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Angst vor dem Fall

4 Min
Agoraphobie ist die Angst vor Situationen, aus denen es keinen Ausweg gibt
© Illustration: WZ / Katharina Wieser.

Angsterkrankungen zählen zu den häufigsten psychischen Belastungen junger Menschen. Lucie lebt mit einer Phobie. Der WZ erzählt sie, wie sich ihr Alltag anfühlt.


    • Ängste zählen zu den häufigsten psychischen Belastungen, die junge Menschen heute erleben
    • Etwa ein Drittel der Bevölkerung entwickelt im Leben eine Angststörung
    • Agoraphobie ist die Angst vor Situationen, aus denen es keinen Ausweg gibt
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Wenn Lucie die Angst überrollt, wird sie ganz ruhig. Manchmal passiert das, wenn sie im Seminarraum der Uni sitzt. Während an der Wand die Vortragsfolien des Professors flimmern und seine Worte zu einem unverständlichen Einheitsbrei verschwimmen, ruhen Lucies Augen auf den Hinterköpfen ihrer Studienkolleg:innen. „Ich kann jetzt nicht gehen“, denkt sie dann. Für andere Gedanken ist kein Platz mehr.

Die 27-Jährige lebt mit Agoraphobie, also der Angst vor Situationen, aus denen es keinen Ausweg gibt. Die Sorge davor, bei Schwächeanfällen keine rasche Hilfe zu erhalten oder in peinliche Situationen zu geraten, bezieht sich oft auf bestimmte Orte. Etwa geschlossene Räume, Menschenmengen oder öffentliche Verkehrsmittel können die Angst gleichermaßen auslösen.

Damit ist sie nicht allein. Ängste zählen zu den häufigsten psychischen Belastungen, die junge Menschen heute erleben. Etwa ein Drittel der Bevölkerung entwickelt laut mehreren Studien im Laufe des Lebens eine Angststörung.

„Ich war von Natur aus schon immer ein ängstlicher Mensch“, erzählt die gebürtige Bayerin, die vor zwei Jahren für ihr Psychologiestudium nach Wien gezogen ist. Seit einem Ohnmachtsanfall vor einigen Jahren scheint ihre Angst allgegenwärtig. Lucie war damals im Zug unterwegs, hatte am Vorabend getrunken und vermutlich zu wenig gegessen. Ihr wurde schwindlig, sie taumelte – und als sie nach ihrem Schwächeanfall wieder aufwachte, fand sie sich im Schoß eines fremden Mannes wieder, der gerade ihren Puls maß. „Drei, vier Frauen haben mir direkt Traubenzucker entgegengehalten, und ich hab gefragt, wo ich bin und was passiert ist“, erinnert sie sich an den Moment zurück.

Auch wenn die Szene im Rückblick für Lucie selbst beinahe komisch wirkt, verfestigte sich bei ihr die Angst, dieser unangenehme Kontrollverlust könne jederzeit und überall wieder passieren. Jedes Mal, wenn sie heute mit der U-Bahn fährt, im Zug sitzt oder auch nur mit Freund:innen essen geht, begleitet sie das Gefühl der Ausweglosigkeit auf Schritt und Tritt. Würde sich ihr Kreislauf hier und jetzt bemerkbar machen, hätte die Studentin keine Möglichkeit, zwischen den Stationen sofort aus der Bahn zu steigen oder das Lokal zu verlassen, noch ehe die Rechnung beglichen wäre. Sie müsste den Moment der Hilflosigkeit vor allen Anwesenden aushalten.

Doch was ist eigentlich so schlimm daran? Nichts – das weiß Lucie. Ihre Furcht ist irrational und schwer zu erklären, sagt sie; trotzdem lässt sie sich nicht so einfach abschütteln.

Wann immer es möglich ist, vermeidet Lucie es deshalb, das Haus zu verlassen. Seit der Pandemie werden viele Lehrveranstaltungen hybrid angeboten, sodass die Studierenden sie auch von zu Hause besuchen können. Das mag eine Chance sein, bringt aber auch Einsamkeit. Während Lucies langjährige Freund:innen in Deutschland geblieben sind, fällt es ihr in Wien oft schwer, neue Kontakte zu knüpfen.

Das muss sich ändern – auch das weiß Lucie. Als sie noch in Deutschland wohnte, sprach sie deshalb mit einer Psychotherapeutin über ihre Sorgen – eine Behandlung, die sie sich in Österreich momentan nicht leisten kann. Um sich dennoch aus ihrer Komfortzone zu wagen, sagt sie sich bestärkende Mantras vor: „Ich bin nicht meine Angst“, spricht sie dann. Oder: „Die Angst findet nur in mir statt.“ An vielen Tagen muss sie sich ihrer Angst aber einfach stellen.

Wenn Lucie es dann geschafft hat, wenn sie etwa zur Uni gefahren ist, um eine obligatorische Präsentation zu halten, oder in einen Park, um einer Journalistin ihre Geschichte zu erzählen, ist sie stolz auf sich. Und wenn der Erfolgsmoment längst vergangen ist, bleibt das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das ihr in den nächsten Tagen Mut schenken wird.


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Infos und Quellen

Zur Häufigkeit der Agoraphobie, also der Angst davor, Situationen im Notfall nicht entkommen zu können, gibt es keine aktuellen Zahlen. Laut DSM-5 sind etwa 1,7 Prozent der Bevölkerung betroffen. Die Angst geht oft mit Panikattacken einher und kann dazu führen, dass Betroffene bestimmte Orte gänzlich meiden. In schweren Fällen trauen sie sich kaum mehr vor die Tür.

Die Ursachen von Agoraphobie sind vielfältig. Genetische Faktoren erhöhen das Risiko, wenn in der Familie bereits Angststörungen vorkommen. Auch belastende Lebensereignisse, wie etwa Trennungen, Todesfälle oder traumatische Erfahrungen, können Studien zufolge eine Rolle spielen. Häufig entwickeln sich Agoraphobien in Verbindung mit Panikattacken: Betroffene fürchten, eine Attacke könnte an einem Ort auftreten, den sie nicht rasch verlassen können, und meiden diesen fortan. Neurobiologische Faktoren, wie eine erhöhte Reaktivität des Stresssystems, sowie Lernmechanismen, etwa das Verknüpfen von Orten mit Angstsymptomen, tragen ebenfalls zur Entstehung bei.

Für mehr Informationen zu Ängsten und psychischen Erkrankungen konsultiere bitte eine:n Ärzt:in deines Vertrauens.

Quellen

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  • Craske, M. G., & Barlow, D. H. (2008). Panic disorder and agoraphobia. In D. H. Barlow (Ed.), Clinical handbook of psychological disorders: A step-by-step treatment manual (4th ed., pp. 1–64). Guilford Press.
  • Hettema, J. M., Neale, M. C., & Kendler, K. S. (2001). A review and meta-analysis of the genetic epidemiology of anxiety disorders. American Journal of Psychiatry, 158(10), 1568–1578. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.158.10.1568
  • Pieh, C., Plener, P., Probst, T., Dale, R. & Humer, E. (2021). Mental Health in Adolescents during COVID-19-Related Social Distancing and Home-Schooling. SSRN Electronic Journal. DOI:10.2139/ssrn.3795639
  • Wittchen, H. U., & Jacobi, F. (2005). Size and burden of mental disorders in Europe: A critical review and appraisal of 27 studies. European Neuropsychopharmacology, 15(4), 357–376. https://doi.org/10.1016/j.euroneuro.2005.04.012
  • World Health Organization. (2024). Adolescent mental health. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/adolescent-mental-health

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