Krankenkassen sehen Fettleibigkeit oft als Lifestyle-Problem und haben kaum Angebote für Betroffene. Tatsächlich ist Adipositas eine chronische Erkrankung.
Barbara Andersen begann ihre erste Diät bereits mit 13. Damals waren gerade die Weight Watchers modern, aber sie versuchte ziemlich jede Crash-Diät, von der sie hörte oder las. Zehn Jahre nahm sie ab – und wieder zu. „Ich habe mehrmals 25 bis 35 Kilo abgenommen. Und dann bin ich wieder in die alten Verhaltensweisen zurückgefallen, denn irgendetwas hat mich wieder aus der Bahn geworfen“, sagt sie zur WZ. Dazu brauchte es nicht viel. Barbara isst gern, genießt gern. Schon seit ihrer Kindheit ist Essen positiv besetzt, denn nach der Arbeit und der Schule fand sich die Familie zum gemeinsamen Abendessen ein, erzählt sie. Ab einem Gewicht von 115 Kilogramm schmerzen ihre Beine. So kann und will sie nicht weitermachen: Mit 34 entschließt sie sich zu einer Magenverkleinerung.
Heute ist Andersen Klinische- und Gesundheitspsychologin und vertritt als Delegierte der europäischen Organisation EASO-ECPO Menschen mit Adipositas in Österreich. Bezahlt hat sie ihre Diäten vor der Magenverkleinerung und die begleitende Psychotherapie aus eigener Tasche. Und auch heute noch, so erzählt die 55-Jährige, muss sie ihre Vitamine selbst bezahlen. Nahrungsmittelergänzungen werden nicht von den Gesundheitskassen erstattet. „Man kann nach der OP nur kleine Mengen Nahrung zu sich nehmen. Warum? Mir wurde der Magen verkleinert und das erste Stück des Dünndarms umgangen. Letzteres beeinträchtigt die Vitaminaufnahme aus dem Essen enorm, ein Mangel ist vorprogrammiert“, klärt Andersen auf.
OP als letzter Schritt in der Behandlung
Nicht jeder kann rund 40 Euro im Monat aus eigener Tasche aufbringen. Vor dem gleichen Problem stehen Adipositas-Erkrankte, die vor einer OP alternative medizinische Behandlungen probieren wollen und sollen. Denn die Operation sollte eigentlich der letzte Schritt sein und nicht der einzig mögliche. „Ich habe immer wieder Klient:innen, die sagen, sie können sich rund 200 Euro im Monat für Medikamente nicht leisten. Und ich sehe aber, dass gute Voraussetzungen für eine medikamentöse Behandlung vorhanden sind.“ Was in diesem Fall bleibt: eine OP, die finanziert wird.
Barbara Andersen war eine von den 15 Prozent der an Adipositas erkrankten Frauen in Österreich. Gemäß der Statistik Austria sind 17,9 Prozent der Männer betroffen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich die Zahl der Betroffenen weltweit seit den 1970er- Jahren verdreifacht. Die WHO definiert Übergewicht ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 als chronische Erkrankung und weist ihr den international anerkannten Klassifizierungscode ICD-10-CM Code E66 zu. Ein Lifestyle-Problem? Mitnichten, sofern man der WHO glauben kann.
Adipositas gilt als Ursache für mehr als 13 Krebsarten
Die Entstehung von Übergewicht ist ein komplexer Prozess, an dem viele Faktoren beteiligt sind. Der Rat „iss‘ weniger und beweg‘ dich mehr“ ist also nicht hilfreich. Und vor allem: Ist das Übergewicht einmal da, setzt der Körper alles daran, es zu halten. Reduziert man die Kalorienaufnahme, können Heißhungerattacken einsetzen, oder der Körper geht in den sogenannten Sparmodus und man verliert trotz weniger Essen keinen einzigen Kilo. Der Frust wächst und mit ihm wieder der Heißhunger. Der Kampf gegen das Übergewicht wird zu einer echten Herausforderung. Medikamentöse Unterstützung kann dabei und gleichzeitig gegen Begleiterkrankungen wie Diabetes Typ 2, Bluthochdruck, Depressionen, Fettstoffwechselprobleme oder Herzinfarkt helfen. So gilt Adipositas etwa als Ursache für mindestens 13 unterschiedliche Krebsarten und ist wahrscheinlich direkt verantwortlich für mindestens 200.000 neue Krebsfälle pro Jahr. Interessant: Die Medikamente für diese Erkrankungen werden dann sehr wohl von den Krankenkassen übernommen.
Fast so, wie wenn man jemandem mit einem Tumor die Chemotherapie verweigert.Yvonne Winhofer
„Es ist fast so, wie wenn man jemandem mit einem Tumor die Chemotherapie verweigert“, sagt Yvonne Winhofer, Fachärztin für Innere Medizin/Endokrinologie und Stoffwechsel sowie Oberärztin am Wiener AKH. „Wobei, das ist gar kein Vorwurf, denn die Krankenkassen haben ihre Vorschriften und vielleicht fürchten sie sich vor einem wahnsinnigen Anstieg der Kosten“, so Winhofer. Immerhin gibt es die sogenannten Abnehmspritzen, die einen richtigen Hype auslösten. Allerdings auch unter Normalgewichtigen, die nur ein paar Kilos aus ästhetischen Gründen abnehmen wollen: wie etwa Kim Kim Kardashian, die sich für eine Gala mithilfe der Abnehmspritzen in ein Marilyn-Monroe-Kleid hungerte.
„Es wäre mein Wunsch, dass wir mit den Sozialversicherungen zusammenarbeiten, um eine Strategie zu erstellen. Um gezielt einen niederschwelligen Zugang zu schaffen und regelmäßig zu monitoren, ob die Therapien effektiv sind, ob abgenommen wurde“, wünscht sich die Ärztin. Andernfalls könnte man nämlich umgehend auf eine andere Therapie umstellen. Das Monitoring empfindet sie nicht als Schikane gegenüber den Patient:innen, sondern: „Diese Medikamente sind teuer und da braucht es einen Nachweis, dass sie auch eingenommen werden.“ „Wenn man nicht alle Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen macht, hat das auch Auswirkungen auf das Kinderbetreuungsgeld.“ Denn das primäre Ziel sollte bei Adipositas die Gewichtsabnahme sein, damit die Begleiterkrankungen gar nicht erst entstehen.
Der Wunsch: Multiprofessionelles Behandlungsangebot auf Kasse
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) hat auf Anfrage der WZ mit folgendem Statement geantwortet: „[…] Seitens der ÖGK bestehen im Bereich der Prävention zahlreiche Bewegungsangebote – hier sei gerade in den Sommermonaten auf die Aktion ,Bewegt im Park‘ hingewiesen. Da werden in vielen österreichischen Parks über den ganzen Sommer bundesweit kostenfreie Sportkurse angeboten. […] So lernt man unter Umständen den Sport kennen, der einem persönlich liegt und einen begeistert. Auch werden seitens der ÖGK diätologische Beratung und Kurse (Abnehmen für Erwachsene) angeboten. Diese haben das Ziel, dass interessierte Personen durch Wissen über gesunde Ernährung vermeiden, adipös zu werden bzw. eine bereits bestehende Adipositas in den Griff zu bekommen. Oft geht es auch in der Ernährung um das ,Wie-viel‘ und auch das Bewusstsein, dass vor allem Obst und Gemüse essentielle Bestandteile der gesunden Ernährung sind.“
Welche Maßnahmen wären neben Sport und Diätberatung der ÖGK denn noch notwendig? „Also für mich wäre es sehr wichtig, dass Adipositas in Österreich als Krankheit deklariert wird, um den Betroffenen eine individuelle Therapie zukommen lassen zu können. Am besten in einem spezialisierten Zentrum, wo Menschen arbeiten, die Erfahrung in der Behandlung haben und es einen Zugang für alle gibt“, sagt Ärztin Winhofer. Die Psychologin und Betroffene Andersen ist der gleichen Meinung: „Da wäre also als erstes ein niederschwelliges, multiprofessionelles Behandlungsangebot, wo viel Aufklärungsarbeit geleistet wird, wo man sich genau anschaut, was braucht der/die Patient: in: ärztliche, mehr psychologische oder diätologische Begleitung? Braucht der Betroffene alle drei? Manchmal wäre auch ein Sozialarbeiter notwendig, weil oft finanzielle Schwierigkeiten bestehen, viele keinen Job oder Lehrberufe finden aufgrund ihres Gewichts. Das ist das Eine und das Andere ist, dass dieses Angebot auch finanziert wird.“
Anlaufstellen
Österreichische Adipositasgesellschaft (ÖAG)
Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ)
Österreichische Gesellschaft für Adipositas- und metabolische Chirurgie (ÖGAMC)