„No Bra“: Im Corona-Homeoffice verzichteten viele Frauen auf ihren BH. Diesen Trend möchten sie in der Öffentlichkeit fortführen. Stehen wir vor einem Kulturwandel?
Lisa-Marie atmet durch, der Arbeitstag ist vorbei. Sie schließt die Wohnungstür. Das Erste, was sie macht: raus aus dem Business-Look. Und vor allem: raus aus dem BH, der sie seit dem Morgen schon nicht richtig durchatmen lässt und richtig stark drückt. Vor den Corona-Lockdowns, so glaubt sie sich zu erinnern, hat sie BHs nicht als störend empfunden. Sie hat Büstenhalter in allen möglichen Formen und Farben getragen, weil es sich so gehört. Brustwarzen soll man halt nicht sehen. Vielleicht empfindet sie BHs nun als lästig, überlegt Lisa-Marie, weil sie all die Zeit im Homeoffice und generell zu Hause keinen trägt. Aber nur in den eigenen vier Wänden. Denn auf der Straße wird sie blöd angesehen, wenn nicht sogar angestänkert.
Lisa-Marie ist nur eine von vielen jungen Frauen, die auf Büstenhalter verzichten. Aus Gründen der Bequemlichkeit, sagt sie. In Frankreich wurde diesbezüglich eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Ifop veröffentlicht, die besagt, dass vier Prozent der Frauen vor den Corona-Ausgangsbeschränkungen keinen BH trugen, mittlerweile sind es 18 Prozent der Frauen unter 25 Jahren. Während der Beschränkungen waren es sogar 20 Prozent.
Der Verzicht auf den BH als politischer Akt
Doch woher kommt dieser „No Bra“-Trend? Und ist er tatsächlich nur der Bequemlichkeit geschuldet oder doch frauenpolitisch motiviert?
Dass die Frauenrechtsbewegung gegen gesellschaftliche Zwänge ankämpft, hat eine lange Geschichte, in der der BH eine wesentliche Rolle spielt, nämlich als Symbol der gesellschaftlich verankerten Sexualisierung der weiblichen Brust. Bedeutete die Erfindung des BHs (am 12. Februar 1914 wurde das Patent von Mary Phelps Jacob in den USA angemeldet) zunächst die Befreiung der Frauen aus dem Korsett, so wurde er in den 1960ern für Feministinnen zum Symbol der männlich motivierten Unterdrückung. Er stand für das Einengen der weiblichen Reize, für das standardisierte Pressen in eine von der Modewelt vorgegebene Form und für das Verhindern der weiblichen Emanzipation.
BH-Verbrennung
1968 entstand das Bild der Anti-BH-Bewegung von Feministinnen, wie es sich bis heute eingeprägt hat: Von der New Yorker Bürgerrechtsgruppe Radical Women angeführt, wurde der Miss-America-Protest angekündigt, der zeitgleich mit dem Schönheitswettbewerb stattfinden sollte. In einer „Freedom Trash Can“, einer Mülltonne, sollte alles verbrannt werden, was im herrschenden Patriarchat für Weiblichkeit stand: Stöckelschuhe, Make-up, Lockenwickler, Haarspray, Wischmopp, falsche Wimpern, Perücken und natürlich BHs. Zwar erlaubte die Polizei das Anzünden des Mülleimers nicht, aber die „BH-Verbrennung“, die als Symbol für die damalige Frauenbewegung stand und an anderen Orten realisiert wurde, hatte hier ihren Ursprung. Es war freilich für viele Medien eine reißerische Schlagzeile, auf die Feministinnen und Nicht-Feministinnen aufsprangen. „Bei mir brauchte die Feuerwehr drei Tage fürs Löschen“, scherzte damals die Countrysängerin Dolly Parton.
Wobei das Verbrennen an sich keine neue Idee war: Schon viel früher forderte eine Generation von Feministinnen das Verbrennen der Korsette als Schritt zur Befreiung. Dass die BH-Verbrennungen später den Feministinnen den Beigeschmack des Radikalismus eintrugen, ist eine andere Geschichte.
Wonderbra!
Nach der Befreiung der Brüste in den 1968er-Jahren stand eine Zeit lang Bequemlichkeit an erster Stelle. Auch Sport-BHs aus besonders elastischem Stoff kamen auf. Doch die Modeindustrie erholte sich vom Schock der 70er-Jahre. In den 1990er-Jahren kehrte die Modewelt mithilfe raffinierter Stoffe das Denken der Konsumentinnen um. Kurven sollte man zeigen, Supermodels wie Cindy Crawford, Linda Evangelista oder Claudia Schiffer machten es vor. Das Dekolletee sollte wieder üppig sein, und noch dazu hochgezurrt: Der Wonderbra ermöglichte das – als günstige Alternative zu Implantaten – mithilfe eingenähter Pads in allen Größen.
Ein Rückschlag für die Feministinnen und für die Selbstbestimmung der Frauen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Manche Feministinnen sehen diese Modewellen patriarchal beeinflusst. Fakt ist jedoch, dass es möglich sein muss, selbst zu bestimmen, ob eine Frau einen BH oder eben keinen tragen will.
Stören dich meine Titten?Rihanna
Das tun die Millennials: Sie bekennen sich immer häufiger zu „braless“. Allen voran Celebrities wie Lena Dunham, Kendall Jenner, Emily Ratajkowski oder Miley Cyrus, die unter ihren T-Shirts nichts tragen. Nicht zu vergessen sind das ehemalige Topmodel Kate Moss oder Rihanna, die seit Jahren hin und wieder auf dem roten Teppich in transparenten Nude-Kleidern ohne BH auftreten. Schon im Jahr 2014 antwortete Rihanna bei den CFDA Fashion Awards einem Reporter auf die Frage, weshalb sie keinen BH unter ihrem durchsichtigen Kleid von Adam Selman trage: „Stören dich meine Titten? Sie sind mit Swarovski-Kristallen besetzt!“
Brustwarzen-No-Go
Doch Lisa-Marie ist keine Celebrity. Für das Büro wäre ein transparenter Look ein absolutes No-Go, und ohne BH würden die Brustwarzen ihre Arbeitskolleg:innen irritieren. Das traut sie sich nicht. Mit ihrem „Braless“ zu Hause setzt sie keine bewusst feministischen Aktionen. Über die vielen Geschichten und unzähligen Studien, ob man aus medizinischen Gründen einen BH tragen soll oder nicht, will sich Lisa-Marie keine Gedanken machen. Sie will vielmehr ihren Brüsten gar keine Aufmerksamkeit schenken. Einfach nur miteinander koexistieren, ist ihr Wunsch. Doch ob sie einen Trend mitmacht oder darauf verzichtet, sollte auch im öffentlichen Raum keinen Anlass für Stänkereien und/oder anzügliche Blicke bieten. 2023 müsste das möglich sein. Sollte man glauben.