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Frontsoldaten als Freunde, Gestapo als Feinde, Exekutionen von jüdischen Spielgefährtinnen, und organisierter Widerstand im Keller: Wie mein Großvater den Krieg als Kind im polnischen Dorf erlebte.
Bonbon, Halt, und Juden verboten – das sind die einzigen vier deutschen Begriffe, die mein heute 90-jähriger polnischer Großvater Józef kennt. Er ist im Juli 1934 in einer kleinen Ortschaft in den Bergen im Süden Polens zur Welt gekommen. Er hat während der Besatzung mit seiner Mutter Leontyna und seinem Bruder Antoni gelebt, sein Vater Stanisław hat in der polnischen Armee in den Niederlanden als Fallschirmjäger gekämpft.
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Die Gegend ist bis heute ein beliebter Kurort. Auch die Nazis wussten die Annehmlichkeiten während des Zweiten Weltkriegs zu schätzen: Soldaten auf Fronturlaub quartierten sich während der Besatzung in den vielen Hotels, Villen und Herbergen des Ortes ein. „Das waren ganz junge Burschen, von der Sorte Kanonenfutter. An zwei kann ich mich besonders gut erinnern: an den Hans und den Josef. Die haben direkt nebenan von uns gewohnt und mir immer Süßigkeiten geschenkt: Josef, da, Bonbon!, haben sie gerufen. Die haben mich gern gehabt, ich hab ja so geheißen wie einer von ihnen. Die Frontsoldaten waren zumindest zu uns Kindern immer sehr freundlich“, erinnert sich mein Großvater, als wir durch das Dorf spazieren. Er betont, dass er die Taten der Frontsoldaten keinesfalls relativieren will, er bittet mich aber, seine Erinnerungen aus seiner damaligen kindlichen Perspektive erzählen zu dürfen – ich stimme zu und lausche weiter. Das Haus, in dem Hans und Josef gewohnt haben, steht noch – baufällige Balkone und „Nicht betreten“-Schilder zieren die Fassade. „Aber schau, hier, wo jetzt die Post ist“ – er zeigt auf das kleine gelbe Post-Gebäude mit spitzem Dach und schüttelt den Kopf – „da sind die richtigen Hunde gesessen. Die Gestapo.“
Das Dienstmädchen
Im September 1939, mein Großvater war damals fünf Jahre alt, begannen die deutschen Besatzer, in der Gegend ihren Machtapparat einzurichten: eine Gestapo-Zentrale und einen Posten der polnischen Polizei im Generalgouvernement, der „Blauen Polizei“.
Durch die Pieninen – die Gebirgskette rund um die Ortschaften – führte eine der wichtigsten Transport- und Kurierrouten. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen 1938 flüchteten viele Poli:nnen in den Süden des Landes – unter anderem auch Soldaten, die die in Frankreich gerade entstehende polnische Armee erreichen wollten. Auch Menschen, die das Land heimlich verlassen wollten, waren dabei – das Dorf liegt direkt an der slowakischen Grenze und hat sich somit gut dafür angeboten, diese Menschen über die Berge in die Slowakei zu schleusen. Auch das bekam mein Großvater als Kind direkt mit.
Seine Mutter, meine Urgroßmutter Leontyna, war Dienstmädchen bei einer wohlhabenden Krakauer Fotografenfamilie, die in der Ortschaft ihr Landhaus hatte – auf das Haus hat Leontyna während der Abwesenheit ihrer Arbeitgeber aufgepasst, und durfte somit mit ihren beiden kleinen Söhnen dort wohnen. Sie war eine einfache Bedienstete, gleichzeitig war sie auch Teil der Untergrundwiderstandsbewegung „Bataliony Chłopskie“ (Bauern-Batallione), eine Bauernabspaltung der polnischen Heimatarmee Armia Krajowa (Heimatarmee). Sie war Botin, hat Nachrichten und Funkgeräte zu den Partisanen-Stützpunkten im Wald gebracht, versteckt in einem Korb voller Brennesseln, in der anderen Hand die Ziege an der Leine. „Sie war sehr unauffällig, deshalb war es perfekt“, erzählt mein Großvater.
Der Keller der Villa diente als eine der Drehscheiben der Gegend, um polnische Soldaten und Partisanen über die Grenze in die Slowakei zu schleusen. Diese Villa diente aber auch, wie viele andere Gebäude in der Gegend, als Ferienhaus für deutsche Frontsoldaten auf Fronturlaub.
Lebendig begraben
„Das war natürlich gefährlich, die wussten nicht, wer da unter dem Fußboden im selben Haus wohnt“, erinnert sich mein Großvater. „Das waren immer wieder kleine Gruppen von Menschen, ganz verschiedene, aber meistens waren sie nach ein bis zwei Tagen wieder weg. Wir Kinder wussten davon, jeder hat das gewusst.“ Ich frage nach: „Aber Opa, du warst so klein – solche Informationen hat man dir anvertraut? Was, wenn du es herumerzählt hättest?“ Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.
„Aber Kind“, fährt er lachend fort. „Das war einfach so, das war keine Kindheit wie du eine hattest, wir waren von Anfang an mitgefangen. Außerdem hat mich nie jemand von den Deutschen danach gefragt. ich habe gewusst, dass ich nicht erzählen darf, was bei uns im Keller passiert, sonst würde meine Mama wegkommen.“ Sie wurde tatsächlich einige Male in die Gestapo-Zentrale bestellt und verhört. „Jemand wird etwas geahnt haben, aber sie haben sie immer gehen lassen, sie hat immer nur gesagt, sie sei ein einfaches Dienstmädchen und würde sich für nichts anderes interessieren“, erzählt er lachend. „Dabei hatte sie es faustdick hinter den Ohren – wie übrigens mehrere Hausfrauen und Dienstmädchen im Ort. Die haben schon ganz genau gewusst, was sie tun.“
Die Gestapobeamten hat mein Großvater als bösartig in Erinnerung: „Halt! haben sie geschrien, wenn man wieder einmal irgendwo nicht vorbei oder hinein durfte – das ist sehr willkürlich passiert, da hat sich keiner ausgekannt, warum sie jeden Tag andere Regeln aufstellen. Mein Messer, das ich beim Ziegenhüten immer dabei hatte, haben sie mir auch mal abgenommen, einfach so.“ Trotzdem weiß er, dass er von den Deutschen immer noch um einiges besser behandelt wurde als die Juden und Jüdinnen, die im Dorf lebten. „Wir waren für die ja das Goralenvolk, ob wir wollten oder nicht – viele von denen waren ja auch Kollaborateure (siehe Infos & Quellen) – und ich war ein blonder, blauäugiger, fitter Bursche, das hat denen gepasst.“
Ein Ereignis hat sich besonders tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war Juli 1942, mein Großvater war gerade acht Jahre alt geworden. „Da hat die Gestapo das ganze Dorf zusammengerufen, wir mussten alle ans Flussufer kommen. Die Männer, die noch da waren, die meisten waren ja im Krieg, bekamen Schaufeln in die Hand gedrückt. Und mussten ein tiefes Loch graben. Jan Słowik, ein Freund meines Vaters, der hat auch geschaufelt. Den hab ich gekannt und erkannt. Ich habe damals nicht gewusst, was da passiert. Dann wurden auch alle jüdischen Dorfbewohner:innen zum Fluss gebracht – die, die nicht versteckt gelebt haben. Sie mussten sich nebeneinander aufstellen. Die Gestapo hat sie dann einen nach dem anderen erschossen. Sie sind einfach in dieses Loch gefallen. Manche haben noch gelebt, als die Erde über sie geschaufelt wurde.“ Darunter waren auch seine drei Freundinnen, die etwa in seinem Alter waren. „Da hab ich zugeschaut. Wir mussten alle zusehen. Und die sind da einfach reingefallen. Die waren einfach weg, alle drei Schwestern.“ Das sei der einprägsamste Moment seines Lebens gewesen, betont er. Negativ einprägsam, versteht sich. Diese Geschichte wiederholt er immer und immer wieder – auch nach über 80 Jahren hat er die Bilder der Exekution noch genau im Kopf. Das Haus der jüdischen Familie stand daraufhin jedenfalls lang leer. „Die hatten ganz viele große Bilder hängen, die waren am nächsten Tag weg – wer die mitgenommen hat, weiß ich nicht“, erklärt er. Es dürfte zu Plünderungen gekommen sein, ob von den Nazis oder von den polnischen Dorfbewohnern, wissen wir nicht und werden es wohl auch nie erfahren.
Heute erinnert ein Denkmal an die 39 an diesem Tag ermordeten Jüdinnen und Juden. Das Denkmal liegt relativ versteckt auf einem Privatgrundstück – nur wer Bescheid weiß, findet den Stein mit den aufgelisteten Namen.
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Infos und Quellen
Genese
Die WZ hat es sich zur Aufgabe gemacht, totgeschwiegenen Familiengeschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus nachzugehen und sie zu veröffentlichen. Meistens handelt es sich bei unseren Groß- und Urgroßeltern um Täter:innen, die das NS-Regime durch Wegschauen, Mitlaufen oder aktiv unterstützt haben.
Aleksandra Tulej hat ihren Großvater Józef über seine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs in Polen befragt. Bruchteile der Geschichten kannte sie schon aus früheren Erzählungen, an vieles erinnert er sich nicht mehr – die Autorin hat versucht, seine Erinnerungen in Kontext zu setzen.
Gesprächspartner
Józef, 90, Pensionist
Daten und Fakten
Die deutsche Besetzung Polens dauerte bis 1945, während dieser Zeit wurden unzählige Gräueltaten begangen. In den von Deutschland besetzten Gebieten in Polen wurden Konzentrationslager errichtet, wie zum Beispiel Auschwitz, das berüchtigste Lager der Nazis.
Als Deutschland Polen überfiel, war die Gegend in den Bergen im Süden des Landes ein strategisches Ziel. 1939, nach dem deutschen Überfall auf Polen, rückten deutsche Truppen weiter in die Region vor, und das Gebiet wurde schnell von den Besatzungsmächten übernommen. Nachdem Deutschland die Westgebiete Polens kontrollierte, wurde die Gegend von Szczawnica unter deutsche Verwaltung gestellt. In dieser Zeit erlebte die Region schwerwiegende Auswirkungen durch die deutsche Besatzungspolitik, die eine harte Unterdrückung der polnischen Bevölkerung beinhaltete.
Die Region war während des Kriegs auch ein Zentrum für polnische Partisan:innen, die versuchten, sich gegen die deutschen Besatzer zu wehren. Das Gebirgsterrain der Umgebung bot Schutz und war ein idealer Ort für Widerstandskämpfer:innen.
Mit dem Vormarsch der sowjetischen Truppen gegen Ende des Kriegs kam es zu weiteren Veränderungen in der Region. Die deutsche Besatzung wurde von den sowjetischen und polnischen Streitkräften beendet, aber die Auswirkungen des Kriegs waren auch hier deutlich spürbar, sowohl in der Zerstörung von Infrastruktur als auch in den menschlichen Verlusten.
Das Góralenvolk (poln. Góral = Bauer) war eine Erfindung der Nazi-Ideologie, laut der die Bergleute in der Gegend Szczawnicas dem arischen Volk ähnlich wären – sie bekamen sogenannte „kenkarty“ (Kennkarten), die sie als solche auswiesen. Eine solche Kennkarte sollte eine bessere Behandlung durch die Deutschen garantieren – durchgesetzt hat sich die Idee allerdings nie richtig. Teile des Goralenvolks waren Nazi-Kollaborateure, Teile waren im Widerstand.
Die Bataliony Chłopskie (Bauernbataillone) waren eine polnische Widerstandsorganisation, die während des Zweiten Weltkriegs eine bedeutende Rolle im Widerstand gegen die deutsche Besatzung spielte. Sie wurde 1940 gegründet und war vor allem auf die Unterstützung der ländlichen Bevölkerung angewiesen, die oft in den Gebirgen Polens lebte.
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