Zum Hauptinhalt springen

Ab wann ist Israelkritik antisemitisch?

9 Min
Alle Augen sind auf Israel gerichtet - oft auch die Finger, die verurteilen.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Die WZ hat Persönlichkeiten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen um eine Stellungnahme gebeten.


In den Sozialen Medien, in Klassenzimmern und in den Sitzungsräumen der UNO gehen nach dem Hamas-Angriff und der israelischen Reaktion darauf die Wogen hoch. Nicht nur in Österreich sehen sich Juden auf den Straßen einer steigenden Zahl an Übergriffen ausgesetzt, das Tragen einer Kippa wird zum Risiko. Versöhnung im Nahen Osten ist nicht in Sicht. Vor diesem Hintergrund steht die Frage im Raum, welche Form der Kritik an der Vorgangsweise eines Staates in einer demokratischen Gesellschaft möglich sein muss und ab welchem Punkt die Argumentation ins Antisemitische kippt. Wo ist die Grenze zu ziehen und ist das überhaupt möglich? Die WZ hat Persönlichkeiten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen um eine Stellungnahme gebeten:

Palästinensischer Botschafter in Wien, Salah Abdel Shafi

Ein Foto von Salah Abdel Shafi, dem palästinensischem Botschafter in Österreich.
© Fotocredit: Palästinensische Vertretung in Österreich

„Der Thematik der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Israelkritik liegt eine zentrale Frage zugrunde: Ist der Staat Israel völkerrechtlich ein Staat wie jeder andere und gelten daher für ihn auch die international manifestierten Grundregeln des Völkerrechts?

Diese Frage kann meines Erachtens selbstverständlich nur mit Ja beantwortet werden.

Konstruktive und berechtigte Kritik am Staat Israel zu üben, an seinem System, seinem Demokratieverständnis, an politischen Strömungen (so auch der zionistischen), an Parteien, Politiker:innen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sollte ebenso selbstverständlich möglich sein, wie man auch andere Länder kritisieren kann und darf. Sachliche Kritik am Staat Israel sollte – nicht zuletzt auch im Sinn der Meinungsfreiheit – möglich sein, ohne sofort als antisemitisch diffamiert zu werden.

Und: Wenn jegliche Kritik an Israel als antisemitisch gebrandmarkt wird, so werden in der öffentlichen Wahrnehmung Israel und das gesamte jüdische Volk in einen Topf geworfen. Viele Jüdinnen und Juden jedoch – nicht nur weltweit, sondern auch in Israel selbst – kritisieren Israel für seine Politik und zeigen sich solidarisch mit dem palästinensischen Volk.

Strikt als antisemitisch abzulehnen ist hingegen jene Kritik, die aufgrund religiöser und/oder kultureller Zugehörigkeit zum Judentum erfolgt, ebenso wie haltlose Unterstellungen und Verschwörungstheorien nichts in einer sachlichen Kritik am Staat Israel verloren haben.“

Sandra Kreisler, Kabarettistin

Ein Foto von Schauspielerin und Kabarettistin Sandra Kreisler.
© Fotocredit: Franz Gruber / KURIER / picturedesk.com

„Natürlich ist das Erste immer der berühmte 3-D-Test des Politikers und Dissidenten Nathan Sharansky: Misst man mit doppelten Standards, ist die Kritik delegitimierend oder dämonisierend?

Wer bei Israel Dinge kritisiert, die er so bei keinem anderen Land kritisieren würde; wer es ohne Probleme als legitim ansieht, dass eine Gruppe von Menschen schlicht vollkommen verweigert, Juden als Nachbarn zu ertragen – der ist ein ganz guter Kandidat für den Antisemitismusvorwurf. Ich denke, es beginnt damit, dass man sich fragen sollte, ob die Kritik häufiger, lauter und/oder emotioneller vorgetragen wird als jede andere Kritik an jedem anderen Land – sogar mehr als an tatsächlichen Schurkenstaaten wie beispielsweise China, Belarus, Nordkorea, Syrien, Libyen, der Türkei, dem Iran und, und, und.

Nicht nur die Häufigkeit, auch die Emotionalität der Vorwürfe ist ein guter Gradmesser, denn wenn ein Konflikt in 70 Jahren insgesamt weniger Tote hervorbrachte als in Indien in einem Jahr im Autoverkehr sterben, und man sich aber aufregt, als sei der Dritte Weltkrieg nah, dann ist nur selten Menschenliebe der Grund für die Kritik.

Man kann allerdings auch sehr gut antisemitische Dinge sagen, aber nicht Antisemit sein!

Viel hängt auch mit der überwiegend einseitigen und mangelhaften medialen Berichterstattung zusammen, mit häufig subtil antisemitischer Wortwahl (beispielsweise, wenn der Austausch von gekidnappten und brutalisierten Zivilpersonen mit verurteilten Gewalttätern als „Geiselaustausch“ bezeichnet wird, wie gerade sehr häufig zu lesen und zu hören.)

Das schafft ein Bild, das antisemitisch ist.

Wer sich nicht umfassend informiert hat, neigt dazu, einseitig Schuld zuzuweisen. Wenn dieser Mensch aber dann empört ist, wenn man ihn mit Fakten auf seine Einseitigkeit hinweist, wenn er einen persönlich beschimpft, weil man ihn darauf hinweist, dass man eine Meinung zuerst mit Wissen untermauern sollte – dann kann man recht sicher sein, dass dieser Mensch einfach Israel lieber kritisiert als seine Gegner – oder als sonst irgendwelche Geschehnisse in der Welt.

Und das ist antisemitisch.“

Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdisches Museums

Ein Foto von Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums.
© Fotocredit: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com

„Wo Israelkritik aufhört und Antisemitismus beginnt, ist keine Frage der persönlichen Meinung. Kritik an der israelischen Politik innerhalb wie außerhalb Israels ist Teil eines demokratischen Diskurses. Dieser wird verlassen, wenn doppelte Standards angelegt werden, die israelische Politik also mit einem anderen moralischen Maß gemessen wird als die Politik anderer Länder, oder wenn Israel überhaupt die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Denn dahinter liegen ebenso wie hinter der Verantwortlichmachung aller Jüdinnen und Juden der Welt für die Politik Israels antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien.“

Der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Ümit Vural

Ein Foto von IGGÖ-Präsident Ümit Vural.
© Fotocredit: HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com

„Legitime Kritik an Israel bezieht sich wie bei der Kritik an jedem anderen Staat auf eine rein objektive Bewertung konkreter politischer Handlungen seiner Regierung und endet jedenfalls dort, wo dem Staat Israel sein Existenzrecht abgesprochen wird und judenfeindliche Ressentiments geschürt werden, indem Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt pauschal für seine Politik verantwortlich gemacht und verurteilt werden.

Antisemitische Äußerungen und Handlungen sind als solche klar zu benennen und zu verurteilen. Menschenfeindlichkeit jeglicher Art ist immer und strikt abzulehnen, denn sie untergräbt das friedliche Zusammenleben, das wir alle anstreben. Wir alle sind dazu aufgerufen, unsere Ansichten mit Bedacht zu äußern und sicherzustellen, dass unser gesellschaftspolitischer Diskurs stets von gegenseitigem Respekt geprägt ist.“

Theologie-Professor an der Universität Wien, Martin Jäggle

Religionspädagoge Martin Jäggle bei einem Lehrgang.
© Fotocredit: HERBERT P. OCZERET / APA / picturedesk.com

„Demokratien brauchen Kritik - von innen und außen, Kritik ist ihr Lebenselixier. Wer sie ihr vorenthält, reduziert ihre Lebendigkeit. Das gilt natürlich auch für den Staat Israel. Die Formulierungen legitime Kritik, erlaubte Kritik etc. sind für mich problematisch. Wer legitimiert Kritik? Wer erlaubt Kritik?

Es gibt eigentlich nur eine Frage: Wann ist Israelkritik antisemitisch?

Unter Freunden und Wohlgesinnten ist viel sagbar - und wichtig, dass es auch gesagt wird. Anders bei jenen, die etwa Israel ablehnen oder gar feindlich gesinnt sind. Hier fängt das Problem schon zwischen den Zeilen an, der Ton macht die Musik, oder wenn jede Form der grundsätzlichen Anerkennung fehlt. Dann kann es auf jedes Wort ankommen. Die Richtschnur sind die drei D:

  • wenn der israelische Staat delegitimiert wird,

  • wenn er dämonisiert wird,

  • wenn doppelte Standards angelegt werden. Wenn der Staat Israel also höhere Standards erfüllen muss als andere Staaten.

Der konkrete Einzelfall der Kritik mag in eine Grauzone fallen, dann kann er in der Grauzone bleiben, aber letztlich zählt: Ist die schriftliche oder mündliche Äußerung gegen den Staat Israel oder an den Staat Israel gerichtet.“

Andreas Kranebitter, Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands

Andreas Kranebitter (Dokumentationsarchiv des oesterreichischen Widerstandes) bei Pressegespräch.
© Fotocredit: Michael Indra / SEPA.Media / picturedesk.com

"Die Grenze zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus ist nicht feststehend, es gibt, auch wenn der Wunsch danach verständlich ist, kein analytisch klares „bis dahin“ und „ab da“, gerade in einem Land mit der Geschichte Österreichs. Das Problem beginnt beim Wort „Israelkritik“, wie verschiedentlich schon festgestellt wurde – kaum jemand würde Kritik an Macrons Politik als „Frankreichkritik“ oder an Xi Jinpings Politik als „Chinakritik“ labeln.

Das Wort „Israelkritik“ zeigt aber ein zentrales Problem auf: Die „Kritik“ ist meistens viel zu unkonkret, um als konkrete politische Kritik bezeichnet werden zu können, die natürlich immer berechtigt ist oder sein sollte. Bei der Frage nach der Grenze geht es aber so gut wie nie um den Text, sondern um den Subtext und Kontext des Textes; der ist historisch und kulturell immer ein anderer, die vermeintlich gleiche Aussage ist in Österreich anders zu verstehen und wird in Österreich anders verstanden als in Israel oder den USA. Um es aber noch ein bisschen zu verkomplizieren, würde ich sagen, dass die Grenze gar nicht ziehbar ist, denn legitime Kritik ist – platt formuliert – konkret, bewusst und rational, Antisemitismus ja gerade umgekehrt: diffus, (meist) unbewusst und irrational.

Da sich unberechtigte Kritik nicht als unberechtigt, sondern als berechtigte Kritik ausgibt, also absichtlich mit Codes arbeitet oder unbewussten Ballast mit sich trägt, ist die Feststellung ihrer Berechtigung, ihre Decodierung oder Analyse auch keine einfache und eindeutige Übung – aber umso wichtiger."


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

Die WZ-Redakteure Edwin Baumgartner und Michael Schmölzer sind seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel, permanent und intensiv mit der Nahost-Problematik befasst. Nachdem sie Friedensperspektiven ausgelotet haben, schien es an der Zeit, den zentralen Begriff Antisemitismus umreissen zu lassen: von Menschen, die sich lange damit befassen und die täglich mit der Problematik konfrontiert sind. Manche haben auf unsere Anfrage nach Stellungnahme rasch geantwortet, aber viele wollten kein Statement abgeben. Ein weiteres Indiz dafür, wie kontrovers die Frage ist.

Daten und Fakten

  • Salah Abdel Shafi, palästinensischer Botschafter in Wien:

Salah Abdel Shafi wurde 1962 in Gaza geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Bis 2006 war er bei verschiedenen zivilgesellschaftlichen und internationalen Organisationen in Palästina (hierbei insbesondere in Gaza) tätig. Von 2006 bis 2010 war er PLO-Vertreter und Generaldelegierter Palästinas in Stockholm, Schweden. Von 2010 bis 2013 war er palästinensischer Botschafter und Leiter der Diplomatischen Mission Palästinas in Deutschland. Seit September 2013 ist Abdel Shafi palästinensischer Botschafter in Österreich

  • Sandra Kreisler, Kabarettistin:

Sandra Kreisler ist die Tochter des Komponisten, Sängers und Dichters Georg Kreisler. Sie spielte in zahlreichen Filmen und TV-Serien in den USA, in England, Italien, Deutschland und Österreich. Daneben ist sie u. a. im Theater in der Josefstadt und der Gruppe 80 aufgetreten.

  • Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums Wien:

Barbara Staudinger studierte Geschichte, Theaterwissenschaft und Judaistik an der Uni Wien. Von September 2018 bis April 2022 war sie die Direktorin des Jüdischen Museum Augsburg Schwaben. Anfang September 2021 wurde sie von der von der Wien Holding dazu eingesetzten Jury als Nachfolgerin von Danielle Spera zur Leiterin des Wiener Jüdischen Museums ab Juli 2022 bestellt.

  • Ümit Vural, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich:

Geboren am 1. Jänner 1982 in Anatolien, Türkei, reiste Ümit Vural im Alter von sechs Jahren mit seiner Mutter und seinen beiden jüngeren Geschwistern nach Österreich. Sein Vater war bereits zehn Jahre zuvor, im Jahr 1978, als Gastarbeiter nach Österreich gekommen. Seit 2009 ist er in einer Wiener Rechtsanwaltskanzlei beschäftigt. Dieser Tage wurde er in seiner Funktion als Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich bestätigt.

  • Martin Jäggle, Theologie-Professor an der Universität Wien:

Von 1. September 2003 bis zu seiner Emeritierung im September 2013 war Jäggle Universitätsprofessor für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Von 1. Jänner 2008 bis September 2012 war er zugleich auch Deakn der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien.

  • Andreas Kranebitter, Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW):

Andreas Kranebitter leitete bis 2020 die Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Seit 2020 ist er geschäftsführender Leiter des Archivs für die Geschichte der Soziologie an der Universität Graz. Weiters ist er Gastprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien. Seit 1. April 2023 ist er wissenschaftlicher Leiter des DÖW.

Quellen

Christian Heilbronn, Doron Rabinovici, Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Suhrkamp

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien