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Das Internats-Syndrom: Mein Leben, ein verstecktes Trauma

10 Min
„Ich habe mich vollkommen verloren gefühlt“, sagt der ehemalige Internatsschüler Christian Wabl.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Internate können Kindern schaden– trotzdem gibt es sie noch. Eine Spurensuche auch in der eigenen Familie.


Die Sonne scheint durch das Herbstlaub. Burschen spielen Fußball. Mädchen gehen Arm in Arm spazieren. Christian Wabl betritt nach 65 Jahren wieder seine alte Schule, das Internat Liebenau in Graz. „Schulfremden Personen ist der Zutritt nicht gestattet“ steht auf einem Schild am Eingang. „Früher saß hier der Portier in einem kleinen Häuschen und notierte, wer wann das Areal verlässt und wiederkommt“, sagt Christian Wabl zur WZ. Heute steht hier nur mehr ein Busch. Obwohl er in Graz wohnt, hat der 76-Jährige die Schule nie wieder besucht. Die K.-u.-k.- Gebäude der damaligen elitären Kadettenlehranstalt haben sich kaum verändert. Auch sonst sieht vieles aus wie damals: das Lehrer:innenhaus, der Speisesaal, die Zimmer, das Schwimmbad. Heute gibt es aber auch Mädchen an der Schule.

„Das war der Schock meines Lebens“

Christian war nur drei Monate an der Schule. „Das war der Schock meines Lebens“, erinnert sich der Steirer. „Ich war vollkommen verloren.“ Damals, in den späten 1950ern, galt er als einer der Auserwählten. „Ich war einer von vier Volksschülern, der auf ein Gymnasium durfte. Und ich war der Einzige, der auf ein Elite-Internat gehen sollte.“ Damals war er zehn Jahre alt. „Ich bin nicht gefragt worden, meine beiden älteren Brüder sind in das Internat gekommen, also war klar, ich auch“, erzählt der pensionierte Kunstlehrer. „Ich habe mir überhaupt nichts erwartet und hatte zunächst keine Gefühle dazu. Aber es ist schrecklich geworden, weil ich den Boden unter den Füßen verloren habe.“ Christian fand zwei Freunde, mit denen er sich gut verstand. Einer ging nach zwei Wochen nach Hause. „Wir haben eine Trauergemeinde gebildet und uns im Duschraum selbst beweint − die drei Unglücksraben −, aber nach zwei Monaten war ich der Einzige, der übriggeblieben ist.“

„Du musst die Emotionen abspalten, damit du überlebst“

Drei Monate scheinen kurz, und doch denkt Christian immer wieder an die Zeit und wie sich seither gewisse Muster durch sein Leben gezogen haben. „Es war eine Atmosphäre wie in einer Kaserne“, erzählt er. „Jede Abweichung, Ängstlichkeit oder jedes Unvermögen wurde von den Mitschülern und den Lehrern als Schwäche gesehen. Das ist das Erbe einer Eliteschule.“

Christian nennt das Internat heute ein Gefängnis. „Du musst die Emotionen abspalten, damit du überlebst. Was mich gerettet hat, ist die Kunst.“ Er habe angefangen zu fantasieren und sich Bilder auszumalen. „Ich bin geflüchtet.“ Das Zeichnen und Malen sind ihm bis heute geblieben. Der ehemalige Lehrer betreibt eine Galerie in der Grazer Innenstadt.

Christian Wabl steht nach mehr als 50 Jahren wieder auf seinem alten Schulhof in Liebenau.
Christian Wabl steht nach mehr als 50 Jahren wieder auf dem Schulhof in Graz Liebenau.
© Jan Peinhart

Das Tabu-Trauma des privilegierten Kindes

Christians Beschreibung nennt sich im Fachjargon „Internats-Syndrom“. Die Psychotherapeutin Joy Schavarien aus Großbritannien bemerkte in den 2000er-Jahren erstmals bei ehemaligen Internats-Schüler:innen ähnliche Symptome und Muster. Laut ihr entsteht das Entwicklungstrauma durch vier Faktoren: Verlassenwerden, immer wieder Abschied und tiefe Trauer, das Gefühl von Gefangenschaft und eine Abspaltung der Emotionen. Die folgenden Symptome, die auch erst viel später im Leben auffallen und zu Problemen führen können, sind hohe Leistungsansprüche an sich und andere, übersteigerter Perfektionismus, emotional nicht mitfühlend sein können, Drang nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, Probleme mit Nähe. Das führe bei den Betroffenen nicht selten zu Burnout und Depression.

Lill Bretz kennt das Syndrom, denn sie arbeitet als Trauma-sensibler Coach mit Klient:innen, die Internats-Vergangenheit haben. „Das Trauma ist sehr tabubehaftet, da es sich um privilegierte Kinder handelt, die eigentlich froh und stolz sein sollten, dass sie eine besonders gute Bildung erhalten haben“, sagt sie zur WZ. Scham- und Schuldgefühle sind die Folge. „Die Trennung und der Verlust in jungen Jahren führen oft zu Bindungsstörungen in späteren Beziehungen“, sagt Bretz. „Wir sind hochsoziale Wesen. Wenn die Verbindung zu unseren Bezugspersonen gekappt wird, schützen wir uns unbewusst davor, das jemals wieder zu erfahren, weil der Schmerz so groß ist.“

Warum muss ich wieder gehen? Wollen mich meine Eltern nicht hier haben? Warum fühle ich mich schlecht? Das sind Fragen, die die Kinder quälen. „Die Antwort suchen Kinder immer bei sich“, sagt Bretz. Sie geben sich die Schuld, dass sie es nicht schaffen, glücklich zu sein und zurechtzukommen. Negative Glaubenssätze über sich selbst und ein negativer Selbstwert entstehen und bleiben ein Leben lang, wenn diese nicht bearbeitet werden, so die Pädagogin. Und das kann alles in der Entwicklung überlagern. Folgen können ein hoher Cortisolspiegel, also zu viel Stress, Anspannung, Nervosität oder Verspannungen sein.

Ein Foto der Schule mit dem Schriftzug "Franz Joseph I. 1854."
Noble Fassade, hartes Dahinter: das Internat Liebenau in Graz.
© Fotocredit: Jan Peinhart

Die Elite muss durch einen Härtetest

Im Endeffekt war das Internat Liebenau damals eine Härteschule, sagt Christian. Sein Vater war Offizier im Dritten Reich und selbst Lehrer gewesen. Die Lehrer im Gymnasium in den 1950er- und 60er-Jahren waren alle Offiziere oder Soldaten, sagt Christian. Das hieß gehorchen, Regeln einhalten, und wenn du nicht wolltest oder konntest, war hier nicht dein Platz. „Es gab eine strenge Selektion, nur die Elite bleibt über und macht den Abschluss.“ Es gab auch nicht selten Suizide von Mitschülern, erinnert sich Christian. „Nachdem ich raus bin, weil meine Mutter gesehen hat, dass ich immer schlechter ausschaue und meine Leistungen rapide abnahmen, hat mein Vater mich in eine Hauptschule geschickt, als Strafe. So, als hätte ich den Härtetest nicht bestanden. Ich war eine Enttäuschung für ihn.“

„Eine meiner besten und schönsten Zeiten, die ich erlebt habe“

Florian Hargassner kann das nachvollziehen, wenn andere mit dem Internat ein Problem hatten, „aber für mich war es die beste Entscheidung meines Lebens. Mir hat es voll getaugt“, sagt der 41-jährige Linzer zur WZ. Er war 14 Jahre alt, als er in den 1990ern in das Bundesschülerheim in Eisenstadt zog − auf eigenen Wunsch. Damals gab es dort die einzige HTL für Flugzeugtechnik. Wie viele andere flugzeugverrückte Teenager aus ganz Österreich wollte er genau dorthin. Zimmer zu sechst, viel Sportangebot in der Freizeit, kaum Privatsphäre, aber ständig mit seinen Freunden zusammen sein können, das alles sind Dinge, an die sich Florian immer noch gern erinnert. „Es gab schon einige, die wegen Heimweh nach drei Wochen wieder nach Hause sind und das Leben im Internat nicht ausgehalten haben.“ Liebevoll oder herzlich sei es überhaupt nicht gewesen. Eher amikal. „Wer disziplinär und schulisch nicht auffällig war, hatte viel Freiheit“, sagt Florian. „Bis auf die Ferien war ich immer dort. Das war üblich für die Kinder, die von weiter weg waren. Allerdings hatten wir damals samstags auch Schule“, erzählt der Ingenieur. Am prägendsten war für ihn die Gemeinschaft, „nach dem Internat hat mich das lang beschäftigt und an mir genagt, dass das nicht mehr so war“, sagt der heutige Fahrzeugtechniker. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das Internat auch traumatisch ist. Aber für mich nicht. Ich kenne auch Leute, die in der Unterstufe ins Internat gekommen sind, das Alter ist sicher ein Faktor.“

Ich fühle mich nirgendwo so richtig zuhause.
Manuel Stegmaier, ehemaliger Internatsschüler

So war es bei Manuel Stegmaier, dem älteren Bruder der Autorin. Der 51-jährige Deutsche wurde mit sechs Jahren eingeschult. In ein Internat. Denn seine Eltern waren Missionare im ostafrikanischen Tansania. Das bedeutete auch, dass er mit Beginn der Volksschule nur in den Ferien bei seinen Eltern sein konnte. Die lebten zu weit weg, als dass ein Besuch übers Wochenende möglich gewesen wäre. Briefe schreiben und über Funk „telefonieren“ waren die einzigen Kontaktmöglichkeiten. „Nachmittags spielten alle draußen ohne große Aufsicht. Hauptsache nicht das Gelände verlassen, aber sonst gab es hier viel Freiheit“, erzählt Manuel der WZ. „In der Schule ging es streng zu, preußisch.“ Wenn man frech war, riskierte man eine Ohrfeige oder musste schon mal ohne Abendessen schlafen gehen. Einige Kinder wurden – so sagt Manuel heute – vor Kummer krank.

Für Manuel war das Internat als Kind Normalität. Alle seine Freund:innen waren auch dort und lebten das gleiche Leben. Die Gemeinschaft war etwas Positives, an das er sich heute noch gern erinnert. An starkes Heimweh oder den Wunsch, es anders zu haben, erinnert er sich nicht – anders kannte er es ja kaum. „Als ich älter war, war ich manchmal traurig, dass ich von zuhause weggehen muss. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich oft geweint hätte.“

Erst als er selbst Vater wurde, wurde Manuel klar, was es bedeutet, lang vom Kind getrennt zu sein. „Kinder entwickeln sich so schnell, selbst bei einer kurzen Trennung merkt man, wie viel man verpasst hat. Und dass ein Kind, wenn es krank ist, körperliche Nähe braucht.“ Aber das hat man damals vielleicht anders gesehen. „Ich hatte Asthma, schon vor dem Internat. Da denke ich mir heute schon: Das Kind ist chronisch krank, muss im Bett liegen, der Arzt kommt und verpasst Spritzen. Aber die Eltern sind einfach nicht da. Das ist krass.“

Und die Auswirkungen heute? Manuel tut sich schwer mit der Antwort. Lang ist es her, an vieles kann er sich nicht mehr erinnern. Eines führt er aber doch auf die Internats-Zeit zurück: „Ich tue mir sehr schwer damit, wo mein Zuhause ist. Auch nach 20 Jahren an einem Ort kann ich das schwer empfinden“, sagt der Bühnentechniker, der heute in Berlin lebt. „Ich hatte beruflich ein Jahr, wo ich drei Monate weg war und bis zu vier Wochen im Hotel gewohnt habe. Das ist ein Zwischenzustand, mit dem ich gut zurechtkomme.“ Er habe sich wohl im Internat mit diesem Zustand angefreundet. Es hätte zu große Schmerzen bedeutet, sich immer wieder auf „Zuhause“ einzulassen und das dann immer wieder zu verlieren.

Internat frühestens ab 16 Jahre

„Das geht einfach nicht“, sagt Lill Bretz. „Eine solche frühe Trennung von Eltern und Kindern führt zu ungesunden Verhaltensmustern und Traumata“, sagt die Pädagogin. Auch Joy Schavarien setzt sich dafür ein, dass Internate frühestens ab 16 Jahren zugelassen werden sollten. Wenn das Kind gefestigt ist und weiß, ich bin geliebt, ich komme zurück, ich schaffe das und ich will das. Ein anderer britischer Therapeut, der selbst ab sieben Jahren auf einem Internat war, nennt die wochen- und monatelange Trennung der Eltern vom jungen Kind schlicht „abuse“, also Missbrauch.

„Ich könnte ihnen allen natürlich viele Vorwürfe machen“, sagt Christian, als er dem Gelände in Liebenau den Rücken kehrt und noch einmal durch das große Gittertor zurückschaut. „Das kann man einem Kind einfach nicht zumuten. Aber ich denke, die meisten wussten nicht wirklich, was sie da tun.“


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Infos und Quellen

Genese

Zwei Geschwister der WZ-Redakteurin Anja Stegmaier besuchten in ihrer Kindheit ein Internat. Als Jugendliche idealisierte sie die Einrichtungen und wäre auch gern auf ein Internat gegangen. Über Social Media wurde sie auf das Internats-Syndrom aufmerksam und fragte sich, was das für Menschen bedeuten kann und warum es eigentlich immer noch Internate für junge Kinder gibt, obwohl diese die Entwicklung und damit die mentale Gesundheit schwer beeinträchtigen können.

Gesprächspartner:innen

Christian Wabl, 76 Jahre, ehemaliger Internatsschüler in Liebenau und pensionierter Kunstlehrer aus Graz.

Florian Hargassner, 41 Jahre, ehemaliger Schüler der HTL Eisenstadt, Abteilung Flugtechnik, heute Fahrzeugtechniker.

Manuel Stegmaier, 51 Jahre, ehemaliger Internatsschüler in Tansania, heute Bühnentechniker in Berlin.

Lill Bretz, Traumasensibler Coach, Diplom-Pädagogin und Burnout-Beraterin in Herford.

Daten und Fakten

  • Der Begriff Internats-Syndrom wurde 2011 erstmals von der britischen Psychotherapeutin Joy Schavarien in einem Artikel des British Journal of Psychotherapy eingeführt. Das „Boarding School Syndrome“ umfasst eine Reihe von anhaltenden psychologischen Problemen, die bei Erwachsenen beobachtet werden, die als Kinder in jungen Jahren von zu Hause fortgeschickt wurden, um auf Internate zu gehen.

  • Das Internat in Liebenau heißt heute BG/BORG HIB Graz Liebenau und befindet sich in der Kadettengasse19-23.

  • Laut Statistik Austria besuchten 2022 20.555 junge Menschen in Österreich ein Internat, Schüler:innen- bzw. Studierendenheim sowie Heim für Berufstätige in Ausbildung. 418 Schüler:innen unter 15 Jahre besuchten ein Internat. 2.718 Schüler:innen waren 15 bis 19 Jahre alt.

  • 4.036 besuchten ein Kloster oder eine ähnliche Anstalt, darunter 130 Personen unter 15 Jahre. 44 Schüler:innen waren 15 bis 19 Jahre alt.

Quellen

Das Thema in anderen Medien