Eine Kampagne der ÖVP Wien zum Gewaltschutz für Frauen betreibt nicht nur Täter-Opfer-Umkehr, sondern zielt auch darauf ab, dass Frauen sich sicher fühlen. Nicht aber darauf, dass sie auch tatsächlich sicher sind.
„Der sichere Weg ist besser als der kürzere Weg! – Benützen Sie bei Dämmerung und in der Dunkelheit gut ausgeleuchtete Plätze und Straßen, auch wenn dies einen Umweg bedeutet. – Suchen Sie Hilfe bei anderen Personen und fordern Sie zur Zivilcourage auf! – Sprechen Sie diese konkret an, um sie aus der Anonymität zu holen, wie zum Beispiel ’Sie im roten Hemd, rufen Sie bitte die Polizei.’ – Siezen Sie einen möglichen Gefährder oder Gefährderin, damit die Umgebung wahrnimmt, dass Sie die Person nicht kennen.“
Das sind nur ein paar der Tipps, die die ÖVP unter der Überschrift „Tipps, um sich im öffentlichen Raum sicher zu fühlen“ aktuell an Frauen verteilt. Die Wiener Volkspartei hat nämlich mit der Website „frau.wien“ eine neue Kampagne gegen männliche Gewalt an Frauen gelauncht. Anstatt die (potenziellen) Täter zu adressieren werden allerdings Handlungsaufträge an die (potenziellen) Opfer verteilt.
Nun ist es selbstverständlich so, dass Frauen – leider und unerträglicherweise – in einer Welt leben, in der es tatsächlich eine gute Idee ist, nach Möglichkeit Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, da männliche Gewalt eine reale und ständige Gefahr darstellt. Allerdings kenne ich keine einzige Frau, die das nicht ohnehin tut und permanent mitdenkt, Risikoabschätzung und Risikominimierung betreibt.
Ich kenne keine Frau, die nicht irgendwann in ihrem Leben männlicher Gewalt ausgesetzt war.
Ich kenne ebenso keine Frau, die nicht trotzdem irgendwann in ihrem Leben männlicher Gewalt ausgesetzt war. Die meisten von ihnen auch nicht nur einmalig, sondern wiederholt. Selbst die vorsichtigsten Frauen werden Opfer männlicher Gewalt oder können Opfer dieser Gewalt werden, da Gewalt die Folge der Entscheidungen jener ist, die die Gewalt ausüben, und nicht die Folge der Entscheidungen jener, die der Gewalt ausgesetzt sind. Gewalt zu verhindern kann also nur dann gelingen, wenn bei den (potenziellen) Tätern angesetzt wird.
Frauen sollen sich sicher fühlen, sind es aber nicht
Das Problem mit der Kampagne beginnt aber nicht erst bei der Täter-Opfer-Umkehr, sondern schon bei der Überschrift, auf die mich meine Freundin, Autorin Linda Biallas, aufmerksam gemacht hat: Das Ziel sollte nämlich nicht sein, dass Frauen sich sicher fühlen, sondern, dass sie, in einem konkreten und tatsächlichen Sinn, sicher sind. Das Problem ist nicht, dass Frauen sich nicht sicher fühlen, sondern dass sie aktuell nicht sicher sind. Das Problem ist auch, dass es offensichtlich keine politischen Ideen gegen diese konkrete Gefährdungslage und gegen männliche Gewalt gibt, außer Frauen zu sagen, dass sie gut ausgeleuchtete Wege nehmen sollen, um sich sicherer zu fühlen. Real sicher wären sie, wenn Männer aufhören würden, gewalttätig zu sein. Das erreicht man nicht mit „Siezen Sie Täter“.
Männliche Gewalt als Naturereignis
Zudem erklärt die Kampagne implizit männliche Gewalt zu einer Art täterlosem und unveränderlichem Naturereignis: Man kann nichts Grundlegendes gegen sie unternehmen, man kann nur versuchen, sich möglichst umfangreich und gewissenhaft gegen sie abzusichern. Wie man sich eben mit Winterstiefeln, warmer Kleidung und Regenschirm gegen die Auswirkungen von schlechtem Wetter und Kälte absichert. Das ist natürlich Unsinn. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Gewalt wird von konkreten Personen ausgeübt. Meist von konkreten Männern. Gewalt findet nicht einfach statt. Gewalt wird ausgeübt. Es ist schon erstaunlich, dass die Wiener ÖVP Männern nicht zutraut, dass sie sich auch anders entscheiden könnten und deshalb potenziell gewalttätige Männer erst gar nicht anspricht.
Für die Wiener ÖVP, so scheint es, gibt es keine Täter, nur Opfer.
Die Worte „Mann“ oder „Männer“ kommen auf der gesamten Webseite im Übrigen gar nicht vor, Information darüber, dass Gewalt meistens von ihnen ausgeht, auch nicht. Für die Wiener ÖVP, so scheint es, gibt es keine Täter, nur Opfer, die dafür verantwortlich gemacht werden, sich zu schützen. Was außerdem völlig fehlt, sind Hinweise auf psychologische Beratungsstellen für Gewalttäter, Täterarbeit oder Anti-Gewalt-Trainings. Kurz: Alles, was darauf verweist, dass es bei Gewalt auch notwendigerweise Täter geben muss, die diese Gewalt ausüben, und dass sie nicht gezwungen sind, diese Gewalt auszuüben, fehlt.
Falls ihr nun außerdem einwendet, dass der Fokus auf den öffentlichen Raum ein weiteres Problem darstellt, da männliche Gewalt im Privatbereich ein noch weitaus größeres Problem ist, muss ich auf den zweiten Teil der Kampagne verweisen. Der trägt den Titel „Tipps, um sich im privaten Bereich und bei Stalking sicher zu fühlen“ und beinhaltet Tipps wie „Stellen Sie sicher, dass sich der Gefährder oder die Gefährderin keine Ersatzschlüssel für die Wohnung verschaffen kann! Auf etwaige Zugänge über Nachbarbalkone oder -terrassen achten.“ Oder: „Alltagsroutinen überdenken (z. B. gewohnte Wegstrecken immer wieder verändern).“ Oder: „Aus sozialen Netzwerken aussteigen bzw. Sicherheitseinstellungen überprüfen, keine persönlichen Daten (z. B. Adresse, Telefonnummer etc.) öffentlich sichtbar machen bzw. Zielperson blockieren.“ Dass Frauen sich nicht bei Stalking sicher fühlen, sondern gar nicht erst gestalked werden wollen, ist der Wiener ÖVP nicht eingefallen.
Männern zu sagen, dass sie Frauen nicht stalken sollen, auch nicht.
Keine Maßnahmen gegen Männergewalt
Überhaupt will der ÖVP, die aktuell auf Bundesebene das Frauen-Ressort leitet, nichts so recht einfallen, wenn es darum geht, politische Maßnahmen gegen männliche Gewalt zu setzen.
Um der Kampagne nicht ganz unrecht zu tun, darf an der Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es auch eine Grafik gibt, die sich an Männer wendet. Diese ist betitelt mit „Tipps, wie Sie Ihr Kämpferherz zeigen können“. Männer müssen offenbar nicht nur möglichst entlang patriarchaler Männlichkeitsnormen als „Kämpfer“ angesprochen werden, sie dürfen auch, anders als Frauen, tatsächlich etwas sein und müssen sich nicht nur fühlen. Unter der Überschrift finden sich auch ein paar sinnvolle Ratschläge, wie zum Beispiel „Auf der Straße: Wenn Sie nachts auf dem Gehsteig einer ängstlichen Frau begegnen, zeigen Sie Rücksicht und Sicherheitsbewusstsein, indem Sie einen Schritt zurücktreten oder die Straßenseite wechseln.“ Oder: „Im Fitness-Studio: Wenn Sie bemerken, dass jemand ein Mädchen beim Training anstarrt, bitten Sie die Person höflich, damit aufzuhören oder melden Sie den Vorfall an der Rezeption.“
Was man aber gedenkt, ursächlich gegen männliche Gewalt zu tun, anstatt nur zu versuchen, ihre Auswirkungen abzufedern, wenn sie bereits ausgeübt wird (von konkreten Tätern), bleibt auch an dieser Stelle unbeantwortet.
Hilfe bei Gewalt
Frauenhelpline: 0800 222 555
Online-Chat "Halt der Gewalt"
Frauenhaus-Notruf: 05 77 22
24-Stunden-Frauennotruf der Stadt Wien: 01 71719
Frauenberatung bei sexueller Gewalt: 01 523 22 22
Polizeinotruf: 133
Polizeinotruf für gehörlose Personen: 0800 133 133
Männer Notruf: 0800 246 247
Männerberatung: 0800 133 133
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Zur Autorin
Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.
Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.
Daten und Fakten
In Österreich ist jede dritte Frau von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen (erlebt ab dem Alter von 15 Jahren) betroffen – laut Statistik sind es nahezu 35% der weiblichen Bevölkerung.
Mehr als jede vierte Frau musste eine Form von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz erfahren (26,59%).
Mehr als jede fünfte Frau ist von Stalking betroffen (21,88%).
Im Jahr 2022 wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik 29 Frauen – häufig von ihren (Ex-)Partnern oder Familienmitgliedern – ermordet.
2023 wurden bislang 26 Frauen von Männern ermordet
Quellen
Instagram-Profil von Linda Biallas
Österreichische Frauenhäuser zur Gewalt an Frauen
Statistik Austria: Gewalt gegen Frauen 2021