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Roter Teppich für Gewalt?

8 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zu einem feministischen Thema in der WZ.
© Illustration: WZ

Die Diskussion um den Grammy-Auftritt von Kanye West und Bianca Censori offenbart erschreckendes Unwissen über Gewalt in Beziehungen.


Als Kanye West und seine Ehefrau Bianca Censori auf dem roten Teppich der Grammys ankommen, trägt er ein schwarzes Shirt, eine schwarze Hose und schwarze Sonnenbrillen. Sie ist in einen dunkelbraunen Pelzmantel gekleidet und geht auf hautfarbenen Highheels.

Sie wechseln ein paar Worte. Er sagt etwas zu ihr, das nach einer Handlungsanweisung aussieht. Sie zieht ihren Mantel nach oben und enger an ihren Körper, wirkt, als wäre ihr unwohl, wirkt, als würde sie ihren Kopf schütteln und „No“ sagen. Dann tritt er einen Schritt nach rechts, weg von ihr. Sie dreht sich um und lässt den Mantel von ihren Schultern gleiten. Darunter trägt sie ein enges und gänzlich transparentes Minikleid. Sie dreht sich erneut um – auch vorn ist das Kleid transparent – und zieht ein paarmal am Rocksaum, wie das Frauen, die sich in zu kurzen Kleidern unwohl fühlen, öfter tun. Wenn das Schauspiel nicht so bedrückend wäre, würde der verzweifelte Versuch, sich durch das Herunterziehen eines ohnehin durchsichtigen Kleides etwas mehr zu bedecken, oder der – im wörtlichen Sinn – Bloßstellung ein Stück weit entgegenzuwirken, fast komisch anmuten. Das tut es aber nicht, vielmehr ist der Anblick ein durch und durch verstörender. Was die Szenerie zusätzlich beklemmend macht, ist, dass Censori eben nicht einfach nur nackt ist, sondern in ihrem hautengen Minikleid seltsam zusammengeschnürt wirkt. Schon bei früheren gemeinsamen Auftritten mit Kanye West trug Bianca Censori Kleidung, die sie nicht einfach entblößte, sondern dabei auch noch faktisch bewegungsunfähig machte. In der sie nicht nur wie ein Stück Fleisch – sein Stück Fleisch – zur Schau gestellt wurde –, sondern in der sie gleichzeitig gefesselt war.

Ich werde die Fotos und Videos hier im Übrigen nicht reproduzieren und auch nicht auf sie verlinken. Denn wenn Censoris Nacktheit das ist, wofür ich sie halte – nämlich ein öffentliches sexualisiertes Demütigungsritual – partizipieren Millionen Menschen weltweit gerade an ihrem Missbrauch. Ich möchte mich daran nicht beteiligen.

Ein bisschen Skandal-Entertainment

Kanye West, der bekannt dafür ist, die Kleidung seiner Partnerinnen zu designen und darüber zu bestimmen, was sie bei gemeinsamen Auftritten zu tragen haben, führt Bianca Censori auf dem Red Carpet der Grammys vor „wie ein Bauer sein Vieh“ bei der Fleischbeschau.

In keinem Moment eilt ihr irgendjemand zu Hilfe oder fragt nach, ob sie diese brauchen würde. Niemand schreitet ein. Im Gegenteil: Das Blitzlichtgewitter geht unbeirrt weiter, als würde es hier nur um einen weiteren provokanten Auftritt gehen, ein weiteres freizügiges Outfit, ein bisschen aufsehenerregende Fashion, ein bisschen Skandal-Entertainment für die Massen. Und im Anschluss werden die Fotos und Videos des Auftritts millionenfach weiterverbreitet. Auch von jenen Menschen, die ihn kritisch besprechen. Auch von jenen Menschen, die in ihm Gewalt erkennen. Gewalt, die sich vor aller Augen abspielt und an der die Öffentlichkeit partizipiert.

I have dominion over my wife

Viele, die selbst Missbrauch in Beziehungen erlebt haben, Menschen kennen, die ihn erlebt haben oder Expertinnen zum Thema sind, befinden seither online, dass der Auftritt von Kanye West und Bianca Censori eine eindeutige Sprache spricht. Kanye West selbst spricht auch eine eindeutige Sprache, denn kurz nach dem Auftritt tweetete er in Großbuchstaben „I HAVE DOMINION OVER MY WIFE“ (zu Deutsch etwa: „Ich habe Herrschaft über meine Frau.“).

Wie sich Wests und Censoris Beziehung tatsächlich gestaltet und was zum nackten Grammy-Auftritt geführt hat, kann natürlich niemand von uns mit Sicherheit wissen – aber ihre Körpersprache, ihr ausdrucksloser, in die Leere starrender Blick, die Interaktion zwischen beiden und seine Körpersprache in Kombination sind, gelinde gesagt, beunruhigend.

Coercive Control

Was sich jedoch mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass die Reaktionen auf genau diese Feststellung in den Kommentarspalten ein erschreckendes Unwissen offenbaren – darüber, was Gewalt in Beziehungen bedeutet, wie sie sich äußert, wie man sie erkennt, welche Auswirkungen sie auf Betroffene hat und vor allem, was Gewalt überhaupt ist.

Eine dieser Reaktionen ist: „Es ist keine Gewalt, denn er hat sie nicht geschlagen.“ Abgesehen davon, dass wir selbstverständlich nie wissen können, wer wen hinter verschlossenen Türen schlägt, bedeutet die Abwesenheit von physischer Gewalt keineswegs die Abwesenheit von Gewalt. Dass „schlagen“ immer noch als Synonym für Gewalt in Beziehungen verstanden wird, zeigt allerdings, wie unterentwickelt unser Verständnis dieser Gewalt ist. Denn Gewalt in Beziehungen findet oftmals in Form von psychischem Missbrauch statt: in Form von Kontrollverhalten, in Form von Abwertungen und Demütigungen oder verbalen Beschimpfungen, in Form von Manipulation, Isolation, systematischer Machtausübung, emotionaler Erpressung, Drohungen oder Einschüchterungen. Manchmal eskaliert psychische Gewalt zu physischer und/oder sexueller Gewalt, das tut sie aber nicht immer. Und auch wenn sie das nicht tut, ist psychische Gewalt an und für sich schon Gewalt. Gewalt, die im Übrigen für Betroffene ganz besonders schwerwiegende Auswirkungen hat. Emotionaler Missbrauch nämlich erodiert das Selbstwertgefühl der Betroffenen nachhaltig, zermürbt und fragmentiert sie und zerrüttet ihren Bezug zur Welt und zu sich selbst.

Emotionaler Missbrauch ist zudem oft besonders schwer zu erkennen, auch für Betroffene selbst, da es oftmals keine eindrücklichen Eskalationen gibt, und keine körperlichen Wunden, keine blauen Flecken oder Verletzungen.

Im Englischen gibt es den treffenden Begriff „Coercive Control“, um diesen psychischen Missbrauch in Beziehungen zu bezeichnen. Leider gibt es, und auch das ist ein Hinweis darauf, wie unterentwickelt und rückständig unser Verständnis von Gewalt ist, keine gute deutschsprachige Übersetzung. In juristischen Kontexten werden manchmal die Begriffe „Zwangsmanipulation“ oder „Zwangskontrolle“ verwendet.

Was wir wollen

Opfer von psychischer Gewalt und coercive control in Intimbeziehungen werden nach und nach in ihrem Selbst zerrüttet. Die eigene Weltwahrnehmung wird zerstört, das eigene Verständnis von richtig und falsch ebenso wie die Wahrnehmung eigener Grenzen. Die Weltwahrnehmung und das Wollen des Täters werden irgendwann zur eigenen Weltwahrnehmung und zum eigenen Wollen. Das ist auch eine Überlebensstrategie, denn ein Brechen der vorgegebenen Regeln, ein Abweichen von dem vom Täter vorgegebenen interpretatorischen Rahmen der Welt wurde über Jahre hinweg sanktioniert.

Es ist das Wesen von Gewalt, dass sie unseren Willen bricht. Sie verändert, was wir wollen und was nicht. Sie lässt uns vergessen, was wir wollen und was nicht. Sie lässt uns sogar vergessen, wer wir sind und wo die Grenzen dieses Selbst verlaufen. Das ist auch mit ein Grund, warum Opfer von Grooming, von sexueller oder häuslicher Gewalt, während sie sich inmitten der coercive control eines Täters befinden, nicht selten sagen (und selbst glauben), sie würden alles, was sie machen, aus freien Stücken tun.

Gehen ist lebensgefährlich

Das führt mich zum zweiten Kommentar, der in Bezug auf Wests und Censoris Grammy-Auftritt des Öfteren abgesondert wird: „Sie ist eine erwachsene Frau, sie kann ja jederzeit gehen.“ Wer auch nur ein bisschen Ahnung vom Thema hat, kann dem sehr schnell entgegnen: Nein, kann sie nicht. Kein Gewaltopfer kann einfach gehen. Oft aus finanzieller Abhängigkeit, wegen eines Machtungleichgewichts (an der Stelle sollte vielleicht erwähnt werden, dass Censori ursprünglich Wests Angestellte war) und wegen der psychischen Abhängigkeit und Kontrolle, die Gewalt immer mit sich bringt. Gewalttäter zu verlassen ist darüber hinaus lebensbedrohlich – kein Moment ist gefährlicher als der, in dem Frauen ihre Täter verlassen. Während und nach der Trennung ist die Wahrscheinlichkeit, von ihm getötet zu werden, statistisch am höchsten. Das wissen in aller Regel auch die Opfer selbst – sie sind meist sehr gut darin, besser als jene, die von außen auf die Situation blicken, die Gefährlichkeit ihrer Partner einzuschätzen. In diesem konkreten Fall kommt noch hinzu, dass Kanye West sehr viel reale Macht besitzt – aufgrund seines Vermögens und aufgrund seiner Verbindungen zu sehr einflussreichen Menschen. Aber offenbar hat die Öffentlichkeit aus jüngsten Missbrauchsfällen – von R.Kelly bis P.Diddy –, bei denen Frauen, teilweise per Gerichtsurteil bestätigt, teilweise (noch) mutmaßlich über Jahre und Jahrzehnte eingesperrt und missbraucht wurden, erstaunlich wenig gelernt.

Bianca Censori wird eure entbehrlichen und ignoranten Kommentare vermutlich nicht lesen. Aber hunderte andere Gewaltopfer tun es. Wir sind es ihnen schuldig, ein besseres Verständnis davon zu entwickeln, was Gewalt bedeutet und was sie mit Opfern anrichtet. Sie verdienen es, mit Empathie und Verständnis behandelt zu werden – und nicht von hirnlosem und herzlosem Online-Geschwafel retraumatisiert zu werden.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Hilfsangebote bei Gewalt gegen Frauen

  • Frauenhelpline gegen Gewalt: 0800 222 555 und frauenhelpline.at

  • Helpchat: https://www.haltdergewalt.at/

  • Opfernotruf 0800 112 112

  • Rat auf Draht: 147

  • Polizei: 133

  • Weißer Ring Kriminalitätsopferhilfe: 0810 955 065 oder 0800 112 112

  • TAMAR Beratungsstelle für misshandelte und sexuelle missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder: 01 334 04 37

  • SOLWODI Beratung und Unterstützung für Frauen, die Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution, Ausbeutung und sexueller Gewalt geworden sind und/oder Hilfe beim Ausstieg aus der Prostitution wollen 0664 88 65 25 87

  • Männernotruf: 0800 246 247

  • Männerberatung: 0800 444 700

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