Die kurdischen Autonomiegebiete in Syrien verteidigen weiterhin ihre Selbstverwaltung, trotzen türkischen Angriffen und der drohenden Rückkehr des IS. Besonders im Al-Hol-Camp, in dem die „IS-Frauen” inhaftiert sind, spitzt sich die Lage zu.
„Viele Frauen bei uns in Al-Hol freuen sich jetzt über den Sturz Assads – aber nicht aus den Gründen, aus denen wir uns freuen. Für sie entflammt eine neue Hoffnung darauf, ihr extremistisches Gedankengut wieder offen ausleben zu dürfen. Da ist gerade etwas in der Luft“, erzählt Alan, der als Arzt im Lager Al-Hol arbeitet, gegenüber der WZ.
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Nachdem der ehemalige Machthaber Syriens, Baschar Al-Assad, das Land vor über einer Woche verlassen hat, herrscht im Großteil Syriens immer noch eine euphorische Stimmung über seinen Sturz. Auch in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien – die Menschen dort werden allerdings gleichzeitig mit eigenen Herausforderungen konfrontiert. Politisch kämpfen die kurdischen Autonomiegebiete darum, ihre Selbstverwaltung zu sichern, militärisch werden sie durch türkische Angriffe bedroht, gleichzeitig werden die Befürchtungen immer lauter, dass die Gefahr eines Wiederauflebens des sogenannten „Islamischen Staats" besteht. Vor allem in der Provinz Al-Hasakah, wo das besagte Al-Hol-Camp liegt. Nach dem Umsturz in Syrien sind besonders zwei Milizen in Al-Hol ein Thema: Die Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) und die Syrian National Army (SNA). (Die genauen Erklärungen zu den Milizen findest du unter „Infos & Quellen".)
In Al-Hol liegt etwas in der Luft.Alan
Eine neue Generation im Lager
Al-Hol ist ein großes Flüchtlings- und Internierungslager im Nordosten Syriens und wird von den von Kurdenmilizen angeführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) verwaltet. In Al-Hol leben etwa 50.000 Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, die Angehörige von ehemaligen IS-Kämpfern sind – auch Frauen, die aus Europa, darunter aus Österreich, nach Syrien gegangen sind, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Ihre Männer sind in eigenen Gefängnissen interniert, die ebenfalls von den SDF bewacht werden. Die Frauen selbst haben nicht gekämpft, sondern wurden vom IS vor allem damit beauftragt, möglichst viele Nachkommen, also eine neue Generation von IS-Kämpfern, zu zeugen.
Im Jahr 2017 wurde die IS-Hochburg Raqqa durch eine Koalition von Kräften, hauptsächlich den SDF und den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), von der IS-Herrschaft befreit, viele der IS-Kämpfer und ihre Familien gefangengenommen. Die meisten der Frauen in Al-Hol waren zu dem Zeitpunkt, als sie sich dem IS angeschlossen haben, Teenager – heute haben sie teilweise Kinder im Teenager-Alter, die mit ihnen im Camp leben – eine neue Generation, die kein Leben außerhalb des Lagers kennt, teils mit einer radikalen Gesinnung aufwächst. Ärzt:innen aus dem Lager berichten immer wieder davon, dass besonders überzeugte Islamistinnen ihre Söhne dazu drängen würden, andere Frauen im Lager zu schwängern – damit die Ideologie aufrecht erhalten bleibt. Die Radikalsten unter den IS-Angehörigen werden in einem abgetrennten Teil des Camps (im sogenannten „Annex“) von den SDF gefangen gehalten. Für diese rund 10.000 Personen gelten schärfere Einschränkungen als für die anderen.
„Viele der Insassinnen sind immer noch extremistisch veranlagt“
Alan arbeitet seit vier Jahren in Al-Hol. „Im Annex gelten besonders jetzt noch schärfere Regeln, gerade dürfen wir Ärzt:innen nicht in den Annex rein – man muss auf Aufstände vorbereitet sein, da die Lage so unübersichtlich ist“, erzählt Alan, der hier nicht mit Nachnamen genannt werden möchte. Der Kurde ist als Allgemeinmediziner tätig und hat vorwiegend mit französischen, türkischen und usbekischen Gefangenen zu tun. „Das Problem ist: Viele der Insassinnen tragen nach wie vor sehr gefährliches Gedankengut mit sich und sympathisieren weiterhin offen mit dem Islamischen Staat – und hoffen jetzt darauf, dass die HTS, die SNA oder andere Gruppierungen mit ihrer Situation sympathisieren werden.“ Derzeit gibt es weder seitens HTS noch seitens SNA Bestrebungen, die Insassen zu befreien. Die SNA hat im Wesentlichen keine unmittelbare Verbindung zu den IS-Gefangenen, da ihr Hauptziel in der Bekämpfung von kurdischen Kräften, insbesondere der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), liegt. Bei der HTS ist das komplexer: Die Gruppe ist ideologisch ähnlich ausgerichtet, jedoch gibt es Spannungen zwischen der HTS und dem IS, da sie unterschiedliche Ziele verfolgen. Obwohl beide Gruppen dschihadistische Ideologien teilen, sieht sich die HTS oft als moderner und strategisch weniger isoliert im Vergleich zum IS.
Was will die Türkei?
Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger kann den Aufruhr im Camp verstehen. „Viele dort haben hineingeschmuggelte Handys und sind im Allgemeinen gut informiert, sie wissen, was um sie herum passiert. Allerdings ist diese Stimmung nicht direkt auf die HTS zurückzuführen – sondern auch auf die SNA und die Angriffe seitens der Türkei. Vor allem aber auf das Machtvakuum im Land.“ Die von der Türkei unterstützten Milizen dringen zunehmend in die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens vor, insbesondere in die Region Rojava. Die Türkei nutzt die SNA als eine Art Stellvertreterarmee, um ihre geopolitischen Interessen in Nordostsyrien zu sichern und die Kurd:innen in der Region zu schwächen. Seit 2016 hat die Türkei mehrere Offensiven gegen Kurd:innen in Syrien durchgeführt – seit dem Umsturz nehmen diese Angriffe wieder zu. Viele Kurd:innen fürchten auch einen Großangriff auf die strategisch wichtige Grenzstadt Kobanê.
Ein wesentliches strategisches Ziel der Türkei ist es, eine kurdische Selbstverwaltung in Syrien zu verhindern, insbesondere in den Regionen, die von der SDF kontrolliert werden. SDF-Anführer Maslum Abdi warnt davor, dass bei einem weiteren Vorrücken der protürkischen Milizen die Gefängnisse in der Region, in denen die ehemaligen IS-Kämpfer interniert sind, nicht mehr geschützt werden könnten.
Was passiert mit Maria G.?
Auch immer wieder Thema: Rückführungen von Frauen aus Europa, die nach Syrien gegangen sind, um sich dem IS anzuschließen. Welche Auswirkungen hat die veränderte Situation in Syrien jetzt auf diese Personen? „Wir wissen derzeit von weniger als zehn Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft in Lagern in Syrien, rund die Hälfte davon sind Kinder“, heißt es seitens des Außenministeriums. Das Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten (BMEIA) ist weiterhin in Kontakt mit der autonomen kurdischen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, auch jetzt, nach dem Umsturz. Medial ist in Österreich vor allem ein Fall sehr bekannt: Maria G.
Maria G., eine österreichische Staatsbürgerin aus Salzburg, reiste 2014 im Alter von 17 Jahren nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen. Sie heiratete dort einen mutmaßlichen IS-Kämpfer und brachte zwei Kinder zur Welt. Seit 2019 befindet sie sich mit ihren Kindern im von den SDF verwalteten Gefangenenlager Camp Roj, das sich ebenfalls im Nordosten Syriens befindet.
Die Eltern von Maria G. haben in den vergangenen Jahren intensiv für ihre Rückkehr nach Österreich gekämpft. Im November 2024 entschied das österreichische Außenministerium, Maria G. und ihre Kinder zurückzuholen. Das BMEIA arbeitet weiterhin an einer Rückführung, heißt es. Die aktuellen Entwicklungen in der Region erschweren die Situation natürlich, aus Sicherheitsgründen gibt es vom BMEIA zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Angaben.
„Viele IS-Mitglieder haben sich damals unter Zivilist:innen versteckt“
Die Stimmung unter den Gefangenen ist seit dem Sturz Assads laut Alan jedenfalls aufgebracht. „Aufstände gibt es bei uns immer wieder, da werden Steine geworfen, mit heißem Öl nach den Mitgliedern der NGOs geschüttet. Davor haben wir jetzt auch Angst – bislang ist aber seit der Nachricht über Assads Sturz noch kein Aufstand passiert. Man merkt jedoch, dass da etwas in der Luft hängt.“ Außerdem würden laut Alan IS-Schläferzellen darauf warten, das Chaos für sich zu nutzen. Und dann könnte es „für alle, die im Camp arbeiten, aber auch für die Menschen außerhalb brenzlig werden“.
Wir haben Angst davor, dass diese Ideologie wieder gesellschaftsfähig wird.Yara
Diese Sorgen macht sich auch die 30-jährige Kurdin Yara, die aus Al-Hasaka stammt, mittlerweile aber in Wien lebt. Yara hat mehrere Familienmitglieder durch den IS verloren – sie wurden entweder getötet oder verschleppt, darunter auch ihr gleichaltriger Cousin Dawran. „Viele der Kämpfer sind in Gefängnissen, ja. Aber nicht alle sind in Gefangenschaft. Viele IS-Mitglieder haben sich damals entweder unter Zivilisten versteckt, oder sind später wieder zurückgekehrt.“ Zunehmend verstecken sich die IS-Kämpfer laut Yara auch nicht mehr. „Die typischen langen Haare, die Gewänder, die sie tragen, die Ringe – das kommt alles wieder.“ Yara zeigt auf ihrem Handy Fotos der Erkennungsmerkmale. „Wir haben jetzt einfach Angst, dass diese kranke Ideologie wieder gesellschaftsfähig wird – ich will das echt nicht noch einmal erleben“, so die Grafikdesignerin. Diese Sorgen sind laut Thomas Schmidinger berechtigt. Schläferzellen gibt es, aber wie viele es sind und wie sie größenmäßig einzuordnen sind, ist schwer zu sagen. Als politische Struktur hat der IS überlebt. „Wenn es jetzt durch ein Machtvakuum die Möglichkeit gibt, wieder Fuß zu fassen, dann werden sie diese Chance nutzen wollen“, so der Politikwissenschaftler.
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Infos und Quellen
Genese
Die Freude über den Sturz von Baschar-Al-Assad ist in Syrien nach wie vor groß − WZ-Redakteurin Aleksandra Tulej hat sich die Frage gestellt, welche Herausforderungen auf die kurdische Bevölkerung in Nordostsyrien jetzt zukommen, da sich die Gebiete mit immer mehr Problemen konfrontiert sehen. Sie hat mit Alan, der als Arzt im Al-Hol-Camp tätig ist, am Telefon gesprochen.
Gesprächspartner:innen
Thomas Schmidinger ist ein österreichischer Politikwissenschaftler und Sozial- und Kulturanthropologe mit den Schwerpunkten Kurdistan, Dschihadismus, Naher Osten und Internationale Politik. Er unterrichtet u. a. an der Universität Wien und ist Associate Professor an der University of Kurdistan Hawler.
Alan ist 30 Jahre alt, stammt aus Al-Hasaka und arbeitet seit vier Jahren als Arzt im Al-Hol-Camp.
Yara ist 30 Jahre alt, stammt ebenfalls aus Al-Hasaka und lebt seit zehn Jahren in Wien. Der Großteil ihrer Familie ist noch in Syrien.
Arî Milan (Hintergrundgespräch) ist Vertreter der Demokratischen Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien in Österreich.
Daten und Fakten
Das Al-Hol-Camp liegt im Nordosten Syriens, etwa 40 Kilometer östlich von Al-Hasaka, in einem von den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierten Gebiet. Das Camp beherbergt hauptsächlich Frauen und Kinder, die als Angehörige von ehemaligen mutmaßlichen IS-Kämpfern gelten. Die Männer, die als aktive IS-Kämpfer identifiziert wurden, befinden sich in der Regel in getrennten Gefängnissen oder Haftanstalten, die ebenfalls von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) verwaltet werden.
Die Türkei hat mehrere militärische Operationen im Nordosten Syriens durchgeführt, vor allem gegen die YPG und die SDF, die sie als Ableger der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) betrachtet. Die PKK wird sowohl von der Türkei als auch von der EU und den USA als terroristische Organisation eingestuft.
Die nun führende Oppositionsbewegung in Syrien HTS ( Hay'at Tahrir al-Sham) entstand aus der ehemaligen Al-Nusra-Front, die eng mit Al-Qaida verbunden war. Sie hat sich zu einer der wichtigsten militant-islamistischen Gruppen in der Region entwickelt. In der Vergangenheit griff sie immer wieder zu gewaltsamen Mitteln, um ihre politischen Maßnahmen durchzusetzen.
Die SNA (Syrische Nationale Armee) ist eine von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppe, die im syrischen Bürgerkrieg aktiv war. Sie wurde 2017 gegründet und besteht hauptsächlich aus verschiedenen oppositionellen Milizen und Gruppierungen, die bisher gegen das syrische Regime von Baschar al-Assad kämpften.
Die SDF (Syrische Demokratische Kräfte) sind eine kurdisch-arabische Miliz. Die SDF wurde 2015 als militärisches Bündnis gegründet, das hauptsächlich aus kurdischen Kräften besteht, aber auch arabische und andere ethnische Gruppen integriert. Die Hauptstreitkraft innerhalb der SDF ist die YPG (Volksverteidigungseinheiten), eine kurdische Miliz, die insbesondere im Nordosten Syriens aktiv ist.
Die YPG (Yekîneyên Parastina Gel), was auf kurdisch „Volksverteidigungseinheiten“ bedeutet, ist eine kurdische Miliz, die ursprünglich in Syrien gegründet wurde, um die kurdischen Gebiete im Nordosten des Landes gegen verschiedene Bedrohungen zu verteidigen. Die YPG sind hauptsächlich aus Kurd:innen zusammengesetzt, insbesondere aus der kurdischen Bevölkerung in der Region Rojava.
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Der Standard: Nicht nur Aleppo ist gefallen