahren.
„Die DIS ist Arbeitsteilung auf dem Weg durch die Hölle“
Die DIS sei eine der schwersten Traumafolgestörungen, bei der zwei oder mehrere Persönlichkeitszustände mit eigener Selbstwahrnehmung und Handlungsfähigkeit abwechselnd die Kontrolle über das Bewusstsein und Handeln übernehmen, sagt dazu die Psychotherapeutin Johanna Schwetz-Würth in einem etwas später geführten Gespräch mit der WZ. Die Innenpersonen haben unterschiedliche Erinnerungen. Sie können sich auch in Geschlecht, Alter oder Gestik unterscheiden. Manchen gehe es ganz gut damit, andere leiden furchtbar. „Die DIS ist Arbeitsteilung auf dem Weg durch die Hölle“, fasst Schwetz-Würth zusammen. Studien zufolge leben ein bis eineinhalb Prozent der Weltbevölkerung mit der Diagnose, die Dunkelziffer dürfte allerdings höher sein.
Auch Avi und Cos Innenpersonen sind unterschiedlich alt und unterschiedlichen Geschlechts – der vierjährige Farosh ist zum Beispiel genauso darunter wie ein älterer Mann. Einige Innenpersonen sind teilweise bis vollständig gelähmt (in Avi und Cos Zuhause gibt es daher einen Rollstuhl), während weitere gar nicht menschlich sind: Holly etwa ist ein Eichhörnchen.
Das Switchen ist nicht kontrollierbar
Welche Innenperson gerade zum Vorschein kommt, können sie nicht beeinflussen, sagen Avi und Co, während sie die Brille auf der Nase mit den vielen Sommersprossen zurechtrücken. Das sogenannte Switchen von einer zur nächsten Person sei nicht kontrollierbar. „Daher müssen wir einen ganz genauen Terminkalender führen, um nichts zu vergessen", sagen sie, „und es ist auch eine Orientierungshilfe, wenn wir Chatverläufe nachlesen." Die Rechtschreibung variiere zwischen Akademiker:innen- und Vorschulniveau. Erinnerungslücken gehören laut Avi und Co zur Tagesordnung. „Manchmal sind wir auf der Straße unterwegs und fragen uns: ,Sind wir gerade auf dem Weg zu irgendeinem Arzt?' Dann hilft es, in den Terminkalender zu schauen."
Einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, sei deshalb schwierig – aber nicht unmöglich. Avi und Co arbeiten in der Gastronomie, sie belegen und verzieren Brötchen. Da könne es schon einmal passieren, dass statt einer Zick-Zack-Linie ein Smiley auf dem einen oder anderen Brötchen erscheine, erzählen sie: „Aber bei den Innenkindern ist dann eigentlich immer irgendeine erwachsene Person im Hintergrund, die sich darum kümmern kann, dass das alles gut erledigt wird." Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, in das rote kurze Locken fallen.
Nur eine Innenperson ist in einer Beziehung – wie funktioniert das?
Avi und Co sind nicht allein zum Gespräch mit der WZ gekommen. Neben ihnen hat Gabriel Platz genommen. Seit drei Monaten ist er Lunas Freund. Beide tragen ein selbstgemachtes Armband, auf das kleine Steine mit dem Datum 1. August 2024 aufgefädelt sind: der Tag, seit dem sie offiziell zusammen sind. Sie sind beide in einem karierten Hemd gekommen und scheinen auch sonst perfekt zu harmonieren. Die anderen Innenpersonen tolerieren Gabriel, „finden ihn okay", wie er schmunzelnd sagt, oder sind sogar befreundet mit ihm. Der Umgang sei freundlich und respektvoll, und keine sei ihm gegenüber jemals aggressiv geworden.
Zuletzt habe ich mich einen Abend lang mit einem achtjährigen Kind unterhalten.Lunas Freund Gabriel
Es könne aber schon passieren, dass er sich für ein Date mit Luna treffen möchte, sie aber kein einziges Mal zu Gesicht bekommt. Mitunter mache er sogar ganz neue Bekanntschaften: „Zuletzt habe ich mich den ganzen Abend mit einem Kind unterhalten, das zirka acht Jahre alt war", erzählt Gabriel – nicht zu wissen, wer ihm bei Luna die Wohnungstür aufmacht, sei für ihn aber kein Problem.
Gabriel und Luna haben einander über die Sozialen Medien kennengelernt: Avi und Co betreiben seit dem Vorjahr einen Instagram- und einen TikTok-Kanal, in dem sie vor allem über die DIS aufklären wollen. „Um anderen Betroffenen und deren Angehörigen zu helfen“, sagen sie. Auf Instagram haben sie mehr als 16.000 Follower, auf TikTok sind es rund 44.000. Gabriel habe zuerst begonnen, die Kommentare unter Avi und Cos Postings zu moderieren, bis sie einander einmal persönlich trafen – und schließlich zusammenkamen. „Ich bin durch Zufall auf ihr Profil gestoßen, fand ihre Aufklärungsarbeit extrem wichtig und interessant und wollte sie daher unterstützen”, sagt er.
Unter zahlreichen positiven Kommentaren finden sich freilich auch Hasspostings, die von Vorwürfen, die Symptome nur vorzuspielen, bis hin zu Morddrohungen reichen. „Strafrechtlich relevante Kommentare bringen wir zur Anzeige", sagt Gabriel. Wie zuletzt etwa: „Die Göre würde ich im Winter mal für 3 Wochen nackt an einen Baum ketten. Mal sehen, (ob) sie danach immer noch ein Eichhörnchen ist.” Oder: „Ich identifiziere mich als Schrotflinte, die dir in die Fresse schießt.”
Schwere Traumata seit der Kindheit
Auch die Ursache der Identitätsstörung Avi und Cos ist immer wieder in den Sozialen Medien Thema: traumatische Erlebnisse seit der Kindheit, schwere psychische und körperliche Gewalt, Missbrauch unter anderem innerhalb der Familie, sagen sie im Gespräch. Psychotherapeutin Schwetz-Würth ergänzt: „Der dissoziativen Identitätsstörung liegen Traumata zugrunde, die so fürchterlich sind, so jenseits von allem, was man sich vorstellen kann, dass sich die Psyche teilt, um überleben zu können.“ Die Alltagspersonen hätten meist keine Erinnerung an die Traumata, während andere Teile im Trauma feststecken, diese permanent wieder erleben, als geschehen sie jetzt gerade. Ein Teil könne sich aber auch mit dem/der oder den Täter:innen identifizieren, „und ein Stück weit deren Job übernehmen – im Inneren“, sagt Schwetz-Würth.
Menschen mit einer DIS brauchen meist über viele Jahre Psychotherapie. Deren Ziel sei so individuell wie ihre Klient:innen selbst, sagt Schwetz-Würth – grundsätzlich gehe es immer darum, dass es den Menschen besser geht, dass sie ein selbstbestimmtes, möglichst leidfreies Leben führen können. Bei hochdissoziativen Menschen stehe im Fokus, „Herr:in im eigenen Haus zu werden und den Alltag und Beziehungen zu meistern, ohne sich oder anderen zu schaden“. Im Lauf der Therapie könne es sein, dass einzelne Innenpersonen fusionieren, aber den Wunsch, dass alle zu einer Person werden, habe Schwetz-Würth noch von keiner ihrer Klient:innen gehört, sagt sie.
Alle Innenpersonen zu fusionieren: Das wäre auch für Avi und Co schwierig, sagen sie. Es komme zwar immer wieder vor, dass einige verschmelzen und andere neu entstehen, etwa durch Retraumatisierung, manche seien aber von Beginn an präsenter – wie die Alltagsperson Avi. Dass diese aktuell immer seltener, Luna und Corrin dafür häufiger die Kontrolle übernehmen, sei ein Verlust. „Denn eine Fusion bedeutet ja immer auch, dass Identitäten verschwinden. Uns ist es wichtiger, die Kommunikation zwischen den Innenpersonen zu stärken und die Traumata aufzuarbeiten."
Wer trägt die Verantwortung?
Avi und Cos Innenpersonen kommunizieren aktuell noch zu wenig, sagen sie. Sie stimmen sich nicht ab und kommen auch nicht alle regelmäßig hervor. Aber: Wer trägt die Verantwortung? „Jeder", antworten Avi und Co. „Natürlich ist es blöd, wenn jemand von uns Mist baut und man dann die Verantwortung tragen muss oder halt die Konsequenzen ausbaden muss. Aber ich finde es auch nicht richtig, wenn man alles von sich weist und sagt: ,Ist ja nicht meine Schuld.' Wir finden Systemverantwortung wichtig." Und wer hat dann bei der Nationalratswahl gewählt? „Das war der, der gerade da war", antworten Avi und Co, „eine männliche Innenperson zwischen 19 und 21 Jahren: Kilian."
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Infos und Quellen
Genese
Als WZ-Redakteurin Petra Tempfer erfuhr, dass eines ihrer Familienmitglieder, Gabriel, nun mit Luna, einer Innenperson von Avi und Co, zusammen sei, trafen sie einander kurz darauf für ein Gespräch. Sie wollte Avi und Cos dissoziative Identitätsstörung und die Störung an sich näher beleuchten.
Gesprächspartner:innen
Bei Avi wurde mit 18 Jahren eine dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert. Das war vor drei Jahren; seit dem Vorjahr sind sie auf Instagram (@aviundco) und TikTok (@aviundco) aktiv.
Gabriel ist 24 Jahre alt und in einer Beziehung mit Avis Innenperson Luna.
Johanna Schwetz-Würth ist systemische Psychotherapeutin und Supervisorin in Wien.
Daten und Fakten
Die dissoziative Identitätsstörung ist durch eine Identitätsstörung gekennzeichnet, bei der zwei oder mehrere verschiedene Persönlichkeitszustände (dissoziative Identitäten) vorliegen, die mit deutlichen Unterbrechungen des Selbst- und Handlungsgefühls einhergehen. Jeder Persönlichkeitszustand beinhaltet ein eigenes Muster des Erlebens, der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Beziehung zu sich selbst, dem Körper und der Umwelt. Mindestens zwei verschiedene Persönlichkeitszustände übernehmen immer wieder die Kontrolle über das Bewusstsein und die Funktionsweise des Individuums in der Interaktion mit anderen oder mit der Umwelt (ICD-11, 6B64 dissoziative Identitätsstörung).
Bei der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) wird zwischen der programmierten und der reaktiven Form unterschieden. Die reaktive Form entsteht durch schwerste psychische und physische Gewalt ab einem sehr frühen Kleinkindalter ohne positive enge Bezugsperson, sagt Psychotherapeutin Johanna Schwetz-Würth zur WZ. „Alle sind täter:innenloyal oder Täter:innen." Bei der programmierten Form werde die Spaltung unter Folter gezielt herbeigeführt; zum Beispiel im Rahmen organisierter Kinderpornografie. Bei Avi und Co handelt es sich laut deren Aussage um die reaktive Form der DIS.
Quellen
Analysis of Demographic and Clinical Characteristics of Patients with Dissociative Identity Disorder
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