Will Israel seine Bürger:innen befreien und die Hamas im Gazastreifen schwächen, müssten Bodentruppen in das Gebiet geschickt werden. Beide Seiten haben sich lange auf dieses Szenario vorbereitet, die Angreifer wären taktisch aber stark im Nachteil.
Versteckte Minen auf Schritt und Tritt, unter jedem Kanaldeckel könnte ein Kämpfer lauern. Scharfschütz:innen, die den Gegner vom Dach aus unter Feuer nehmen, Sprengfallen und Hinterhalte: Straßenkämpfe gehören zu der Sorte Krieg, die jede angreifende Armee vermeiden will. Doch müsste Israel, will es die Hamas vernichtend schlagen, mit Bodentruppen in den dicht besiedelten Gazastreifen gehen. Noch wird ein derartiges Szenario als „Spekulation“ abgetan, noch liegt fast alles im Dunkeln: der Zeitpunkt des Angriffs ebenso wie die Dauer. Offen ist vor allem der Ausgang der Aktion.
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Käme es zu dem Angriff, wäre das ein Horror für die Zivilbevölkerung und ein Horror für die Soldat:innen. Denn die Hamas wartet im unübersichtlichen Terrain nur darauf, dass die Israelis kommen, um ihre Vorteile auszuspielen.
„Ein Albtraum“
Der pensionierte US-Offizier John Spencer hat das Buch „Urban Warfare“ geschrieben. Als Angreifer in eine Stadt einzudringen, sei immer ein „Albtraum“, meint er; die taktischen Nachteile seien enorm, viele Waffen wirkungslos. Trotzdem würden die Israelis wohl Panzer und schwere Artillerie zum Einsatz bringen. 300.000 Reservist:innen hat Israel zuletzt einberufen, es ist die größte kurzfristige Mobilmachung in der israelischen Geschichte. Reservist:innen, die sich im Ausland befinden, werden mit Sonderflügen nach Israel gebracht. Sie könnten demnächst gegen radikale Dschihadisten kämpfen, deren Zahl auf rund 40.000 geschätzt wird.
Aus taktischer Sicht muss ein Angreifer auf dem Schlachtfeld zahlenmäßig im Verhältnis 3:1 überlegen sein. Im Häuserkampf gilt das nicht, hier ist ein Verhältnis von mindestens 5:1 notwendig, besser noch 10:1. Die Gefahr, dass die israelischen Eindringlinge der Hamas ins Messer laufen, ist immer gegeben. Die Terroristen kennen jeden Quadratmeter ihres Territoriums. Sie haben sich monatelang auf eine Invasion Israels vorbereiten können. Immerhin: Die israelische Armee ist im Jahr 2008 mit Bodentruppen in den Gazastreifen eingedrungen, sie kennt das Schlachtfeld also grundsätzlich. Heute sind die Bedingungen freilich andere. Militärexpert:innen gehen davon aus, dass die Kämpfer der Hamas diesmal besser ausgebildet und ausgerüstet sind. Bei ihrem Überfall am 7. Oktober haben sie bewiesen, dass sie so koordiniert wie nie zuvor vorgehen können.
Spezialisiert auf den Häuserkampf
Auf der anderen Seite hat die Hamas einen Feind bis aufs Blut gereizt, dessen Armee wie keine zweite geschult ist. Es gibt in Israel eigene Trainingszentren, in denen speziell ausgebildete Elitesoldaten seit Jahren den Häuserkampf trainieren. Sie sind Spezialist:innen, wenn es darum geht, einen „unsichtbaren Feind“ zu bekämpfen. Straßen werden von diesen Elitesoldat:innen gemieden; es geht darum, Löcher in Mauern zu sprengen. So soll ein Haus nach dem anderen von innen „gesäubert“ werden. Die israelische Armee verfügt abseits davon über speziell für den Straßenkampf entwickelte Waffentechnologie – Tötungsmaschinen wie Kampfdrohnen, ausgestattet mit Künstlicher Intelligenz, die Wohnungstüren öffnen und – angeblich – Freund von Feind unterscheiden können. Israel setzt spezialisierte Drohnen auch zur Aufklärung ein. Und es gibt bereits Waffen, die es den Soldat:innen ermöglichen, um die Ecke zu schießen.
Die Bewaffnung der Hamas besteht zwar teilweise aus erbeutetem israelischem Gerät, ist aber meist veraltet und kann in punkto Technologie nicht mithalten. Viel Gerät stammt aus dem Iran, auch die Hamas verfügt jetzt über Drohnen.
Terrororganisation ist in die Gesellschaft integriert
Ein „Auslöschen“ der Hamas wird für Israel trotz aller militärischer Überlegenheit kaum möglich sein, wie der Terrorexperte Peter Neumann vom „King´s College“ in London erklärt. Die Organisation hat nicht nur Kämpfer, sie ist tief im sozialen System verankert, hat Schulen, Kindergärten und Spitäler errichtet und ist in der Zivilbevölkerung integriert. Eine Mehrheit der Bewohner von Gaza unterstützt die Hamas. Israel wird versuchen müssen, die Zahl der zivilen Opfer möglichst gering zu halten – allein schon, um sich von den Terrormethoden der Hamas zu unterscheiden und nicht als Täter dazustehen. Dazu kommt, dass die israelischen Geiseln geschützt werden sollen, die von der Hamas überall an strategischen Punkten verteilt wurden.
Israel selbst erwartet in jedem Fall einen „langen und schwierigen Krieg“. Jetzt schon ist er schmerzhaft für die Zivilbevölkerung in Gaza. Im nur 365 Quadratkilometer großen Streifen am Mittelmeer (der kleiner ist als das Stadtgebiet von Wien) leben rund zwei Millionen Menschen. Durch die Luftangriffe sind bereits zahllose Bewohner vertrieben worden. Die meisten werden allerdings bleiben, wo sie sind, und leiden unter Luftangriffen, Nahrungs- und Wasserknappheit und dem Mangel an Medikamenten.
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Infos und Quellen
Genese
Straßenkämpfe in großen Städten sind für die Angreifer militärisch immer ein großes Problem und für die Zivilbevölkerung eine Katastrophe. Die russische Armee hat sich im letzten Jahr nur kurz den Kopf zerbrechen müssen, wie Kiew einzunehmen wäre – es ist bekanntlich nicht dazu gekommen. Auch die Eroberung Bagdads 2003 durch die US-Armee verlief für die Angreifer problemlos und endete nicht wie befürchtet in einem Blutbad. Israels Armee will jetzt die Hamas ausschalten und könnte demnächst mit Bodentruppen in den Gazastreifen eindringen. Die Frage, was da bevorstünde, hat den Autor dieses Artikels bewegt. Wobei es schwierig ist, den Ausgang eines solchen Krieges vorwegzunehmen.
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