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Ärzte in Gaza: „Es gibt jeden Tag nur schlechte Nachrichten

8 Min
Medizinisches Personal in Gaza: „Wir arbeiten unter Raketen- und Bombenangriffen, aber solange wir noch die Menschen versorgen können, bleiben wir da. Aber die Zeit rennt uns davon.“
© Illustration: WZ, Fotocredit: Fatima Shbair, / AP / picturedesk.com, Efrem Lukatsky / AP / picturedesk.com, Mohammed Talatene / dpa / picturedesk.com, IBRAHEEM ABU MUSTAFA / REUTERS / picturedesk.com

Seit über zwei Monaten blockiert Israel Hilfslieferungen nach Gaza, es fehlt an Medikamenten, Nahrung und Treibstoff. Wie arbeitet medizinisches Personal unter diesen Bedingungen?


„Erst heute gab es einen Luftangriff auf eines unserer Gesundheitszentren in Gaza Stadt, mit dutzenden Verletzten und Getöteten. Es fehlt an allem: An Medikamenten, an Treibstoff und vor allem an Nahrung – wir müssen alles rationieren, auf der Kinderstation im Nasser-Spital können wir nicht einmal mehr eine Mahlzeit pro Tag für die Kinder zur Verfügung stellen, wir sind ständig auf der Suche nach Alternativen“, erzählt Franz Luef, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen am Telefon. Er befindet sich momentan im Süden des Gazastreifens, wo er und sein Team humanitäre Hilfe leisten, unter anderem im Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis.

„Wenn man über Gaza spricht, ist die Rede von humanitärem Abgrund, von der Hölle – all das greift zu kurz. Mir fehlen einfach nur mehr die Worte, um das zu beschreiben, was hier vor sich geht“, so der Österreicher, der seit über 20 Jahren für Ärzte Ohne Grenzen im Einsatz ist. „Die Situation war schon die letzten 15 Monate über katastrophal, aber jetzt seit der Blockade sind wir echt verzweifelt. Wir arbeiten unter Raketen- und Bombenangriffen, aber solange wir noch die Menschen versorgen können, bleiben wir da. Aber die Zeit rennt uns davon“, so Luef.

Solange wir noch die Menschen versorgen können, bleiben wir da.
Franz Luef, Ärzte Ohne Grenzen in Gaza

Die Doppelbelastung

Seit dem 2. März blockiert die israelische Regierung jegliche Hilfslieferungen in den Gazastreifen – die Blockade dauert schon über zwei Monate an. Fast 70 Prozent des Gazastreifens gelten laut der UN-Organisation OCHA inzwischen als Sperr- oder Evakuierungszonen – dort darf man sich also kaum noch frei bewegen. Seit Oktober 2023 sind laut der palästinensischen Gesundheitsbehörde mehr als 50.000 Menschen durch israelische Angriffe im Gazastreifen getötet worden. Die UN-Welternährungsorganisation (WFP) erklärte Ende April 2025, dass die Bevölkerung im Norden Gazas akut von Hungersnot betroffen ist. Israels Verteidigungsminister hat die Armee angewiesen, weitere Gebiete im Gazastreifen „permanent“ zu besetzen, sollten die Geiseln, die die Hamas bei dem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 gefangen genommen hat, nicht freikommen. Die israelische Regierung begründet die Blockade damit, dass die Hamas Hilfslieferungen abfange, um sie für militärische Zwecke zu nutzen oder auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Bei dem jüngsten Angriff auf eine Klinik im Gazastreifen am 13. Mai sind drei Menschen getötet worden. Israels Armee sagt, sie habe „gezielt wichtige Hamas-Terroristen“ angegriffen, die in einem Kommando- und Kontrollzentrum im Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis aktiv gewesen seien. Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa sprach dagegen von einem „gezielten Angriff“ auf den palästinensischen Journalisten Hassan Eslaiah, der in der Klinik behandelt worden sei. Die Angaben beider Seiten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

„Explosionen und Schüsse sind allgegenwärtig“

Auf dem immer kleiner werdenden Gebiet im Gazastreifen, das noch zugänglich ist, wird das Leid der Bevölkerung immer größer. Auch jene, die seit Monaten unermüdlich Hilfe leisten, sind längst am Rande ihrer Kapazitäten. Für palästinensische Einsatzkräfte ist das eine Doppelbelastung: Sie verlieren Familienmitglieder, ihre Häuser werden zerbombt – sie versuchen, sich gegenseitig aufzumuntern, wohl wissend, dass es morgen den nächsten treffen könnte.

„Explosionen und Schüsse sind allgegenwärtig – oft rennen wir in die ausgewiesenen Sicherheitsbereiche, manchmal bebt der Boden – das sind keine Bedingungen, um Leben zu retten. Wir sind extrem erschöpft. Niemand in Gaza weiß, ob er den morgigen Tag noch erleben wird. Die Situation für unsere Mitarbeiter:innen wird immer gefährlicher – vor allem seit der Blockade aller Hilfslieferungen seit März. Viele Familien, darunter auch aus unseren Teams, haben Eltern, Geschwister, oder andere Verwandte verloren, wir haben Kolleg:innen verloren, es gibt eigentlich nur mehr schlechte Nachrichten, und das jeden Tag“, erzählt Hisham Mhanna, Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuzes (IKRK). Er ist in Gaza stationiert und seit sechs Jahren für das IKRK tätig.

„Unser Feldspital in Rafah ist jetzt seit über einem Jahr im Notbetrieb, unsere Arbeit wird oft durch die Angriffe unterbrochen. Unsere Teams sind gezwungen, Vorräte an medizinischen Hilfsgütern und Medikamenten neu zu priorisieren, damit sie länger damit auskommen“, so Mhanna. „Es ist extrem schwer geworden, an Nahrung zu kommen – die Preise von dem, das noch da ist, sind immens hoch – die Inflationsrate beträgt teilweise über 1000 Prozent.“

Niemand in Gaza weiß, ob er den morgigen Tag noch erleben wird.
Hisham Mhanna, IKRK

„Wenn es neue Evakuierungsbefehle gibt, wissen die Menschen in Gaza schon: Jetzt wird ihnen nochmal der Rest an Würde und Besitz, den sie haben, weggenommen”, erzählt Mhanna. Nichts, das der 35-Jährige in Gaza im Zuge des Nahostkonflikts erlebt hat, war so schlimm, wie die momentane Lage.

Mhannas Alltag besteht eigentlich nur aus zwei Dingen: Arbeit und Überleben, eine Alternative gibt es nicht. „Essen, Wasser, Bargeld, Benzin besorgen – ich habe genau dieselben täglichen Herausforderungen, wie alle Zivilist:innen in Gaza. Aber: Die internationale Staatengemeinschaft kann nicht länger von uns verlangen, dass wir diesen Überlebenskampf aushalten“, so Mhanna.

„Ich arbeite sieben Tage die Woche“

„Ich arbeite eigentlich sieben Tage die Woche, an die zwölf Stunden pro Tag, ich weiß nicht mal mehr, seit wann – manchmal schlafe ich auch einfach im Spital“, erzählt Said Salah, medizinischer Direktor des Patients’ Friends Benevolent Society Hospital in Gaza Stadt. „Wir arbeiten unter Beschuss, unter Druck, unser Gesundheitssystem ist de facto schon kollabiert – die Krankenhäuser, oder das, was von ihnen noch übrig ist, sind überfüllt. Aber wir müssen weitermachen, es bleibt nichts anderes übrig“, erzählt der Palästinenser uns am Telefon. „Es fehlt an allem“, berichtet auch er. „Sauerstoffmasken, Brutkästen für Neugeborene, Strom, Nahrung – all das wird jeden Tag weniger“, so Salah. „Ich komme eigentlich zu nichts anderem mehr, ich muss meine eigenen Bedürfnisse runterschrauben, es gilt erstmal, den anderen zu helfen – das ist ganz klar“, so der Arzt.

Das humanitäre Völkerrecht

„Mein Tag beginnt meistens um 5:30 Uhr, ich schaue erstmal, wie die Nacht verlaufen ist: Wo gab es Angriffe? Wo werden wir gebraucht?“, erzählt Franz Luef, als wir ihn zu seinem Alltag in Gaza fragen. Den Großteil seiner Zeit wendet er dafür auf, sich um die Sicherheit seiner Patient:innen und Mitarbeiter:innen zu kümmern. Und für Koordination: „Wer kann uns was leihen, was können wir tauschen, wie können unsere Einrichtungen für die knapp bemessenen Treibstoffausgabe berücksichtigt werden?“ Man sichert sich derzeit mit temporären Strukturen wie Feldspitälern ab.

Ärzte Ohne Grenzen musste aber in den letzten Wochen seine Aktivitäten einschränken, es gibt weniger Bewegung von und in die Krankenhäuser – die ohnehin extrem unsichere Lage wird mit jedem Tag noch unsicherer. „Trotz allem“, so Luef, „trotz der Tatsache, dass das internationale Völkerrecht in den letzten Monaten hier sehr oft verletzt und missachtet wurde, ist die Hoffnung da, dass für unsere Mitarbeitenden und Patient:innen irgendeine Art von Sicherheit gewährleistet werden kann.“

Aber, so Luef: „Es wird der Moment kommen, wo ein Umdenken und ein Aufschrei zu spät sein werden, wir werden uns alle fragen, wie wir das zulassen konnten – dass eine gesamte Bevölkerung einer kollektiven Bestrafung ausgesetzt wird, dass humanitäre Hilfe blockiert wird. Jene, die sich diesem Völkerrecht verschrieben haben – auch Österreich – und noch daran glauben, bitte ich, hier Einfluss zu nehmen.“

Was sagt Österreich?

Kürzlich kritisierte der österreichische Ex-Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ) Israels Vorgehen im Gazastreifen. „Israel hat nicht die Grenze (...) einfach beiseitezuschieben und zu versuchen, hunderttausende Menschen zur Flucht zu zwingen, nachdem schon zwischen 40.000 und 50.000 Menschen getötet wurden.“ Das Außenministerium verweist auf WZ-Anfrage auf das Statement von Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (Neos):

„Ich teile die Sorge über die israelischen Pläne einer dauerhaften Besatzung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Teilen Gazas. Israel ist in seinem Kampf gegen die Terrororganisation Hamas an das Völkerrecht gebunden. Wir werden unsere guten Kontakte zu Israel nutzen und alle Seiten auffordern, das Völkerrecht einzuhalten. Aus unserer Sicht ist die Rückkehr zu Verhandlungen mit dem Ziel eines Waffenstillstands alternativlos – auch um endlich die verbleibenden Geiseln zu befreien. Ich habe mit dem israelischen Außenminister schon in meinem ersten Telefonat auf die Einhaltung des Völkerrechts gepocht und werde in den nächsten Tagen erneut mit ihm telefonieren.“

Klar ist: Hisham Mhanna, Said Salah, Franz Luef und unzählige andere bleiben im Einsatz – eine Alternative gibt es nicht. Aber: Wenn medizinische Hilfe systematisch verhindert wird, steht nicht nur das Leben einzelner Menschen, sondern auch das Fundament der internationalen Rechtsordnung auf dem Spiel.


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Infos und Quellen

Genese

Die humanitäre Lage in Gaza steht vor dem Kollaps – seit über zwei Monaten geraten aufgrund der Blockade Israels keine Hilfslieferungen mehr in den Gazastreifen. Wie arbeitet medizinisches Personal unter diesen Bedingungen?

Gesprächspartner

  • Franz Luef, Einsatzleiter Ärzte Ohne Grenzen, Gaza
  • Said Salah, medizinischer Direktor Patients' Friends Benevolent Society Hospital, Gaza Stadt
  • Hisham Mhanna, Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Gaza

Daten und Fakten

  • Seit dem 2. März 2025 blockiert die israelische Regierung sämtliche Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Die Blockade dauert mittlerweile über zwei Monate an. Laut UN-Quellen wird dadurch der Zugang zu lebensnotwendiger Nahrung, Medizin und Treibstoff massiv eingeschränkt.
  • Laut der UN-Welternährungsorganisation (WFP) herrscht im Norden des Gazastreifens akute Hungersnot. Schon Ende April 2025 warnte das WFP vor einer sich zuspitzenden humanitären Katastrophe mit drohender Unterernährung und Hunger-Todesfällen.
  • Mehr als 50.000 Menschen wurden laut den palästinensischen Behörden seit Oktober 2023 durch israelische Angriffe im Gazastreifen getötet.
  • Laut UN-OCHA sind mittlerweile rund 70 Prozent des Gebiets als „Sperr- oder Evakuierungszonen“ ausgewiesen. Dies bedeutet, dass sich die Zivilbevölkerung in diesen Zonen kaum noch sicher bewegen kann. Der verbleibende Raum schrumpft – mit gravierenden Auswirkungen auf Infrastruktur und Hilfeleistung.
  • Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und UN-Kommissare werfen Israel wiederholt Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht vor. Kritik richtet sich vor allem gegen die Blockade humanitärer Hilfe, gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur und mangelnde Schutzmaßnahmen für Zivilist:innen.
  • Die UN-Charta (Art. 2 Ziff. 4) verbietet die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates.
  • Israel wird als Besatzungsmacht im Gazastreifen betrachtet, auch wenn es sich 2005 militärisch zurückzog. Aufgrund der weitreichenden Kontrolle über Grenzen, Luftraum und Seezugang gilt es weiterhin als de-facto-Besatzungsmacht (vgl. UN, IStGH, IKRK).
  • Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel mit einem koordinierten Großangriff an, der mit massivem Raketenbeschuss und bewaffneten Infiltrationen begann. Dabei wurden etwa 1.200 Menschen getötet und rund 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israel erklärte daraufhin den Kriegszustand und begann eine umfassende Militäraktion auf Gaza.
  • Bis zum 13. Mai 2025 wurden insgesamt mindestens 157 Geiseln von der Hamas freigelassen oder ihre Leichen an Israel übergeben. Darunter befanden sich 117 lebende Geiseln.
  • Nach aktuellen Angaben befinden sich noch 59 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Israel geht davon aus, dass 24 von ihnen noch am Leben sind, während 35 als tot gelten.
  • Israel begründet die Blockade mit der Sorge, dass humanitäre Hilfsgüter von der Hamas zweckentfremdet werden könnten. Es wird behauptet, dass die Hamas Hilfslieferungen abfängt, um sie für militärische Zwecke zu nutzen oder auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Daher fordert Israel eine stärkere Kontrolle über die Verteilung der Hilfe und plant, diese über militärisch gesicherte Zonen und private Unternehmen zu leiten. Ein weiterer Grund für die Blockade ist der Versuch, Druck auf die Hamas auszuüben, um die Freilassung israelischer Geiseln zu erzwingen.
  • Mehrere Fraktionsvorsitzende im EU-Parlament forderten Israel kürzlich parteiübergreifend dazu auf, umgehend wieder Hilfsgüter in den Gazastreifen zu lassen. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilen sie die Politisierung und Militarisierung humanitärer Hilfe.

Quellen

Das Thema in anderen Medien

Das Thema in der WZ