Die meisten Überlebenden der Shoah sind tot – viele ihrer Nachkommen leiden bis heute an den Schrecken des größten Menschheitsverbrechens.
Die Shoah war in Rifka Jungers Kindheit der große weiße Elefant im Raum, über den nicht gesprochen wurde. Und doch war das größte Menschheitsverbrechen, die Massenvernichtung von Juden und Jüdinnen durch die Nationalsozialisten, allgegenwärtig. Alle vier Großeltern der Wienerin, die 1980 in London zur Welt kam, hatten im Holocaust Vernichtungslager überlebt und waren dann teils relativ früh an den Folgen der Internierung verstorben; zahlreiche Familienmitglieder waren von den Nazis ermordet worden.
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Die Geschichten aus dieser Zeit sind abenteuerlich – erfahren hat Rifka sie aber nicht von den Überlebenden selbst, sondern sie hat sie im Lauf der vergangenen vier Jahrzehnte mühsam Stück für Stück rekonstruiert. Zum Beispiel jene zum einzigen erhaltenen Foto von ihrem Urgroßvater. Dieses hatte die eigene Tochter, die im KZ Häftlingshabseligkeiten durchsortieren musste, unvermutet in einer Tasche gefunden und hinausgeschmuggelt. Oder die Anekdote vom Großvater, der nach dem Krieg auf der Straße einen sowjetischen Soldaten traf – „es stellte sich heraus, dass es sein zwanzig Jahre älterer Bruder war, von dem er so lang getrennt gewesen war.“ Oder die schlecht verheilte Schusswunde im Arm, die ihrer Großmutter als Zwölfjährige im KZ beigebracht worden war, weil sie vor Hunger eine Karottenschale aufgehoben hatte.
Es wurde daheim nicht darüber gesprochen.Rifka Junger, orthodoxe Jüdin, über den Holocaust
„Das alles wussten wir, aber nicht die Details dazu. Es wurde daheim nicht darüber gesprochen“, erzählt Rifka. Die Tätowierung am Unterarm der Großmutter etwa blitzte hin und wieder hervor, „gesprochen hat sie darüber aber wenig bis gar nicht. Höchstens zu Pessach hat sie ein paar Sätze zur Vergangenheit fallen lassen.“ In der Familie war immer nur die Rede von der Zeit „vor dem Milkhume“, wie der Krieg im Jiddischen genannt wird, und von der Zeit danach.
Gleichzeitig spürte sie als Kind eine diffuse, latente Angst, dass der Holocaust jederzeit wieder um die Ecke kommen könnte. „Ich habe damals irgendwo gelesen, dass in der NS-Zeit die jüdischen Familien die blonden, blauäugigen Kinder zum Essen holen geschickt hatten. Und mir war klar: Wenn es wieder soweit ist, dann bin ich mit meinen blonden Haaren und den blauen Augen diejenige, die das machen wird.“ Solche Gedanken wälzte Rifka – in den 1980ern in Wien, wohlgemerkt. „Dann wird man älter und versteht, dass Dinge sich bessern können. Und dass Dinge zwar schlimm sein können, aber dass sich die Geschichte nicht zwangsläufig wiederholt. Aber es bleibt immer irgendwie.“
Eine emotionale Belastung über Generationen hinweg
Wie traumatisierend wirkt die Shoah tatsächlich heute noch nach? Dieser Frage geht das Jüdische Museum Wien in der laufenden Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ nach. Dabei zeigt sich: Nicht nur in Österreich, sondern rund um den Globus beschäftigt die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung – und die Sorge vor neuen antisemitischen Tendenzen – junge Menschen, die sich in den Sozialen Medien zusammenschließen und austauschen. Und das, obwohl oder vielleicht gerade weil sie in einer Zeit aufwachsen, in der es fast keine Zeitzeug:innen mehr gibt, die aus erster Hand erzählen könnten, wie es damals wirklich war; die davor ihre Geschichte und damit auch ihre Traumata an die Generationen der Kinder und der Enkel:innen weitergegeben haben.
In jüdischen Familien liegen bis heute Erinnerung und Schweigen, Familienmythen und fehlendes Familienerbe nah beieinander und sind allgegenwärtig, stellen die Ausstellungsmacher:innen mit Blick auf die mehrheitliche Vernichtung einer ganzen Generation fest. Im Jüdischen Museum Wien zeigen sie, wie verschiedene Menschen künstlerisch mit diesem generationenübergreifenden Trauma umgehen. Da ist etwa der Kanadier Jonathan Rotszain, der eine Tapete gestaltet hat, die auf den ersten Blick in ein Kinderzimmer passen würde. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber comicartige ikonografische Holocaust-Szenen eingearbeitet. Die Botschaft dahinter lautet wohl, dass auch bei ihm das Thema seit seiner Kindheit ganz alltäglich und selbstverständlich präsent war.
Das Grauen im Kopf und die Panik vor der Polizei
Ein anderer Künstler, Daniel Glaubach, hat einen Weinberg in Gumpoldskirchen im Winter fotografiert, der ihn an das KZ-Lagerleben erinnerte. Das macht klar, wie gegenwärtig die Bilder in seinem Kopf sind, obwohl er lang nach 1945 geboren ist. Die Psychologin Irit Felsen berichtet, dass Überlebende und deren Nachkommen gleichermaßen sehr emotional auf die Fotos reagieren. Sie alle sehen keinen Weingarten im Winter, sondern KZ-Alltag. Ein perfekter Beweis, dass die Traumata transgenerational vererbt werden. Dazu passt eine Beobachtung, die Rifka häufig gemacht hat: „Die erste Generation nach den Holocaust-Überlebenden, also die Nachgeborenen, bekommen richtig Panik, wenn sie von einem Polizisten angesprochen werden, als wäre es die Gestapo – die sie selbst ja nie erlebt haben. Das ist eine instinktive Reaktion.“
Einer der drastischsten Zugänge zur Thematik im Jüdischen Museum ist jener der Künstlerin Marina Vainshtein, der schon an Selbstzerstörung grenzt. Sie will ihre inneren Narben äußerlich sichtbar machen und lässt sich Holocaust-Motive auf den Körper tätowieren, die verstörend wirken. Damit setzt sie sich auch über das biblische Verbot der Beschriftung des Körpers hinweg. Dass dieses sicher auch den Nazis bekannt war, macht die KZ-Tätowierungen – so wie die im Judentum ebenfalls verbotene Verbrennung von Toten – umso perfider. „Jede Position der Nachfahren zu ihrer von Verlusten und erlittener Gewalt geprägten Familiengeschichte“, betont Kuratorin Gabriele Kohlbauer-Fritz im Begleittext zur Ausstellung, „hat ihre Berechtigung, sei sie radikal, versöhnlich, ironisch, künstlerisch kreativ, verzweifelt oder von Religiosität geprägt.“
Die Shoah gehört zur Familiengeschichte, aber sie definiert mein Leben nicht.Rifka Junger, Enkelin von Holocaust-Überlebenden
Der Weg, den Rifka Junger gefunden hat, um mit dem Erbe der Shoah umzugehen, ist ein wissenschaftlicher: Sie forscht intensiv zu ihrer Familiengeschichte und stößt bis heute immer wieder auf kleine Hinweise zu neuen Spuren, denen sie folgen kann, um einen weiteren Mosaikstein hinzuzufügen. Aber: „Der Holocaust definiert mein Leben nicht“, betont die orthodoxe Jüdin. „Die Shoah ist für mich nicht etwas, was im Vordergrund steht, aber natürlich gehört sie zu meiner Familiengeschichte dazu. Mein Judentum ist nicht Holocaust-Gedenken, sondern lebendiges jüdisches Leben heute. Das ist die beste Antwort auf das, was die Nazis damals versucht haben.“ Allerdings ist die kollektive Erinnerung an die Shoah etwas, was alle Jüdinnen und Juden weltweit verbindet – auch jene, die keine persönlichen Anknüpfungspunkte haben, weil ihre Familien nicht betroffen waren.
Und viele tun sich bis heute schwer damit, dieses kollektive Trauma zu verarbeiten. Rifka formuliert es so: „Die Generation der Überlebenden steht sozusagen mit dem Rücken zur Gesellschaft. Die nächste Generation wendet sich ihr schon zu, und man schaut einander an, aber noch weit entfernt. Und es ist meine Generation und die meiner Kinder, die versuchen muss, aufeinander zuzugehen.“
Die Retraumatisierung durch den 7. Oktober 2023
Mit ihren drei Söhnen im Alter zwischen 16 und 23 Jahren spricht sie ganz offen über die Familiengeschichte. Jeder von ihnen geht unterschiedlich damit um. „Mein ältester Sohn hat früher sehr viele Fragen dazu gestellt und viel darüber gesprochen – heute ist es für ihn kein Thema mehr“, erzählt Rifka. Ihr mittlerer Sohn möchte „mit dem Blick nach vorne und nicht nach hinten“ leben. Ihren Jüngsten hingegen beschäftigt das Thema in jüngster Zeit besonders stark. Dabei spielen auch die Ereignisse im Gefolge des Hamas-Überfalls auf Israel am 7. Oktober 2023 und der israelischen Reaktion darauf eine Rolle.
Rifka spricht von einer Retraumatisierung. „Ich habe als Geschichtelehrerin meinen Schüler:innen immer gesagt, wenn es um den Holocaust ging, dass wir in einer anderen Zeit leben und uns nicht vorstellen können, wie es dazu kommen konnte – und dann kam der 7. Oktober.“ Nicht, dass sie es miteinander vergleichen will, aber ein Stück weit versteht sie jetzt besser, wie es dazu kommen kann, dass Menschen auf bestimmte Weise handeln, zuschauen oder wegschauen.
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Infos und Quellen
Genese
Das Jüdische Museum Wien zeigt derzeit die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“, in der es um die Frage geht, welches Verhältnis junge Menschen jüdischen Glaubens zu den Ereignissen haben, die mehr als 80 Jahre her sind und doch mehr als eine Generation traumatisiert haben und das kollektive jüdische Gedächtnis bis heute prägen.
Gesprächspartnerin
Rifka Junger wurde 1980 in London geboren, wuchs aber in Wien auf. Die orthodoxe Jüdin besuchte Schulen in Großbritannien und den USA, wo sie auch intensive Kontakte zu Holocaust-Überlebenden außerhalb ihrer Familie aufbaute und teils über Jahrzehnte pflegte. Sie arbeitet in der Parlamentsdirektion in Wien als Referentin für Antisemitismusbekämpfung, befasst sich also auch beruflich mit dem jüdischen Leben und dem Holocaust-Gedenken.
Daten und Fakten
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden im gesamten deutschen Machtbereich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet. Es war der erste traurige Höhepunkt der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Österreich. Zahlreiche Jüdinnen und Juden wurden bei den Pogromen ermordet, verletzt oder verhaftet. Allein in Wien wurden mehr als 6.000 ins Gefängnis gebracht, 4.000 von ihnen ins Konzentrationslager Dachau verschleppt.
Diese Ereignisse stehen im Zentrum der jährlichen interreligiösen „Bedenktage“-Reihe „Mechaye Hametim – Der die Toten auferweckt“. Nicht nur ein ökumenischer Gottesdienst am 9. November um 17 Uhr in der Wiener Ruprechtskirche mit einem anschließenden Schweigegang zum Mahnmal am Judenplatz erinnert daran, sondern auch eine Führung durch den jüdischen Friedhof in Wien-Währing am 10. November um 14 Uhr sowie der Film „Vor der Morgenröte“ (2018) im Wiener Votivkino am 11. November um 19:30 Uhr. Darin beleuchtet Regisseurin Maria Schrader die letzten Lebensjahre des jüdischen Autors Stefan Zweig, der 1942 im brasilianischen Exil gemeinsam mit seiner Frau Lotte Suizid beging. Der 9. November ist auch das Eröffnungsdatum des jährlichen Klezmore-Festivals, bei dem jüdische Musik in all ihrer Vielfältigkeit gefeiert wird. Ein Programmpunkt ist eine Spezialführung durch die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ im Jüdischen Museum Wien.
Weil der 9. November heuer ein Samstag ist und damit auf den jüdischen Ruhetag Sabbat fällt, hat das Pogromgedenken der Israelitischen Kultusgemeinde bereits am 8. November stattgefunden. In Wien hat sie gemeinsam mit Vertreter:innen von Regierung und Nationalrat eine Veranstaltung bei der Shoah-Namensmauer im Ostarrichipark abgehalten. Nicht geladen war der freiheitliche Nationalratspräsident Walter Rosenkranz – er wollte am Freitag bei einer eigenen Veranstaltung beim Holocaust-Mahnmal auf dem Judenplatz einen Kranz niederlegen. Jüdische Demonstrant:innen hinderten den FPÖ-Spitzenpolitiker jedoch daran.
Von den rund 206.000 Jüdinnen und Juden in Österreich wurden im Holocaust 65.000 ermordet. Der Rest war bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 geflohen oder systematisch vertrieben worden. Viele wurden in Konzentrations- und Vernichtungslager auf heute polnischem Staatsgebiet deportiert, wo die meisten der mehr als drei Millionen polnischen Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Allein in Auschwitz-Birkenau fanden mehr als eine Million den Tod.
Bis heute prägt die Erinnerung an den Holocaust beziehungsweise die Shoah das kollektive jüdische Gedächtnis in aller Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Staat Israel als sicherer Zufluchtsort, der sich allerdings seit seiner Gründung am 14. Mai 1948 immer wieder in seiner Existenz bedroht sah und erbitterte Kriege darum führte – nicht zuletzt deshalb waren und sind die Reaktionen auf den Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 im Süden Israels mit mehr als 1.200 Todesopfern so heftig. Dieser Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Israel, also mitten im Herzen des Judenstaats, rüttelte an dessen Grundfesten.
Das Wort „Holocaust“ stammt vom griechischen Wort „holókaustus“ und bedeutet „völlig verbrannt“. Der Begriff wird verwendet, wenn von der systematischen Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen während des Nationalsozialismus gesprochen wird. Wegen der Herkunft des Wortes aus dem religiösen Opferkult und der früheren Verwendung im christlichen Antijudaismus wurde es allerdings oft als problematisch angesehen. Im Hebräischen spricht man deshalb von der „Schoah“, was auch „große Katastrophe“ oder „großes Unglück“ bedeutet.
Quellen
Die Nacht, als die Synagogen brannten: Texte und Materialien
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) über den Novemberpogrom 1938
Israelitische Kultusgemeinde über Antisemitismus in Österreich